Urteilskopf

135 V 293

36. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. I. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) 8C_511/2008 vom 6. Juli 2009

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Erwägungen ab Seite 294

BGE 135 V 293 S. 294

Aus den Erwägungen:

2. Der vorinstanzliche Entscheid erging am 30. April 2008. Das kantonale Gericht stellte diesen direkt per Post an den Vertreter des Versicherten in Deutschland zu. Somit ist zunächst zu prüfen, ob diese direkte Zustellung zulässig war.
2.1 Art. 32 des Abkommens vom 25. Februar 1964 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über Soziale Sicherheit (SR 0.831.109.136.1; nachfolgend: Abkommen mit Deutschland) erlaubt den Behörden, Gerichten und Trägern der Vertragsparteien bei Anwendung des Abkommens unmittelbar miteinander und mit den beteiligten Personen und ihren Vertretern in ihren Amtssprachen zu verkehren. Diese unmittelbar anwendbare Bestimmung (vgl. hiezu PATRICK EDGAR HOLZER, Die Ermittlung der innerstaatlichen Anwendbarkeit völkerrechtlicher Vertragsbestimmungen, 1998, S. 110 ff.) regelt nicht nur die Sprachenfrage, sondern statuiert auch die Möglichkeit eines direkten postalischen Verkehrs (BGE 96 V 140).
2.2 Am 1. Juni 2002 ist das Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen, FZA; SR 0.142.112.681) in Kraft getreten.
2.2.1 Gemäss Art. 20
IR 0.142.112.681 Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (mit Anhängen, Prot. und Schlussakte)
FZA Art. 20 Beziehung zu bilateralen Abkommen über die soziale Sicherheit - Sofern in Anhang II nichts Gegenteiliges bestimmt ist, werden die bilateralen Abkommen über die soziale Sicherheit zwischen der Schweiz und den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft mit Inkrafttreten dieses Abkommens insoweit ausgesetzt, als in diesem Abkommen derselbe Sachbereich geregelt wird.
FZA werden - von hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen - die bilateralen Abkommen über die soziale Sicherheit zwischen der Schweiz und den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft mit Inkrafttreten des FZA insoweit ausgesetzt, als im FZA derselbe Sachbereich geregelt wird.
2.2.2 Nach Art. 1 Abs. 1
IR 0.142.112.681 Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (mit Anhängen, Prot. und Schlussakte)
FZA Art. 1 Ziel - Ziel dieses Abkommens zu Gunsten der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und der Schweiz ist Folgendes:
a  Einräumung eines Rechts auf Einreise, Aufenthalt, Zugang zu einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit und Niederlassung als Selbstständiger sowie des Rechts auf Verbleib im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien;
b  Erleichterung der Erbringung von Dienstleistungen im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien, insbesondere Liberalisierung kurzzeitiger Dienstleistungen;
c  Einräumung eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien für Personen, die im Aufnahmestaat keine Erwerbstätigkeit ausüben;
d  Einräumung der gleichen Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen wie für Inländer.
des auf der Grundlage von Art. 8
IR 0.142.112.681 Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (mit Anhängen, Prot. und Schlussakte)
FZA Art. 8 Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit - Die Vertragsparteien regeln die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit gemäss Anhang II, um insbesondere Folgendes zu gewährleisten:
a  Gleichbehandlung;
b  Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften;
c  Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften berücksichtigten Versicherungszeiten für den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs sowie für die Berechnung der Leistungen;
d  Zahlung der Leistungen an Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien haben;
e  Amtshilfe und Zusammenarbeit der Behörden und Einrichtungen.
FZA ausgearbeiteten und Bestandteil des Abkommens bildenden (Art. 15
IR 0.142.112.681 Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (mit Anhängen, Prot. und Schlussakte)
FZA Art. 15 Anhänge und Protokolle - Die Anhänge und Protokolle sind Bestandteile dieses Abkommens. Die Erklärungen sind in der Schlussakte enthalten.
FZA) Anhangs II "Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit" FZA in Verbindung mit Abschnitt A dieses Anhangs wenden die Vertragsparteien untereinander insbesondere die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (SR 0.831.109.268.1; nachfolgend: Verordnung Nr. 1408/71), und die Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der
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Verordnung Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (SR 0.831.109.268.11; nachfolgend: Verordnung Nr. 574/72), oder gleichwertige Vorschriften an.
