S. 192 / Nr. 52 Verfahren (d)

BGE 72 IV 192

52. Entscheid der Anklagekammer vom 1. Oktober 1946 i. S. Sexauer gegen
Verhöramt des Kantons Appenzell-Ausserrhoden und Staatsanwaltschaft des
Kantons Zürich.

Regeste:
Art. 346 , 349 Abs. 2
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 349
, 350 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 350 - 1 Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
1    Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
2    Es ist zuständig für die Informationsvermittlung zwischen den Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen einerseits sowie den Nationalen Zentralbüros anderer Staaten und dem Generalsekretariat von INTERPOL andererseits.
StGB, Art. 262
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 350 - 1 Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
1    Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
2    Es ist zuständig für die Informationsvermittlung zwischen den Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen einerseits sowie den Nationalen Zentralbüros anderer Staaten und dem Generalsekretariat von INTERPOL andererseits.
, 263
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 350 - 1 Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
1    Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
2    Es ist zuständig für die Informationsvermittlung zwischen den Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen einerseits sowie den Nationalen Zentralbüros anderer Staaten und dem Generalsekretariat von INTERPOL andererseits.
BStP.
Gerichtsstand zur Verfolgung von Mittätern, die am gleichen Orte gehandelt
haben und von denen der eine in anderen Kantonen weitere strafbare Handlungen
verübt hat.
Einfluss auf den Gerichtsstand, wenn die Anklagekammer erst kurz vor der
Beurteilung angerufen wird.
Art. 346, 349 al. 2, 350 ch. 1 CP, art. 262, 263 PPF.
For de la poursuite des coauteurs qui ont agi dans le même lieu et dont l'un a
commis d'autres infractions dans d'autres cantons.
Influence, sur la détermination du for, du fait que la Chambre d'accusation
n'est saisie que peu de temps avant la mise en jugement.
Art. 316, 349 cp. 2, 350 cifra 1 CP, art. 262, 263 PPF.
Foro del procedimento penale contro coautori che hanno agito nello stesso
luogo e di cui uno ha commesso altri reati in altri cantoni.

Seite: 193
Influsso, sulla determinazione del foro, del fatto che la Camera d'accusa è
stata adita soltanto poco prima che venisse giudicata la causa.

