S. 53 / Nr. 12 Strassenverkehr (d)

BGE 76 IV 53

12. Urteil des Kassationshofes vom 10. März 1950 i. S. Schmutz gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern.

Regeste:
Art. 25 Abs. 1 MFG verlangt:
a) dass der Führer aufmerksam sei (Erw. 1);
b) dass er die Geschwindigkeit des Fahrzeuges der Sichtweite anpasse (Erw. 3).
L'art. 25 al. 1 LA exige:
a) que le conducteur soit attentif (consid. 1);
b) qu'il adapte la vitesse du véhicule à la visibilité (consid. 3).
L'art. 25 cp. 1 LA esige:
a) che il conducente sia prudente (consid. 1);
b) che adatti la velocità del veicolo alla visuale (consid. 3).

A. - Schmutz führte am 5. Dezember 1948 um 18.30 Uhr ein Personenautomobil mit
40 bis 45 km/h vom Ebnet gegen das Dorf Entlebuch. Wegen eines
Motorradfahrers,

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der ihm entgegenfuhr, blendete er die Scheinwerfer ab, ohne die
Geschwindigkeit seines Fahrzeuges zu vermindern. Etwa 150 m nach der Kreuzung
begegnete er in der Nähe der Grabenlochkapelle auf gerader und 6,5 m breiter
Strasse einem Motorradfahrer, der am Strassenrand vom Polizisten Graber
kontrolliert wurde. Auch das veranlasste Schmutz nicht, langsamer zu fahren.
Etwas weiter vorne ging ein zweiter Polizist, Korporal Bucher, in der Richtung
gegen Entlebuch und gab einem von dort her kommenden Motorradfahrer mit der
Taschenlampe Haltezeichen. Als Bucher den von hinten kommenden Personenwagen
bemerkte, kehrte er sich um und tat einen Schritt gegen die Fahrbahn des
Automobils. Unmittelbar darauf wurde er von dessen Vorderteil erfasst, auf die
Strasse geworfen und verletzt. Schmutz hatte ihn infolge Unaufmerksamkeit vor
dem Zusammenstoss nicht gesehen, obschon er ihn trotz der dunkeln Uniform, die
sich gegenüber der nassen Asphaltstrasse nur undeutlich abhob, aus 25 m
Entfernung schwach und aus 20 m Entfernung mit Sicherheit hätte wahrnehmen
können. Das Automobil kam unter Hinterlassung von Bremsspuren, die 8,2 m lang
waren, zum Stehen.
B. - Am 30. November 1949 verurteilte das Obergericht des Kantons Luzern
Schmutz zu Fr. 30.- Busse. Es warf ihm vor, er habe Art. 25 Abs. 1 MFG
übertreten, indem er unaufmerksam gewesen sei. Übrigens sei er auch zu schnell
gefahren. Er scheine allerdings trotz seiner Geschwindigkeit von 40 bis 45
km/h dank guter Bremsen und Bereifung seines Fahrzeuges und leichten
Ansteigens der Strasse zum Anhalten nur etwa 20 m benötigt zu haben. Trotzdem
habe die Gefahr bestanden, dass er vor anderen Strassenbenützern nicht
rechtzeitig anhalten könne, entsprächen doch die 20 m gerade der Entfernung,
aus welcher Bucher mit Sicherheit habe wahrgenommen werden können.
C. - Schmutz führt Nichtigkeitsbeschwerde mit den Anträgen, das Urteil sei
aufzuheben und er sei freizusprechen.

