430 Obligaticncnrecht. N° 72.

auch für das vertragliche Schadenersatzrecht gilt (Art. 99, Abs. 3 OR),
ist die Entschädigung nach richterlichem Ermessen, unter Würdigung der
Umstände und der Grösse des Verschuldens zu bestimmen. Damit bringt das
Gesetz den Grundsatz zum Ausdruck, dass der Umfang der Haftung nach dem
Grade der subjektiven Verfehlung abgestuft, also zwischen schuld und
Ersatzpflicht ein Gleichgewicht hergestellt werden soll. Leichtes und
schweres Verschulden dürfen nicht die gleich schwere rechtliche Reaktion
nach sich ziehen (vgl. BGE 32 II 465; 38 II 478; 52 II 456 f.).

Hievon ausgehend ist vorliegend zu berücksichtigen, dass die der
Beklagten als geringes Verschulden anzurechnende Pflichtverletzung einen
unverhältnismässig grossen Schadenseintritt zur Folge gehabt hat, so
dass eine etwelche Ermässigung der Ersatzpflicht geboten ist. Es mag als
hart erscheinen, dass der Kläger einen Teil des Schadens an sich tragen
muss. Allein die Beklagte darf billigerweise nicht schwerer belastet
werden, als es der Grösse ihres Verschuldens entspricht.

Als haftungsmildernden Umstand hat sodann die Beklagte geltend gemacht,
dass, der Kläger als krebskranker Mann in seiner Gesundheit ernstlich
bedroht war und daher nicht mehr mit einer normalen Lebensdauer
rechnen konnte. Während die behandelnden Ärzte Dr. F. und Dr. W.,
wie auch nachträglich Dr. V. vom Pathologischen Institut Z., die
von Dr. S. gestellte Diagnose Krebs bestätigt haben, hält sie das
Experten-kollegium, gestützt auf den zweiten Bericht des genannten
Instituts vom 11. Mai 1922, für nnrichtig. Die Vorinstanz ist zum Schlusse
gelangt, dass nicht mehr mit Sicherheit festgestellt werden könne, ob
der Kläger im Frühjahr 1922 an einem Mundhodenkrebs gelitten habe. Diese
Frage müsse heute als illiquid angesehen werden und neuer Begutachtung
wiirde es am Material fehlen. Es bestehen somit auf jeden Fall Zweifel
hinsichtlich der Existenz, eines Carcinoms, wie anderseits auch darüber,
ob der Kläger, unter der Voraussetzung,

Prozessrecht. N° 73. 431

dass es sich um ein solches handelte, durch die Operation, in Verbindung
mit einer sachgemässen Bestrahlung, dauernd geheilt werden wäre. Und
diese Zweifel müssen in ihrer rechtlichen Auswirkung der Beklagten
zugute kommen.

Bei Berücksichtigung dieser Momente erscheint es als der Sachlage
angemessen, an dem oben festgestellten Schadensbetrag von 81,919 Fr. 55
Cts. einen Ahstrich von 20 % = 16,383 Fr. 90 Cts. zu machen und so
die Entschädigung auf 65,535 Fr. 65 Cts. zu reduzieren. Angesichts der
geringen Differenz zwischen diesem Betrage und der von der Vorinstanz
errechneten Schadenersatzsumrne von 68,616 Fr. 15 Cts. ist jedoch von
einer Abänderung des angefochtenen Urteils Umgang zu nehmen, zumal der
Kläger wohl Mühe haben wird, 40% seines früheren Einkommens zu verdienen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

Beide Berufungen werden abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des
Kantons Zürich vom 1. Juni 1927 wird im Sinne der Erwägungen bestätigt.

V. PROZESSRECHT

PROCEDURE

73. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 15. Dezember 1327
i. S. Gartenmsnn gegen Gartenmann.

Art. 58 OG. H a 11 p t u r t e i l. Das Urteil, das von mehreren
Rechtsbegehren nur über eines endgültig entscheidet, die andern aber zur
Beweisergänzung an die erste Instanz zurückweist, ist kein Haupturteil.