A. ­ Der in Trogen wohnende Franz Utiger und vierzehn Mitbeschuldigte,
darunter die in Zürich wohnende Bertha Sexauer, wurden von den Behörden des
Kantons Appenzell-Ausserrhoden dem Kriminalgericht überwiesen, Utiger wegen
gewerbsmässiger Abtreibung im Sinne von Art. 119 Ziff. 3
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 119 - 1 Der Abbruch einer Schwangerschaft ist straflos, wenn er nach ärztlichem Urteil notwendig ist, damit von der schwangeren Frau die Gefahr einer schwerwiegenden körperlichen Schädigung oder einer schweren seelischen Notlage abgewendet werden kann. Die Gefahr muss umso grösser sein, je fortgeschrittener die Schwangerschaft ist.
1    Der Abbruch einer Schwangerschaft ist straflos, wenn er nach ärztlichem Urteil notwendig ist, damit von der schwangeren Frau die Gefahr einer schwerwiegenden körperlichen Schädigung oder einer schweren seelischen Notlage abgewendet werden kann. Die Gefahr muss umso grösser sein, je fortgeschrittener die Schwangerschaft ist.
2    Der Abbruch einer Schwangerschaft ist ebenfalls straflos, wenn er innerhalb von zwölf Wochen seit Beginn der letzten Periode auf schriftliches Verlangen der schwangeren Frau, die geltend macht, sie befinde sich in einer Notlage, durch eine zur Berufsausübung zugelassene Ärztin oder einen zur Berufsausübung zugelassenen Arzt vorgenommen wird. Die Ärztin oder der Arzt hat persönlich mit der Frau vorher ein eingehendes Gespräch zu führen und sie zu beraten.
3    Ist die Frau nicht urteilsfähig, so ist die Zustimmung ihrer gesetzlichen Vertreterin oder ihres gesetzlichen Vertreters erforderlich.
4    Die Kantone bezeichnen die Praxen und Spitäler, welche die Voraussetzungen für eine fachgerechte Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen und für eine eingehende Beratung erfüllen.
5    Ein Schwangerschaftsabbruch wird zu statistischen Zwecken der zuständigen Gesundheitsbehörde gemeldet, wobei die Anonymität der betroffenen Frau gewährleistet wird und das Arztgeheimnis zu wahren ist.
StGB, Bertha Sexauer
wegen Abtreibung im Sinne des Art. 118
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 118 - 1 Wer eine Schwangerschaft mit Einwilligung der schwangeren Frau abbricht oder eine schwangere Frau zum Abbruch der Schwangerschaft anstiftet oder ihr dabei hilft, ohne dass die Voraussetzungen nach Artikel 119 erfüllt sind, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
1    Wer eine Schwangerschaft mit Einwilligung der schwangeren Frau abbricht oder eine schwangere Frau zum Abbruch der Schwangerschaft anstiftet oder ihr dabei hilft, ohne dass die Voraussetzungen nach Artikel 119 erfüllt sind, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
2    Wer eine Schwangerschaft ohne Einwilligung der schwangeren Frau abbricht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr166 bis zu zehn Jahren bestraft.
3    Die Frau, die ihre Schwangerschaft nach Ablauf der zwölften Woche seit Beginn der letzten Periode abbricht, abbrechen lässt oder sich in anderer Weise am Abbruch beteiligt, ohne dass die Voraussetzungen nach Artikel 119 Absatz 1 erfüllt sind, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
4    In den Fällen der Absätze 1 und 3 tritt die Verjährung in drei Jahren ein.167
StGB, die übrigen Beschuldigten teils
wegen vollendeter oder versuchter Abtreibung, teils wegen Anstiftung oder
Gehülfenschaft dazu. Bertha Sexauer wird vorgeworfen, sie habe sich im Herbst
1944 in Wil (Kanton St. Gallen) und im Juni 1945 in Zürich von Utiger die
Leibesfrucht abtreiben lassen. Die Hauptverhandlung vor dem Kriminalgericht
wurde auf 13. September 1946 angesetzt.
B. ­ Mit Gesuch vom 11. September 1946 beantragt Bertha Sexauer der
Anklagekammer des Bundesgerichts, die Behörden des Kantons Zürich seien zu
ihrer Verfolgung und Beurteilung zuständig zu erklären. Sie beruft sich
darauf, dass sie die ihr vorgeworfenen Handlungen in diesem Kanton und zum
Teil im Kanton St. Gallen ausgeführt habe.
Dem Antrage der Bertha Sexauer, es sei dem Gesuche aufschiebende Wirkung zu
erteilen, hat der Präsident der Anklagekammer am 12. September 1946
entsprochen. Demgemäss hat das Kriminalgericht das Verfahren gegen Bertha
Sexauer vorläufig eingestellt und am 13. September 1946 bloss die übrigen
Beschuldigten beurteilt.
C. ­ Das Verhöramt von Appenzell-Ausserrhoden und die Staatsanwaltschaft des
Kantons Zürich beantragen, die Behörden des Kantons Appenzell-Ausserrhoden
seien zuständig zu erklären.
Die Anklagekammer zieht in Erwägung:
Nach der Rechtsprechung der Anklagekammer sind die passive Abtreiberin Bertha
Sexauer und der aktive

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Abtreiber Utiger Mittäter, bestimmt sich der Gerichtsstand aber nicht nach
Art. 349 Abs. 2
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 349
StGB, weil diese Bestimmung nur erlassen worden ist für Fälle,
in denen die Mittäter nicht am gleichen Orte handeln (BGE 70 IV 88 f.). Bertha
Sexauer und Utiger haben sich am gleichen Orte vergangen, das eine Mal im
Kanton Zürich, das andere Mal im Kanton St. Gallen. Gemäss Art. 346 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 349

