S. 52 / Nr. 16 Schuldbetreibungs- und Konkursrecht (d)

BGE 72 III 52

16. Urteil der II. Zivilabteilung vom 12. April 1946 i.S. Stransky gegen
Assicurazioni Generali S.A.

Regeste:
Wirkungen eines Versicherungsvertrages. Anwendbares Recht.
Nichtanwendung ausländischer Vorschriften über die Vertragserfüllung wegen
Verletzung des schweizerischen ordre public?
Aberkennungsklage. Die Berücksichtigung eines erst im Laufe des Prozesses
eingetretenen Schuldbefreiungsgrundes verstösst nicht gegen Bundesrecht.
Effets d'un contrat d'assurance. Droit applicable.
La violation de l'ordre public suisse met-elle obstacle à l'application des
prescriptions étrangères sur l'exécution des contrats?
Action en libération de dette. Le droit fédéral ne s'oppose pas à la prise en
considération d'un motif de libération survenu en cours d'instance.

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Effetti d'un contratto d'assicurazione. Diritto applicabile.
La violazione dell'ordine pubblico svizzero costituisce un ostacolo
all'applicazione di disposti esteri sull'adempimento dei contratti?
Azione di disconoscimento di debito. Il diritto federale non vieta di tener
conto d'un motivo di liberazione sopraggiunto in corso di procedura.

Am 17. August 1927 schloss der damals in Nachod (Böhmen) wohnhaft gewesene
Beklagte mit der Prager Zweigniederlassung der Klägerin einen
Lebensversicherungsvertrag über 500000 tschechische Kronen ab. Die Prämien
entrichtete er während etwa zwölf Jahren vertragsgemäss in tschechischen
Kronen. Seit der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Deutschen hält er
sich als jüdischer Emigrant in Zürich auf. Von hier aus forderte er von der
Klägerin den Rückkaufswert der Versicherung. Da die Klägerin dessen Auszahlung
unter Berufung auf die im damaligen Protektorat Böhmen und Mähren eingeführte
Judengesetzgebung und die dort geltenden Devisenvorschriften verweigerte,
erwirkte er gegen sie für den Betrag von 254523.20 tschechischen Kronen,
umgerechnet in Fr. 43778.­, am 16. September 1943 auf Grund von Art. 271 Ziff.
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SR 281.1 Bundesgesetz vom 11. April 1889 über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG)
SchKG Art. 271 - 1 Der Gläubiger kann für eine fällige Forderung, soweit diese nicht durch ein Pfand gedeckt ist, Vermögensstücke des Schuldners, die sich in der Schweiz befinden, mit Arrest belegen lassen:468
1    Der Gläubiger kann für eine fällige Forderung, soweit diese nicht durch ein Pfand gedeckt ist, Vermögensstücke des Schuldners, die sich in der Schweiz befinden, mit Arrest belegen lassen:468
1  wenn der Schuldner keinen festen Wohnsitz hat;
2  wenn der Schuldner in der Absicht, sich der Erfüllung seiner Verbindlichkeiten zu entziehen, Vermögensgegenstände beiseite schafft, sich flüchtig macht oder Anstalten zur Flucht trifft;
3  wenn der Schuldner auf der Durchreise begriffen ist oder zu den Personen gehört, welche Messen und Märkte besuchen, für Forderungen, die ihrer Natur nach sofort zu erfüllen sind;
4  wenn der Schuldner nicht in der Schweiz wohnt, kein anderer Arrestgrund gegeben ist, die Forderung aber einen genügenden Bezug zur Schweiz aufweist oder auf einer Schuldanerkennung im Sinne von Artikel 82 Absatz 1 beruht;
5  wenn der Gläubiger gegen den Schuldner einen provisorischen oder einen definitiven Verlustschein besitzt;
6  wenn der Gläubiger gegen den Schuldner einen definitiven Rechtsöffnungstitel besitzt.
2    In den unter den Ziffern 1 und 2 genannten Fällen kann der Arrest auch für eine nicht verfallene Forderung verlangt werden; derselbe bewirkt gegenüber dem Schuldner die Fälligkeit der Forderung.
3    Im unter Absatz 1 Ziffer 6 genannten Fall entscheidet das Gericht bei ausländischen Entscheiden, die nach dem Übereinkommen vom 30. Oktober 2007472 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen zu vollstrecken sind, auch über deren Vollstreckbarkeit.473
SchKG einen Arrest und leitete Betreibung ein. Gegenüber dem Rechtsvorschlag
der Klägerin erteilte ihm der Audienzrichter des Bezirkes Zürich provisorische
Rechtsöffnung. Die Klägerin erhob darauf Aberkennungsklage. Nachdem die
deutsche Besetzung der Tschechoslowakei ihr Ende gefunden hatte, teilte sie
dem Gerichte mit, dass die nationalsozialistischen Massnahmen gegen die Juden
aufgehoben und Leistungen aus der Police des Beklagten möglich geworden seien,
und dass sie den Rückkaufswert samt Zinsen beim Bezirksgericht Prag-Innere
Stadt hinterlegt habe. Mit Urteil vom 18. Dezember 1945 hat hierauf das
Obergericht des Kantons Zürich die Aberkennungsklage für den Betrag von Fr.
43778.­ nebst Zinsen geschützt.
Mit seiner Berufung an das Bundesgericht beantragt der Beklagte Abweisung der
Aberkennungsklage. Die Klägerin schliesst auf Abweisung der Berufung.