2.2.3 Nach Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 574/72 können Bescheide oder sonstige Schriftstücke eines Trägers eines Mitgliedstaats, die für eine im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnende oder sich dort aufhaltende Person bestimmt sind, dieser unmittelbar mittels Einschreiben mit Rückschein zugestellt werden. Gerichte sind jedoch keine Träger im Sinne der Koordinierungsverordnungen (SVR 2006 KV Nr. 6 S. 14, K 44/03 E. 2.5 mit Hinweis). Ebenso wenig fallen Gerichte unter den Begriff der Behörde im Sinne von Art. 84 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 (Verfügung des Eidg. Versicherungsgerichts K 18/04 vom 18. Juli 2006 E. 2.1.2). Die Verordnungen Nr. 1408/71 und Nr. 574/72 enthalten demnach keine Vorschrift, die eine direkte postalische Zustellung gerichtlicher Schriftstücke an in einem anderem Mitgliedstaat wohnende Personen vorsieht (anderer Meinung: LAURENT MERZ, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2008, N. 45 zu Art. 40
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 40 Parteivertreter und -vertreterinnen - 1 In Zivil- und Strafsachen können Parteien vor Bundesgericht nur von Anwälten und Anwältinnen vertreten werden, die nach dem Anwaltsgesetz vom 23. Juni 200013 oder nach einem Staatsvertrag berechtigt sind, Parteien vor schweizerischen Gerichtsbehörden zu vertreten.
1    In Zivil- und Strafsachen können Parteien vor Bundesgericht nur von Anwälten und Anwältinnen vertreten werden, die nach dem Anwaltsgesetz vom 23. Juni 200013 oder nach einem Staatsvertrag berechtigt sind, Parteien vor schweizerischen Gerichtsbehörden zu vertreten.
2    Die Parteivertreter und -vertreterinnen haben sich durch eine Vollmacht auszuweisen.
BGG). Auch den übrigen Bestandteilen des FZA ist keine Bestimmung zu entnehmen, die der Schweiz eine direkte postalische Zustellung gerichtlicher Schriftstücke an eine im Ausland wohnende Person gestatten würde (zitierte Verfügung K 18/04 E. 2.1.3).
2.2.4 Die Koordinationsverordnungen bezwecken, bestimmte Hindernisse sachlicher und verwaltungstechnischer Art zu beseitigen, welche die Arbeitnehmer davon abhalten könnten, zwischen den Mitgliedstaaten zu wechseln (Urteil des EuGH vom 18. Februar 1975 66/74 Farrauto gegen Bau-Berufsgenossenschaft, Slg. 1975 S. 157 Randnr. 4). Eine direkte Zustellung von Gerichtsentscheiden per Post stellt eine Vereinfachung und Beschleunigung des üblichen Verfahrensablaufes dar. Im Hinblick auf die europäische Integration ist eine solche Handhabung den Förmlichkeiten grundsätzlich vorzuziehen, auf die herkömmlicherweise für die Zustellung von Entscheidungen im Ausland zurückgegriffen wird (zit. Urteil 66/74, ebd.). Es ist daher nicht davon auszugehen, dass der Verordnungsgeber durch das Nicht-Erwähnen einer direkten postalischen Zustellung durch Gerichte den Mitgliedstaaten verbieten wollte, eine solche zu dulden (vgl. auch LOTHAR FRANK, Die Zustellung im Ausland, in: Sozialgerichtsbarkeit 4/1988 S. 142 ff., 146). Die Frage, ob
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Gerichte eine solche direkte postalische Zustellung vornehmen dürfen, ist vielmehr in den Koordinationsverordnungen weder positiv noch negativ geregelt.
2.2.5 Ist die Frage der direkten postalischen Zustellung von Gerichtsentscheiden ein Sachgebiet, welches durch das FZA keine Regelung erfahren hat, so hindert Art. 20
IR 0.142.112.681 Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (mit Anhängen, Prot. und Schlussakte)
FZA Art. 20 Beziehung zu bilateralen Abkommen über die soziale Sicherheit - Sofern in Anhang II nichts Gegenteiliges bestimmt ist, werden die bilateralen Abkommen über die soziale Sicherheit zwischen der Schweiz und den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft mit Inkrafttreten dieses Abkommens insoweit ausgesetzt, als in diesem Abkommen derselbe Sachbereich geregelt wird.
FZA nicht, Art. 32 des Abkommens mit Deutschland weiter anzuwenden (so auch JEAN-MAURICE FRÉSARD, in: Commentaire de la LTF, 2009, N. 20 zu Art. 49
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 49 Mangelhafte Eröffnung - Aus mangelhafter Eröffnung, insbesondere wegen unrichtiger oder unvollständiger Rechtsmittelbelehrung oder wegen Fehlens einer vorgeschriebenen Rechtsmittelbelehrung, dürfen den Parteien keine Nachteile erwachsen.
BGG; vgl. im Weiteren LUSTENBERGER/SPIRA, Das Verfahren in zwischenstaatlichen Fällen gemäss Abkommen, in: Das Personenverkehrsabkommen mit der EU und seine Auswirkungen auf die soziale Sicherheit der Schweiz, 2001, S. 75 und 89).
2.3 Demnach war die direkte Zustellung des Entscheides gestützt auf Art. 32 des Abkommens mit Deutschland zulässig.