S. 225 / Nr. 41 Pressfreiheit (d)

BGE 66 I 225

41. Auszug aus dem Urteil vom 20. Dezember 1940 i. S. Dutler und Schlumpf
gegen Keel und Bezirksgericht Werdenberg.

Regeste:
Gerichtsstand für Pressvergehen: Voraussetzungen für die Annahme eines zweiten
Erscheinungsortes bei einem periodischen Presseerzeugnis.
For en matière de délits de presse: Circonstances dans lesquelles on peut
admettre l'existence d'un second lieu de parution, s'agissant d'une
publication périodique.
Foro in materia di delitto di stampa: Circostanze in cui si può ammettere
l'esistenza d'un secondo luogo di pubblicazione trattandosi d'un periodico.

Aus dem Tatbestand:
Der Rekurrent Dutler sandte Mitte Mai 1939 der Redaktion des damals in Zürich
erscheinenden Wochenblattes «Guggu» einen Brief, worin er gegen Regierungsrat
Keel in St. Gallen ehrenrührige Vorwürfe erhob und die Redaktion bat, «einiges
von diesen Angaben über Keel

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in ihr Blatt aufzunehmen». Der Rekurrent Schlumpf, Redaktor des «Guggu» nahm
jedoch den ganzen Brief in die Nummer vom 25. Mai 1939 auf und bezeichnete sie
als Sondernummer, da abgesehen von zwei unbedeutenden Beiträgen auf der
letzten Seite der Brief den ganzen Inhalt der Nummer ausmachte. Sodann erhöhte
er die Auflage, die sonst durchschnittlich 6000 betrug, auf 8000 und sandte
2000 Exemplare an einen befreundeten Journalisten in St. Gallen, der sie dort
absetzen liess. Der Rest der Auflage ging an die Abonnenten und an die
üblichen Verkaufsstellen.
Gegenüber der im Kanton St. Gallen angehobenen Strafverfolgung wegen
Amtsehrverletzung haben Dutler und Schlumpf die staatsrechtliche Beschwerde
wegen Verletzung von Art. 55
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 55 Mitwirkung der Kantone an aussenpolitischen Entscheiden - 1 Die Kantone wirken an der Vorbereitung aussenpolitischer Entscheide mit, die ihre Zuständigkeiten oder ihre wesentlichen Interessen betreffen.
1    Die Kantone wirken an der Vorbereitung aussenpolitischer Entscheide mit, die ihre Zuständigkeiten oder ihre wesentlichen Interessen betreffen.
2    Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend und holt ihre Stellungnahmen ein.
3    Den Stellungnahmen der Kantone kommt besonderes Gewicht zu, wenn sie in ihren Zuständigkeiten betroffen sind. In diesen Fällen wirken die Kantone in geeigneter Weise an internationalen Verhandlungen mit.
BV ergriffen. Sie stellen sich auf den
Standpunkt, dass als Gerichtsstand ausschliesslich Zürich in Frage komme.
Das Bundesgericht hat die Beschwerden abgewiesen.
Aus den Erwägungen:
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung befindet sich der Gerichtsstand
für Pressedelikte zunächst am Erscheinungsort, d. h. am Ort, von dem aus das
Presseerzeugnis herausgegeben wird, an die Öffentlichkeit gelangt. Er fällt
häufig, aber nicht notwendig mit dem Druckort zusammen. Dieser gilt als
Erscheinungsort insbesondere bei regelmässig erscheinenden Zeitungen und
Zeitschriften, die vom Druckorte aus durch Verträger oder durch die Post an
die Öffentlichkeit gelangen (vgl. BGE 51 I S. 133 ff., 52 I S. 323 ff.). Wenn
ein Presseerzeugnis dagegen nach dem Drucke gesamthaft an einen andern Ort
versandt und erst von dort aus verbreitet wird, gilt dieser Ort als
Erscheinungsort (BGE 44 I S. 224, 46 I S. 253, 47 I S. 74). Im Vergleich zu
diesen Fällen, wo der Erscheinungsort eindeutig feststeht, nimmt der
vorliegende Fall eine Mittelstellung ein. Von der Auflage des «Guggu» vom 25.
Mai 1939 ist der dem gewöhnlichen