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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. ­ Mangels einer ausdrücklichen Parteivereinbarung über das anzuwendende
Recht hat die Vorinstanz mit Recht untersucht, mit welchem Lande das
Vertragsverhältnis der Parteien den engsten räumlichen Zusammenhang aufweise.
Aus dem Umstande, dass der streitige Versicherungsvertrag zwischen einem
Einwohner der Tschechoslowakei und der tschechoslowakischen Zweigniederlassung
der Klägerin abgeschlossen wurde, dass die darin vorgesehenen
Zahlungsverpflichtungen für beide Parteien auf tschechische Kronen lauten, und
dass für alle Streitigkeiten aus dem Versicherungsvertrage der Gerichtsstand
Prag vereinbart wurde, hat sie in unanfechtbarer Weise geschlossen, dass sich
die Wirkungen dieses Vertrages nach tschechoslowakischem Recht beurteilen. Sie
durfte die eben erwähnte Gerichtsstandsklausel bei der Bestimmung des
massgebenden Rechts als Indiz verwerten (BGE 60 II 301 /2), auch wenn sie ihre
Anwendung auf die vorliegende Aberkennungsklage ablehnte.
Ist deshalb nach tschechoslowakischem Rechte zu entscheiden, ob die Klägerin
sich mit der in Prag erfolgten Hinterlegung von ihrer Schuldpflicht befreit
habe, so kann das Bundesgericht das angefochtene Urteil in diesem Punkte nicht
überprüfen.
Der Beklagte macht freilich geltend, die Vorinstanz habe die Hinterlegung der
Streitsumme in Prag mit Rücksicht auf den schweizerischen ordre public nicht
als Erfüllung anerkennen dürfen, da er (der Beklagte) wegen der
tschechoslowakischen Devisengesetzgebung und deswegen, weil der
tschechoslowakische Staat sein Vermögen unter «Nationalverwaltung» gestellt
habe, über den hinterlegten Betrag nicht verfügen könne. Die Anordnung der
«Nationalverwaltung» soll für ihn entschädigungslose Enteignung bedeuten. Wie
es sich mit diesen Behauptungen verhalte, kann jedoch dahingestellt bleiben.
Die tschechoslowakische Gesetzgebung über die Devisenbewirtschaitung und die
«Nationalverwaltung» ist nämlich im angefochtenen

