S. 73 / Nr. 18 Organisation der Bundesrechtspflege(d)

BGE 63 I 73

8. Auszug aus dem Urteil vom 11. Juni 1937 i. S. X. gegen Anklagekammer des
Obergerichts des Kantons Zürich.

Regeste:
Art. 178 OG: Anfechtbarkeit kantonaler Verfügungen und Entscheide:
1. Die staaterechtliche Beschwerde wegen Rechtsverweigerung ist in Zivil- und
Strafprozessachen grundsätzlich nur gegen das Endurteil zulässig, nicht schon
gegen blosse Zwischenverfügungen oder Zwischenentscheide in einem noch
hängigen Prozessverfahren.

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1. Vorbehalten bleibt, als einzige Ausnahme, der Fall, wo der angefochtene
Zwischenentscheid für den Betroffenen bereits einen bleibenden rechtlichen
Nachteil nach sich zieht, der sogar durch ein ihm günstiges Endurteil in der
Sache selbst nicht mehr oder doch nicht vollständig behoben werden könnte.

A. - Gegen den heutigen Rekurrenten X., gew. Rechtsanwalt, ist von der
zürcherischen Staatsanwaltschaft Anklage wegen Betruges gegenüber einem Otto
Meier erhoben worden. Es wird ihm vorgeworfen, dass er in einem
Zivil(Haftpflicht-) prozess über eine Entschädigung aus einem Automobilunfall,
die Meier gegen den Halter des Automobils (Peter) eingeklagt hatte, seinen
Klienten Meier bestimmt habe, sich mit einer Vergleichssumme einverstanden zu
erklären, und dabei verschwiegen habe, dass die Vergleichsleistung der
beklagten Partei, des Peter und der für ihn zahlenden
Versicherungsgesellschaft «Alpina», in Wirklichkeit wesentlich höher war, der
Überschuss aber vom Rekurrenten als Anwaltshonorar zuhanden genommen wurde. X.
wendete ein, dass daraus kein Schaden für Meier entstanden sei, weil dieser
die Klageforderung an einen gewissen Weil abgetreten gehabt habe, der Prozess
infolgedessen nur noch formell auf den Namen Meiers geführt worden sei und der
Zessionar Weil sich mit der Verrechnung des fraglichen Honorars in voller Höhe
einverstanden erklärt habe. Zudem sei auch der Honoraranspruch in dieser Höhe
begründet gewesen, trotz der Moderationsentscheide des zürcherischen und des
thurgauischen Obergerichts, da diese sich nur auf die Bemühungen vor Gericht
bezögen, während der Angeklagte für Meier auch noch zahlreiche
aussergerichtliche Bemühungen gehabt habe.
Am 7. April 1937 beschloss die Anklagekammer des zürcherischen Obergerichtes,
die Anklage einstweilen nicht zuzulassen bis nach rechtskräftiger Erledigung
eines zwischen Meier und dem Angeklagten vor Bezirksgericht Zürich hängigen
Zivilprozesses. Sie hielt zwar dafür, dass die erste Einwendung des
Angeklagten (Berufung auf die