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Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern beantragt, die Beschwerde sei
abzuweisen.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.- Der Beschwerdeführer macht geltend, wegen Übertretung von Art. 25 Abs. 1
MFG könne nur bestraft werden, wer die Geschwindigkeit des Fahrzeuges nicht
den gegebenen Strassen- und Verkehrsverhältnissen anpasse; Unaufmerksamkeit
als solche bei objektiv angemessener Geschwindigkeit sei dagegen nicht
strafbar. Diese Auffassung hält nicht stand. Zwar spricht der Randtitel der
Bestimmung nur von «Geschwindigkeit». Der Inhalt der Vorschrift geht aber
darüber hinaus. Der erste Satz schreibt dem Führer einerseits vor, sein
Fahrzeug ständig zu beherrschen, anderseits, die Geschwindigkeit den gegebenen
Strassen - und Verkehrsverhältnissen anzupassen. Dass das nicht das gleiche
ist, ergibt sich schon aus dem Worte «und», das die beiden Satzteile
miteinander verbindet. Beherrschung des Fahrzeuges erfordert mehr als blosse
Anpassung der Geschwindigkeit an die Strassen- und Verkehrsverhältnisse. Sie
verlangt, dass der Führer Herr der Maschine bleibe, jederzeit in der durch die
Lage erforderten Weise raschestens auf sie einwirken, auf jede Gefahr ohne
Zeitverlust zweckmässig reagieren könne. Das setzt unter anderem voraus, dass
der Führer aufmerksam sei. Wer unaufmerksam ist, kann Gefahren für fremden
Leib, fremdes Leben oder fremdes Eigentum nicht oder nicht rasch genug bannen,
beherrscht sein Fahrzeug nicht und ist daher selbst dann strafbar, wenn trotz
der Unaufmerksamkeit die Geschwindigkeit objektiv nicht übersetzt ist, ein
Unfall nicht entsteht oder ein eingetretener Unfall nicht Folge der
Unaufmerksamkeit ist.
2.- Der Beschwerdeführer bestreitet, dass er unaufmerksam gewesen sei. Er
behauptet, der von der Vorinstanz vorgenommene Augenschein habe die
Verhältnisse zur Zelt der Tat nicht abgeklärt; alle Zeugen bestätigten, dass
man Bucher am 5. Dezember 1948 überhaupt nicht

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habe sehen können. Diese Ausführungen richten sich gegen die tatsächliche
Feststellung des angefochtenen Urteils, wonach Bucher aus 20 m Entfernung mit
Sicherheit zu sehen gewesen sei. Sie sind daher nicht zu hören; tatsächliche
Feststellungen der kantonalen Behörde binden den Kassationshof (Art. 273 Abs.
1 lit. b , Art. 277bis Abs. 1 BStP). Aus der Tatsache, dass der
Beschwerdeführer den Polizeikorporal bis zum Zusammenstoss nicht wahrgenommen
hat, obschon er ihn aus 20 m Entfernung hätte sehen können, ergibt sich, dass
er nicht aufmerksam gewesen ist. Er ist daher zu Recht wegen Übertretung des
Art. 25 Abs. 1 MFG bestraft worden, gleichgültig ob seine Unaufmerksamkeit
Ursache des Unfalles war oder ob dieser darauf zurückzuführen sei, dass Bucher
sich unvorsichtig verhielt.
3.- Art. 25 Abs. 1 MFG trifft auch zu, weil der Beschwerdeführer nach dem
Abblenden seiner Scheinwerfer zu schnell gefahren ist. Nach der verbindlichen
Feststellung des Obergerichts hat er eine Geschwindigkeit von 40 bis 45 km/h
inne gehabt. Ob die Anhaltestrecke eines mit dieser Geschwindigkeit fahrenden
Personenautomobils auf schlüpfriger Strasse allgemein etwa 42 m misst, wie das
Obergericht annimmt, ist unerheblich. Denn selbst wenn der Beschwerdeführer,
was die Vorinstanz für möglich hält, infolge besonderer Verhältnisse zum
Anhalten bloss etwa 20 m benötigt hat, hat er die Geschwindigkeit nicht der
Sichtweite angepasst, wie er es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts
hätte tun müssen (BGE 57 II 314; 60 II 284; 65 I 199). Aus der Feststellung,
dass Bucher erst mit Sicherheit zu sehen war, als der Beschwerdeführer sich
ihm auf 20 m genähert hatte, ergibt sich, dass der Beschwerdeführer mit
Hindernissen rechnen musste, die er bei abgeblendeten Scheinwerfern und den
damaligen Verhältnissen (nasse Strasse) erst aus dieser Entfernung wahrnehmen
konnte. Bei voller Aufmerksamkeit konnte er daher frühestens anhalten, wenn er
das Hindernis erreichte. Das war zu knapp. Der Führer muss eine

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gewisse Sicherheitsstrecke zwischen dem Hindernis und dem Punkte, an dem er
bestenfalls anhalten kann, einrechnen, um jede Gefährdung auszuschliessen.
Übrigens hätte der Beschwerdeführer auch Hindernissen begegnen können, die
sich gegen ihn zu bewegt hätten. Um nach ihrem Auftauchen aus dem Dunkeln
anzuhalten, standen ihm nicht volle 20 m zur Verfügung.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.