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Urteil weder unmittelbar noch mittelbar zur Anwendung gelangt. Sie berührt das
Rechtsverhältnis zwischen den Parteien in keiner Welse. Das angefochtene
Urteil beruht nur auf den Vorschriften des tschechoslowakischen Zivilrechts
über Art und Ort der Vertragserfüllung. Wenn diese Vorschriften der Klägerin
gestatten, ihre Schuld gegenüber dem Beklagten durch Hinterlegung am
Erfüllungsort zu tilgen, und wenn darnach der Ort der Geschäftsniederlassung
des Schuldners, also Prag, als Erfüllungsort zu gelten hat, wie die Vorinstanz
in für das Bundesgericht verbindlicher Weise annimmt, so verletzt dies an und
für sich das schweizerische Rechtsgefühl nicht. Dass in dem Lande, wo eine
Schuld nach dem grundsätzlich massgebenden ausländischen Rechte zu erfüllen
ist, für den Gläubiger Verfügungsbeschränkungen gelten, die möglicherweise dem
schweizerischen ordre public widersprechen, bildet für den schweizerischen
Richter keinen genügenden Grund, die Erfüllung statt nach jenem ausländischen
nach schweizerischem Rechte zu beurteilen und den Erfüllungsort in die Schweiz
zu verlegen. Die Berufung auf den schweizerischen ordre public kann dem
Beklagten daher nicht helfen.
2. ­ Unter diesen Umständen kann sich nur noch fragen, ob die Vorinstanz
dadurch Bundesrecht verletzt habe, dass sie einen erst im Laufe des
Aberkennungsprozesses eingetretenen Schuldbefreiungsgrund zur Gutheissung der
Aberkennungsklage genügen liess. Der Beklagte behauptet dies unter Hinweis auf
BGE 41 III 158, 56 II 136 und 57 II 325 f., wo ausgesprochen ist, dass im
Aberkennungsprozess nicht darüber zu befinden sei, ob die streitige Forderung
zur Zeit der Klageanhebung oder des Urteils oder in einem andern vom
kantonalen Prozessrecht zu bestimmenden Zeitpunkte bestanden habe bezw.
bestehe, sondern darüber, ob sie bei Erlass des Zahlungsbefehls begründet und
der Gläubiger berechtigt gewesen sei, sie auf dem Betreibungswege geltend zu
machen. Hieraus ist jedoch in den erwähnten Entscheiden nicht gefolgert
worden, dass die Klage auf Aberkennung einer Forderung,

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die bei Erlass des Zahlungsbefehls bestand und fällig war, selbst dann
abzuweisen sei, wenn dem Schuldner inzwischen eine Einrede gegen die Forderung
erwachsen ist. Dem Gläubiger durch Abweisung der Aberkennungsklage die
Fortsetzung der Betreibung für eine nach Erlass des Zahlungsbefehls
untergegangene Forderung zu ermöglichen, stünde mit dem materiellen Recht,
dessen Verwirklichung das Betreibungsrecht und namentlich auch die Einrichtung
der Aberkennungsklage zu dienen hat, in unerträglichem Widerspruch. In BGE 68
III 87
hat deshalb das Bundesgericht entschieden, dass der Schuldner im
Aberkennungsprozess mit allen Einreden gegen die streitige Forderung
zuzulassen sei, gleichgültig, ob sie vor oder nach Erlass des Zahlungsbefehls
entstanden seien. Dass die Forderung und das Recht, sie auf dem
Betreibungswege geltend zu machen, schon bei Erlass des Zahlungsbefehls
bestanden haben, ist also zwar notwendige Voraussetzung für die Abweisung der
Aberkennungsklage, da der Schuldner sich nicht gefallen lassen muss, zu früh
betrieben zu werden, und da sonst der vorzeitig betreibende Gläubiger gegen
denjenigen Gläubigern, die korrekt vorgehen, im Vorteil wäre (BGE 68 III 88).
Bestand und Fälligkeit der Forderung bei Erlass des Zahlungsbefehls reichen
dagegen zur Abweisung der Aberkennungsklage nicht aus, sondern es besteht
hiefür die weitere Voraussetzung, dass seit Erlass des Zahlungsbefehls keine
Einreden gegen die Forderung entstanden sind. Bis zu welchem Stadium des
Aberkennungsprozesses Einreden gegen die Forderung noch vorgebracht werden
können, bestimmt das kantonale Prozessrecht (BGE 68 III 87). Das angefochtene
Urteil ist daher auch unter dem Gesichtspunkt der Bundesvorschriften über die
Aberkennungsklage nicht zu beanstanden.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichtes des Kantons
Zürich vom 18. Dezember 1945 bestätigt.