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Zession an Weil) nicht dazu führen könnte, die Zulassung der Anklage zu
verweigern, weil die Akten dafür sprächen, dass es sich bloss um eine
Abtretung zahlungshalber, nicht an Zahlungsstatt gehandelt habe, sodass durch
einen übersetzten Honorarbezug Meier um den entsprechenden Mehrbetrag weiter
Schuldner des Weil geblieben und so geschädigt worden sei. Dagegen lasse sich
die Frage, ob der Angeklagte nicht aus dem Titel aussergerichtlicher
Bemühungen Anspruch auf das volle verrechnete Honorar oder doch wenigstens auf
ein höheres Honorar als die durch die Moderationsentscheide festgesetzten
Summen gehabt habe, zur Zeit nicht beantworten. Abklärung darüber werde der
erwähnte Zivilprozess schaffen (in dem Meier als Kläger vom Angeklagten
Herausgabe eines Teilbetrages von Fr. 5000.- der als Honorar zurückbehaltenen
Gesamtsumme verlangt). Erst dann werde feststehen, ob überhaupt ein
rechtswidriger Vorteil vorliege oder doch wenigstens in welcher Höhe.
Auf einen Rekurs gegen diesen Beschluss der Anklagekammer ist das Obergericht
nicht eingetreten, weil die zürcherische StrPO bei einstweiliger
Nichtzulassung einer Anklage keinen Rekurs zulasse, und das Bundesgericht hat
durch Entscheid vom 4. Juni 1937 eine hiegegen erhobene staatsrechtliche
Beschwerde abgewiesen.
B. - Schon vorher hatte das zürcherische Obergericht durch
Disziplinarentscheid vom 14. Oktober 1936 dem Beschwerdeführer das Recht zur
Ausübung des Rechtsanwaltsterufes im Kanton Zürich entzogen wegen seines
Verhaltens gegenüber seinem Klienten Meier und dem Versicherer der
Gegenpartei, der Versicherungsgesellschaft «Alpina»bei den
Vergleichsverhandlungen in dem erwähnten Haftpflichtprozess.
C. - Gegen den Beschluss der Anklagekammer vom 7. April 1937 hat der Rekurrent
auch die staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Er beantragt, der Beschluss sei
aufzuheben und die Anklage endgültig nicht zuzulassen, eventuell die Sache zur
Ausfällung eines neuen

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Entscheides an die Anklagekammer zurückzuweisen. Er führt u. a. aus, die
angefochtene Verfügung der Anklagekammer sei als Zwischenentscheid in einem
Strafverfahren rekursfähig, wenn das subjektive Interesse des Rekurrenten an
der Durchführung des Rekurses höher zu bewerten sei, als das öffentliche
Interesse an vorläufigem Nichteintreten auf eine solche Beschwerde (GIACOMETTI
S. 102). Diese Voraussetzung sei erfüllt. Der Zivilprozess mit seinem Klienten
Meier könne zwei Jahre in Anspruch nehmen. Während dieser Zeit bleibe der
Beschwerdeführer Angeklagter und könne um eine Wiedererteilung des
Anwaltspatentes nicht nachsuchen. Vor Abschluss des Strafverfahrens und vor
der Rehabilitation werde es ihm auch unmöglich sein, die Wirkungen einer ihn
in seinen persönlichen Verhältnissen verletzenden Journalistik zu
neutralisieren und sich um eine neue Existenzbasis mit Erfolg zu bemühen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. - Nachdem die staatsrechtliche Beschwerde des heutigen Beschwerdeführers
gegen den Entscheid der 2. Kammer des Obergerichts vom 7. Mai 1937, der das
Eintreten auf den kantonalen Rekurs gegen den heute angefochtenen Beschluss
der Anklagekammer ablehnte, durch das Urteil des Bundesgerichtes vom 4. Juni
1937 abgewiesen worden ist, steht fest, dass dieser Beschluss mit keinem
kantonalen Rechtsmittel anfechtbar war. Die kantonalen Instanzen sind also
erschöpft.
2. - Dagegen fehlt es an einer beschwerdefähigen Verfügung im Sinne von Art.
178 OG.
Nach feststehender Rechtsprechung ist die staatsrechtliche Beschwerde wegen
Rechtsverweigerung in Zivil- und Strafprozessachen grundsätzlich nur gegen das
Endurteil zulässig, nicht schon gegen blosse Zwischenverfügungen oder
Zwischenentscheide in einem noch hängigen Prozessverfahren. Eine Ausnahme ist
in BGE 60 I 279 nur noch für den Fall vorbehalten worden, wo der angefochtene

