S. 39 / Nr. 12 Verfahren (d)

BGE 72 IV 39

12. Auszug aus dem Entscheid der Anklagekammer vom 15. März 1946 i. S.
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen gegen Staatsanwaltschaft des Kantons
Graublinden.


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Regeste:
Voraussetzungen der Änderung des Gerichtsstandes wegen neuer Tatsachen.
Conditions du changement de for à raison de faits nouveaux.
Condizioni della modifica del foro a motivo di fatti nuovi.

Aus dem Tatbestand:
A. ­ Daniel Stäger, von Zizers, der in Zizers ein Gewerbe als
Fahrradmechaniker betrieb, stahl im Jahre 1944 zahlreiche Fahrräder und
Fahrradbestandteile, namentlich Bereifungen. In 13 Fällen befindet sich der
Tatort im Kanton St. Gallen, in 5 Fällen im Kanton Zürich, in 2 Fällen im
Kanton Thurgau, in 4 Fällen im Kanton Aargau und in je einem Falle in den
Kantonen Graubünden und Bern. Im Kanton Graubünden wurde Stäger ausserdem
wegen eines Pfändungsbetruges verfolgt.
Am 14. März 1945 erklärte die Anklagekammer des Bundesgerichts die Behörden
des Kantons St. Gallen zuständig, Stäger für alle ihm zur Last gelegten
strafbaren Handlungen zu verfolgen und zu beurteilen. Am 14. Dezember 1945
wurde Stäger vom Bezirksgericht Gaster

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wegen der erwähnten Handlungen in Abwesenheit des gewerbsmässigen Diebstahls
und des Pfändungsbetruges schuldig erklärt und zu anderthalb Jahren Gefängnis
verurteilt.
B. ­ Am 27. Dezember 1945 verlangte Stäger die Neubeurteilung der Sache, und
zwar gemeinsam mit der Beurteilung von strafbaren Handlungen, deretwegen das
Bezirksamt Sargans am 4. September 1945 gegen ihn, gegen seinen in Chur
wohnenden Arbeiter Adolf Stöckli und gegen den in Trimmis wohnenden Peter
Bacchini eine Untersuchung angehoben hat. In dieser neuen Untersuchung werden
den Beschuldigten folgende strafbare Handlungen vorgeworfen:
1. Stäger gewerbsmässige Hehlerei, begangen in Zizers dadurch, dass er von
Fritz Marques, der inzwischen gestorben ist, fünf oder sechs gestohlene
Fahrräder sowie die gestohlene Bereifung ab etwa fünf Fahrrädern und von
Bacchini die gestohlene Bereifung ab einem Fahrrad angenommen und
weiterveräussert hat;
2. Stäger und Stöckli gemeinsam Diebstahl an zwei Fahrrädern, begangen in Mels
(St. Gallen);
3. Stäger und Bacchini gemeinsam Diebstahl an einem Fahrrad, begangen in Ragaz
(St. Gallen);
4. Stöckli gewerbsmässige Hehlerei, begangen in Zizers dadurch, dass er als
Arbeiter Stägers gegen Lohn gestohlene Fahrräder umarbeiten half;
5. Bacchini gewerbsmässige Hehlerei, begangen dadurch, dass er von Marques ein
gestohlenes Fahrrad und eine gestohlene Fahrradbereifung entgegennahm;
6. Bacchini Diebstahl an einem Fahrrad, begangen in Chur, und eventuell
Diebstahl an drei weiteren Fahrrädern, begangen am gleichen Ort;
7. Bacchini Veruntreuung eines Fahrrades;
8. Bacchini Diebstahl an 8 kg Rosshaar, begangen in Chur.
C. ­ Mit Gesuch vom 28. Februar 1946 beantragt die Staatsanwaltschaft des
Kantons St. Gallen der Anklagekammer

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des Bundesgerichts, in Abänderung des Entscheides vom 14. März 1945 sei der
Kanton Graubünden berechtigt und verpflichtet zu erklären, Stäger für alle
Handlungen- zu beurteilen, und der gleiche Kanton habe auch Stöckli und
Bacchini zu verfolgen und zu beurteilen.
Aus den Erwägungen:
1. ­ Grundsätzlich kann auch ein von der Anklagekammer festgelegter
Gerichtsstand geändert werden, wenn neue Tatsachen bekannt werden. Es müssen
aber triftige Gründe vorliegen (BGE 69 IV 46, 71 IV 61). Darunter sind Gründe
zu verstehen, die eine nachträgliche Änderung, sei es im Interesse der
Prozessökonomie, sei es zur Wahrung anderer, neu ins Gewicht fallender
Interessen, wegen veränderter Verhältnisse aufdrängen. Die Änderung soll die
Ausnahme bilden.
2. ­ Im vorliegenden Falle spricht für die Änderung der Umstand, dass Stäger
heute wegen eines im Kanton Graubünden ausgeführten Verbrechens verfolgt
werden muss (gewerbsmässige Hehlerei), das mit schwererer Strafe bedroht ist
als der gewerbsmässige Diebstahl, auf Grund dessen der Gerichtsstand St.
Gallen festgesetzt worden ist, ferner der Umstand, dass das Verfahren auf zwei
Mittäter ausgedehnt worden ist, die (wie Stäger) im Kanton Graubünden wohnen
und heimatberechtigt sind und einen wesentlichen Teil ihrer strafbaren
Tätigkeit in diesem Kanton ausgeführt haben. Allein die Strafdrohung für
gewerbsmässige Hehlerei ist nicht wesentlich schärfer als für gewerbsmässigen
Diebstahl. Das Gewerbe des Diebstahls war bei Stäger umfangreicher als das der
Hehlerei. Neu ist nicht nur die Verfolgung wegen gewerbsmässiger Hehlerei,
sondern auch die Verfolgung wegen neuer Fahrraddiebstähle. Diese hat Stäger
wiederum im Kanton St. Gallen, nicht im Kanton Graubünden, begangen. Auch die
beiden Mitbeschuldigten haben im Kanton St. Gallen gestohlen, Stöckli zweimal,
Bacchini einmal. Das Schwergewicht der strafbaren Tätigkeit liegt nach wie vor
in

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diesem Kanton. Auf das Heimatrecht und den Wohnsitz des Täters darf bei der
Bestimmung des Gerichtsstandes erst in zweiter Linie Rücksicht genommen
werden. Im vorliegenden Falle vermögen sie nicht den Ausschlag zu geben. Die
Änderung des Gerichtsstandes ist mit den Grundsätzen der Prozessökonomie nicht
zu vereinbaren, da der grösste Teil der strafbaren Handlungen Stägers im
Kanton St. Gallen bereits beurteilt worden ist, wenn auch bloss in einem
Kontumazialurteil, das wieder aufgehoben werden muss. Auch die Untersuchung
wegen der neu entdeckten strafbaren Handlungen ist von den Behörden des
Kantons St. Gallen geführt worden.
Demnach erkennt die Anklagekammer:
Die Behörden des Kantons St. Gallen werden berechtigt und verpflichtet
erklärt, Stäger, Stöckli und Bacchini für alle ihnen zur Last gelegten
strafbaren Handlungen zu verfolgen und zu beurteilen.