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Umfang entsprechende Teil von der Druckerei in Zürich an die Abonnenten und
die üblichen Verkaufsstellen abgegangen; andrerseits wurde ein wesentlicher
Teil der Auflage, um den sie ihres besondern Inhalts wegen erhöht wurde,
gesamthaft nach St. Gallen befördert und von dort aus verbreitet. Es liegt
deshalb nahe, St. Gallen neben Zürich als zweiten Erscheinungsort und
alternativ zulässigen Gerichtsstand anzuerkennen.
Die Rechtsprechung des Bundesgerichts hat allerdings im Bestreben, den
fliegenden Gerichtsstand auszuschliessen, in der Regel nur einen einzigen
Erscheinungsort anerkannt und die Strafverfolgung für Pressevergehen nur an
diesem einen Orte zugelassen. Grundsätzlich ist aber ein mehrfacher
Erscheinungsort nicht ausgeschlossen (BURCKHARDT Komm. zur BV S. 519). Das
Bundesgericht hat denn auch schon ausgesprochen, dass die Strafverfolgung
jedenfalls dann wahlweise am einen oder andern von zwei in Betracht kommenden
Orten zulässig sei, wenn die beiden Orte als Anfangs- und Mittelpunkte der
Verbreitungstätigkeit einander ungefähr gleich stehen (nicht veröff. Entscheid
i. S. Bühler gegen Stocker vom 10. April 1933; vgl. auch BGE 27 I S. 460).
Davon ist im vorliegenden Falle auszugehen. St. Gallen könnte zwar nicht als
Erscheinungsort gelten, wenn die Ausgabe des «Guggu» vom 25. Mai 1939 in
gewöhnlicher Zahl von Zürich oder einer Zwischenstelle in St. Gallen aus an
die Abonnenten und die üblichen Verkaufsstellen in St. Gallen gelangt wäre
(BGE 51 I S. 134). So verhält es sich aber nicht. Im Hinblick auf den Angriff
auf eine in St. Gallen wohnhafte und tätige Amtsperson, den die Nummer fast
ausschliesslich enthielt, wurde die Auflage wesentlich erhöht und als
Sondernummer bezeichnet; ferner wurde dieser zusätzliche Teil der Auflage
gesamthaft nach St. Gallen versandt und von dort aus verbreitet. Unter diesen
Umständen erscheint St. Gallen nicht mehr nur als Ort der weiteren Verbreitung
im Gegensatz zum eigentlichen Herausgabeort, sondern erhält selbständige

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Bedeutung und kommt dem Herausgabeort Zürich als Anfangs- und Mittelpunkt der
Verbreitung nahe. St. Gallen ist deshalb neben Zürich als Erscheinungsort der
Ausgabe des «Guggu» vom 25. Mai 1939 zu betrachten, und es durften die
Rekurrenten entweder in Zürich oder in St. Gallen zur Verantwortung gezogen
werden.
Die Anerkennung eines zweiten Erscheinungsortes führt nicht etwa zurück zum
fliegenden Gerichtsstand, der auf Grund von Art. 55
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 55 Mitwirkung der Kantone an aussenpolitischen Entscheiden - 1 Die Kantone wirken an der Vorbereitung aussenpolitischer Entscheide mit, die ihre Zuständigkeiten oder ihre wesentlichen Interessen betreffen.
1    Die Kantone wirken an der Vorbereitung aussenpolitischer Entscheide mit, die ihre Zuständigkeiten oder ihre wesentlichen Interessen betreffen.
2    Der Bund informiert die Kantone rechtzeitig und umfassend und holt ihre Stellungnahmen ein.
3    Den Stellungnahmen der Kantone kommt besonderes Gewicht zu, wenn sie in ihren Zuständigkeiten betroffen sind. In diesen Fällen wirken die Kantone in geeigneter Weise an internationalen Verhandlungen mit.
BV weiterhin
ausgeschlossen bleibt. Sie hängt ab vom Vorliegen ganz bestimmter
Voraussetzungen, die insbesondere bei periodischen Presseerzeugnissen nicht
ausdehnend ausgelegt werden dürfen.