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Zwischenentscheid für den Betroffenen bereits einen bleibenden rechtlichen
Nachteil nach sich zieht, der sogar durch ein ihm günstiges Endurteil in der
Sache selbst nicht mehr oder doch nicht vollständig gehoben werden könnte, und
wo deshalb die Partei ein dringendes, schutzwürdiges Interesse daran hat, dass
über die dem Entscheid vorgeworfenen rechtlichen Mängel, dessen
Verfassungsmässigkeit, sofort erkannt werde, nicht erst in Verbindung mit der
Überprüfung des Endurteils. Von diesem Gesichtspunkte aus hat das
Bundesgericht, entgegen BGE 27 I 482, wiederholt - auch noch in neuester Zeit
- die sofortige Beschwerdeführung gegen Überweisungsverfügungen in Strafsachen
zugelassen, d. h. gegen den Beschluss, wodurch eine Person nach
abgeschlossener Strafuntersuchung unter der Anklage eines bestimmten 09,28
Morgens zur Aburteilung vor den Strafrichter gestellt wird. Und zwar nicht
bloss, wenn sich die verfassungsrechtliche Anfechtung des Beschlusses auf
prozessuale Gründe, wie z. B. die angebliche örtliche Unzuständigkeit der
Behörden des betreffenden Kantons zur Strafverfolgung stützte, sondern auch
wenn behauptet wurde, dass es an hinreichenden Verdachtsgründen für die
angebliche strafbare Handlung fehle oder dass das dem Beschwerdeführer
vorgeworfene Verhalten, selbst wenn bewiesen, den Tatbestand eines vom Gesetz
unter Strafe gestellten Vergehens unmöglich erfüllen könne. Massgebend war
dabei die Erwägung, dass durch eine solche Verfügung die rechtliche Stellung
des Betroffenen im Prozess sofort und dauernd verändert werde, indem er aus
einem blossen Angeschuldigten zum Angeklagten werde.
Im vorliegenden Falle handelt es sich aber weder um einen
Überweisungsbeschluss, noch kommt eine Änderung der prozessualen
Rechtsstellung des Beschwerdeführers, wie sie beim Überweisungsbeschluss
angenommen wurde, in Frage. Der Beschwerdeführer ist nicht vor den
Strafrichter gestellt, sondern es ist die Entscheidung darüber, ob dies
geschehen, die Anklageerhebung

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zugelassen werden soll, bis zu einer Ergänzung der Untersuchungsakten
ausgesetzt worden. Die rechtliche Stellung des Beschwerdeführers ist also die
nämliche, wie sie es bis zu diesem Beschlusse bereits war: er bleibt, wie
vorher, Angeschuldigter in einer gegen ihn schwebenden Strafuntersuchung und
muss sich nicht einmal in dieser weiteren Massnahmen unterziehen; vielmehr
soll der Ausgang eines zwischen ihm und dem angeblichen Geschädigten hängigen
Zivilprozesses abgewartet werden, der vom Strafverfahren prozessual unabhängig
ist und in dem er sich ohne Rücksicht auf dieses ohnehin verteidigen muss.
Die blossen mittelbaren tatsächlichen Nachteile, welche mit dem weiteren
Schweben der Untersuchung für ihn allenfalls verbunden sein mögen (etwa in
Form der Erschwerung seines Fortkommens), können für die Annahme eines aus
Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV selbständig anfechtbaren Zwischenentscheides nicht genügen.
Unerheblich ist unter diesem Gesichtspunkt auch der gegenüber dem
Beschwerdeführer wegen der gleichen Angelegenheit ergangene
Disziplinarentscheid vom 16. Oktober 1936. Dass er bestehen bleibt, ist keine
rechtliche Auswirkung der angefochtenen Verfügung der Anklagekammer, und bei
einem Beschluss auf endgültige Nichtzulassung der Anklage würde er auch nicht
ohne weiteres dahinfallen. Der Beschwerdeführer vermag nicht einmal darzutun,
dass die Aufhebung des Strafverfahrens wegen Betruges notwendig die
Wiedererwägung jenes Entscheides durch das Obergericht nach sich ziehen
müsste. Nachdem der Haftpflichtprozess gegen Peter trotz der Abtretung an Weil
nicht auf dessen Namen, sondern auf denjenigen des Zedenten Meier als Kläger
geführt wurde und der Beschwerdeführer infolgedessen auch dessen Zustimmung zu
einem Vergleiche nötig hatte, wird der Vorwurf illoyalen Verhaltens gegenüber
Meier und der Versicherurgsgesellschaft «Alpina» bei den
Vergleichsverhandlungen, das dem Beschwerdeführer, nach der Begründung des
Disziplinarentscheides, den Anspruch auf den Ruf eines ehrenhaften und
zutrauenswürdigen Mannes

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nimmt, nicht ohne weiteres dadurch entkräftet, dass eine strafbare
Vermögensschädigung des Meier damit nicht verbunden war.
3. - Die Beschwerde ist deshalb mangels einer beschwerdefähigen Verfügung von
der Hand zu weisen.