StGB müssten sie daher für diese Taten beide in einem dieser Kantone verfolgt
werden. Nun hat aber Utiger noch andere Abtreibungen vorgenommen, die ihn nach
der Regel des Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 350 - 1 Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
1    Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
2    Es ist zuständig für die Informationsvermittlung zwischen den Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen einerseits sowie den Nationalen Zentralbüros anderer Staaten und dem Generalsekretariat von INTERPOL andererseits.
StGB für alle Verbrechen vor die
Strafbehörden des Kantons Appenzell-AusserrLoden gebracht haben. Bei dieser
Sachlage rechtfertigt es sich, den aus der Konkurrenz von Art. 346 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 349
und
Art. 350 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 350 - 1 Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
1    Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
2    Es ist zuständig für die Informationsvermittlung zwischen den Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen einerseits sowie den Nationalen Zentralbüros anderer Staaten und dem Generalsekretariat von INTERPOL andererseits.
StGB entstandenen Konflikt dahin zu lösen, dass für die
Verfolgung und Beurteilung der Bertha Sexauer nicht ein besonderer
Gerichtsstand festgesetzt wird (was die Anklagekammer gemäss BGE 68 IV 126 f.
und 70 IV 90 tun dürfte), sondern gestützt auf die Befugnis, welche die
Anklagekammer gemäss Art. 262
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 350 - 1 Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
1    Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
2    Es ist zuständig für die Informationsvermittlung zwischen den Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen einerseits sowie den Nationalen Zentralbüros anderer Staaten und dem Generalsekretariat von INTERPOL andererseits.
und 263
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 350 - 1 Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
1    Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
2    Es ist zuständig für die Informationsvermittlung zwischen den Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen einerseits sowie den Nationalen Zentralbüros anderer Staaten und dem Generalsekretariat von INTERPOL andererseits.
BStP (Art. 399 lit. d
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 350 - 1 Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
1    Das Bundesamt für Polizei nimmt die Aufgaben eines Nationalen Zentralbüros im Sinne der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (INTERPOL) wahr.
2    Es ist zuständig für die Informationsvermittlung zwischen den Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen einerseits sowie den Nationalen Zentralbüros anderer Staaten und dem Generalsekretariat von INTERPOL andererseits.
und e StGB) hat
und welche nach der Rechtsprechung auch zur Abweichung vom Gerichtsstand des
Art. 346 StGB berechtigt (BGE 69 IV 43, 71 IV 160), die Behörden von
Appenzell-Ausserrhoden zuständig erklärt werden. In diesem Kanton ist das
Verfahren bis zur Hauptverhandlung gediehen und die Hauptverhandlung
inzwischen gegen Utiger und dreizehn Mitangeklagte durchgeführt worden. Die
Anklagekammer hat stets verlangt, dass der Beschuldigte, der den Gerichtsstand
bestreiten will, dies nicht erst unmittelbar vor der Beurteilung tue. Nur aus
triftigen Gründen soll in diesem Zeitpunkt der Gerichtsstand noch gewechselt
werden, da sich die Änderung mit dem Erfordernis einer raschen Abwicklung des
Strafverfahrens nicht mehr verträgt und es der Beschuldigte in der Hand hätte,
durch Zuwarten das Verfahren in die Länge zu ziehen. Nachdem die Behörden des
Kantons Appenzell-Ausserrhoden die umfangreiche Untersuchung durchgeführt

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haben und den Fall auch aus der Hauptverhandlung gegen Utiger und die
Mitangeklagten vom 13. September 1946 kennen, wäre es zudem unzweckmässig, die
Gesuchstellerin durch die Behörden eines andern Kantons beurteilen zu lassen,
da das Geschäftsgebahren des gewerbsmässigen Abtreibers Utiger für die
Beurteilung ihres Verschuldens von Bedeutung sein kann. Die Behörden von
Zürich und Appenzell-Ausserrhoden sind einig, dass der Gerichtsstand für die
Gesuchstellerin in letzterem Kanton beibehalten werde. Der Beschuldigte in
Strafsachen hat im Gegensatz zum Beklagten im Zivilprozess nicht ein Anrecht,
von einem «natürlichen» Richter, insbesondere von dem des Tatortes, verfolgt
zu werden; er hat sich an einem der im Gesetz vorgesehenen Gerichtsstände zu
verantworten.
Demnach erkennt die Anklagekammer:
Die Behörden des Kantons Appenzell-Ausserrhoden werden zuständig erklärt,
Bertha Sexauer zu verfolgen und zu beurteilen.