S. 140 / Nr. 36 Verfahren (d)

BGE 73 IV 140

36. Entscheid der Anklagekammer vom 1. Mai 1947 i.S. Staatsanwaltschaft des
Kantons Zürich gegen Procuratore pubblico sottocenerino.

Regeste:
Art. 350 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 350 - 1 Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
1    Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
2    Es ist zuständig für die Informationsvermittlung zwischen den Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen einerseits sowie den Nationalen Zentralbüros anderer Staaten und dem Generalsekretariat von INTERPOL andererseits.
StGB. Welcher Gerichtsstand gilt, wenn die Verfolgung der mit
der schwersten Strafe bedrohten Tat eingestellt wird, bevor die an
verschiedenen Orten durchgeführten Strafverfahren vereinigt worden sind?
Art. 350 ch. 1 CP. Quel est le for, quand la poursuite de l'infraction punie
de la peine la plus grave est abandonnée avant la jonction d'enquêtes
exécutées en différents lieux?
Art. 350, cifra 1 CP. Qua]e è il foro quando il procedimento pel reato punito
con la perla più grave è abbandonato prima che siano congiunte le istruttorie
eseguite in diversi luoghi?


Seite: 141
A. ­ Am 12. November 1946 traf die Polizei von Winterthur die ersten
Erhebungen wegen eines Automobilunfalles, den M. in der Nähe dieser Stadt
verursacht hatte. Sie erstattete am 15. November 1946 gegen M. bei der
Bezirksanwaltschaft Winterthur Strafanzeige wegen fahrlässiger Störung eines
der Allgemeinheit dienenden Betriebes (Art. 239
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 239 - 1. Wer vorsätzlich den Betrieb einer öffentlichen Verkehrsanstalt, namentlich den Eisenbahn-, Post-, Telegrafen- oder Telefonbetrieb hindert, stört oder gefährdet,
1    Wer vorsätzlich den Betrieb einer öffentlichen Verkehrsanstalt, namentlich den Eisenbahn-, Post-, Telegrafen- oder Telefonbetrieb hindert, stört oder gefährdet,
2    Handelt der Täter fahrlässig, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe.319
StGB) und Führens eines
Motorfahrzeuges in angetrunkenem Zustande (Art. 59 MFG).
Am 27. November 1946 wurde M. von der Polizei von Lugano wegen Verdachts
verbotenen Goldhandels einvernommen, und im Dezember 1946 liess die
Staatsanwaltschaft des Sottoceneri gegen ihn ein Strafverfahren wegen Hehlerei
an Gold eröffnen. Nach wenigen Tagen stellte der Untersuchungsrichter es
mangels Beweises des subjektiven Tatbestandes ein.
B. ­ Mit Gesuch vom 10. April 1947 beantragt die Staatsanwaltschaft des
Kantons Zürich der Anklagekammer des Bundesgerichts, die Behörden des Kantons
Tessin seien zuständig zu erklären, M. wegen Störung eines der Allgemeinheit
dienenden Betriebes und Führens eines Motorfahrzeuges in angetrunkenem
Zustande zu verfolgen. Sie macht geltend, im Tessin sei nicht nur das mit der
schwersten Strafe bedrohte Delikt begangen, sondern auch die Strafuntersuchung
zuerst angehoben worden, weil M. dort am 28. Dezember 1946, in Winterthur
dagegen erst am 6. Januar 1947 zur Verhaftung ausgeschrieben worden sei.
C. ­ Der Staatsanwalt des Sottoceneri beantragt, die Bezirksanwaltschaft
Winterthur sei zuständig zu erklären, M. für die ihm in Winterthur zur Last
gelegten Handlungen zu verfolgen.
Die Anklagekammer zieht in Erwägung:
Hehlerei ist mit schwererer Strafe bedroht als fahrlässige Störung eines der
Allgemeinheit dienenden Betriebes und Führen eines Motorfahrzeuges in
angetrunkenem Zustande. Nach der Regel von Art. 350 Ziff. 1 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 350 - 1 Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
1    Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
2    Es ist zuständig für die Informationsvermittlung zwischen den Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen einerseits sowie den Nationalen Zentralbüros anderer Staaten und dem Generalsekretariat von INTERPOL andererseits.
StGB