Aus dem Tatbestand : Die Klägerin machte gegenüber dem Kläger einen
Erbrechtsanspruch geltend und verlangte von ihm überdies Lohn für die
Führung seines Hauswesens. Das kan-

432 Prozess recht. N° 73.

tonale Gericht hat die Sache hinsichtlich des Erbrechtsanspruches zur
Beweisergänzung an die erste Instanz zurückgewiesen, die Lohnforderung
aber abgelehnt; Auf die gegen die Abweisung der Lohnforderung erklärte
Berufung ist das Bundesgericht nicht eingetreten.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung :

_' Das angefochtene Urteil hat nur über das eine der beiden eingeklagten
Rechtsbegehren entschieden, das andere aber zur _Beweisergänzung an die
erste Instanz zurückgewiesen. Ein solchesUrteil ist kein Haupturteil,
zu dessen Begriff nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts erforderlich
ist, dass es über den ganzen Rechtstreit endgültig entscheide (BGE 30 II
479
). Freilich betrachtet das Bundesgericht auch solche Urteile, die nur
über einen Teil der mit der Klage geltend gemachten Begehren erkennen,
dann ,als Haupturteil, wenn die nicht beurteilten Fragen im Laufe des
Prozesses in ein besonderes Verfahren verwiesen worden sind (BGE 30 II
458
; 41 II 698 E. 2; 46 II 218 E. 1). Allein diese Voraussetzung-trifft
hier nicht zu : für das noch nicht entschiedene Begehren ist lediglich
eine Beweisergänzung im nämlichen Verfahren vorbehalten worden. Erst
wenn die Vorinstanz (oder auch die erste Instanz, falls ihr Urteil
Über-das zurückgewiesene Begehren nicht an die Vorinstanz"weitergezogen
werden sollte), über dieses Begehren endgültig entschieden haben wird,
kann gegen das heute vorliegende Erkenntnis über das andere Begehren im
Zusammenhang mit der ganzen Streitsache die Berufung an das Bundesgericht
erklärt werden Heute ist die Berufung verfrüht.

Eisenhahxfliaftpflicht. N° 74. 433VI. EISENBAHNHAFTPFLICHT

RESPONSABILITÉ CIVILE DES CHEMINS DE FER

74. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 3. November 1927
LS. Elektrische Strassenbahn Zürich-Oerlikon-Seebach gegen Huber.

Eisenbahnhaftpilicht. Tramunfall.

Selbstverschulden eines Fussgängers, der ohne vorher Umschau zu halten das
Geleise einer Strassenbahn betrat und infolgedessen von einem in langsamem
Tempo daher-kahrenden Tramwagen erfasst und zu Boden geworfen-wurde
(Erw. 1).

Teilweiser Ausschluss des Selbstverschuldens wegen verminderter
Zurechnungsfähigkeit (infolge Psychopathie} des Verunfallten (Erw. 2).

Bewertung der verminderten Zurechnungsfähigkeit bei der Schadensherechnung
an Hand eines Expertengutachtens durch die kantonale Instanz. Stellung
des Bundesgerichtes zu diesem Berechnungsmodus (Erw. 3).

EHG Art. 1 und 5.

Aus dem Tatbestand. Am 6. Juli 1924 19.20 Uhr wurde Rudolf Huber,

· Bankkommis in Zürich, bei der Einmündung der Kanzlei--

strasse in die Zürcherstrasse in Oerlikon, als er das auf der Ostseite
der Strasse liegende Tramgeleise überschreiten bezw. auf diesem Geleise
nach dem vom Bahn-4 hof Oerlikon her erwarteten Tramwagen Ausschau
halten wollte, von einem von Zürich her-kommenden Strassenbahnwagen
erfasst und zu Fall gebracht, wobei er eine Gehirnerschütterung nebst
einem Schädelbruch erlitt.

Die von Huber gegen die Strassenbahngesellschaft erhobene Kiage auf
vollen Ersatz des ihm durch den Unfall entstandenen Schadens wurde durch
das Bundes ' gericht teilweise geschntzt ss