Seite: 142
wären daher die Behörden des Kantons Tessin zuständig, M. für alle ihm zur
Last gelegten Handlungen zu verfolgen, wenn ihm dort tatsächlich das
Verbrechen der Hehlerei noch zur Last gelegt würde. Das ist nun aber nicht
mehr der Fall, da das Verfahren wegen Hehlerei schon kurz nach der Eröffnung
wieder eingestellt worden ist. In BGE 71 IV 60 hat die Anklagekammer zwar
ausgeführt, die Tatsache, dass wegen Einstellung des Verfahrens ein Teil der
in Untersuchung gezogenen Handlungen ausscheidet und nur noch Handlungen zu
verfolgen bleiben, die in einem andern Kanton ausgeführt worden sind,
rechtfertige für sich allein den nachträglichen Wechsel des Gerichtsstandes
nicht. Das heisst jedoch nicht, dass über einen Einstellungsbeschluss
schlechthin hinweggesehen werden müsse, die Sache also so zu halten sei, als
ob der Beschuldigte noch immer für alle Handlungen verfolgt werde, die ihm
einmal gleichzeitig zur Last gelegt wurden. Die Einstellung soll bloss für
sich allein nicht genügen, den Gerichtsstand zu wechseln. Ändert sie indes die
Sachlage so, dass sich ein Wechsel aufdrängt, so ist ihr Rechnung zu tragen.
Im vorliegenden Falle liegt auf der Hand, dass ihr Rechnung getragen werden
muss. Es geht nicht an, einen Verkehrsunfall, der sich in der Nähe von
Winterthur ereignet hat, durch die Behörden des Kantons Tessin untersuchen und
beurteilen zu lassen, bloss weil der Beschuldigte im Tessin vorübergehend
wegen Hehlerei verfolgt wurde. Im Gegensatz zu dem Fall, auf den sich das
erwähnte Präjudiz bezieht, sind in der vorliegenden Sache das in Winterthur
und das im Tessin eröffnete Verfahren nie vereinigt worden. Wenn daher die
Behörden des Kantons Zürich zuständig erklärt werden, M. für die in ihrem
Kanton ausgeführten Handlungen weiterhin zu verfolgen, wird damit nicht
bewirkt, dass die Sache einer Behörde, die sich bereits mit ihr befasst hätte,
entzogen und der Behörde eines andern Kantons übertragen oder rückübertragen
würde. Vielmehr bleibt damit die Behörde befasst, welche die

Seite: 143
Strafverfolgung von Anfang an an die Hand genommen und stets in der Hand
behalten hat. Diese Lösung drängt sich auf jeden Fall unter dem Gesichtspunkt
von Art. 263
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 350 - 1 Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
1    Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
2    Es ist zuständig für die Informationsvermittlung zwischen den Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen einerseits sowie den Nationalen Zentralbüros anderer Staaten und dem Generalsekretariat von INTERPOL andererseits.
BStP auf, wie immer auch die Gerichtsstandsfrage nach den
ordentlichen Regeln der Art. 346
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 350 - 1 Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
1    Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
2    Es ist zuständig für die Informationsvermittlung zwischen den Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen einerseits sowie den Nationalen Zentralbüros anderer Staaten und dem Generalsekretariat von INTERPOL andererseits.
und 350 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 350 - 1 Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
1    Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
2    Es ist zuständig für die Informationsvermittlung zwischen den Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen einerseits sowie den Nationalen Zentralbüros anderer Staaten und dem Generalsekretariat von INTERPOL andererseits.
StGB angesichts der
Einstellung der Strafverfolgung wegen Hehlerei entschieden werden müsste.
Demnach erkennt die Anklagekammer:
Die Behörden des Kantons Zürich werden berechtigt und verpflichtet erklärt, M.
zu verfolgen und zu beurteilen.