Urteilskopf

110 V 393

64. Auszug aus dem Urteil vom 5. November 1984 i.S. Tschopp gegen Staatliche Arbeitslosenkasse Basel-Stadt und Schiedskommission für Arbeitslosenversicherung des Kantons Basel-Stadt
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Erwägungen ab Seite 393

BGE 110 V 393 S. 393

Aus den Erwägungen:

2. a) Der sechste Abschnitt des Arbeitslosenversicherungsgesetzes ordnet den Vollzug und die Verwaltungsrechtspflege. Art. 54 AlVG insbesondere enthält gewisse Anforderungen, die
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von Bundesrechts wegen im Verfahren vor der kantonalen Rekursbehörde zu beachten sind. Eine dem Art. 85 Abs. 2 lit. h
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 85
AHVG entsprechende Norm, wonach gegen Rekursentscheide die Revision u. a. wegen Entdeckung neuer Tatsachen oder Beweismittel gewährleistet sein muss, kennt das Arbeitslosenversicherungsgesetz nicht (was übrigens auch auf die seit 1. Januar 1984 geltende Ordnung zutrifft; vgl. Art. 103
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 85
AVIG). Anderseits hat das Eidg. Versicherungsgericht in ständiger Rechtsprechung festgehalten, dass der Sozialversicherungsträger (die Verwaltung) verpflichtet ist, auf eine formell rechtskräftige Verfügung zurückzukommen, wenn sich diese aufgrund neuentdeckter Tatsachen oder Beweismittel als unrichtig erweist (BGE BGE 109 V 121 Erw. 2b, BGE 108 V 168 Erw. 2b mit Hinweisen; RKUV 1984 Nr. K 578 S. 110 Erw. 2b). Was den AHV-Bereich anbelangt, hat die Rechtsprechung diesen Grundsatz wesentlich mit dem Hinweis darauf begründet, dass Revisionsgründe, die kraft positivrechtlicher Bestimmung (Art. 85 Abs. 2 lit. h
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 85
AHVG) zur Abänderung materiell rechtskräftiger Urteile in einer bestimmten Rechtsmaterie führen können, geeignet sein müssen, dieselbe Wirkung gegenüber bloss formell rechtskräftigen Verwaltungsakten zu entfalten (EVGE 1963 S. 85 Erw. 1). Der Grundsatz des revisionsweisen Zurückkommens auf Verwaltungsverfügungen ist in diesem Sinne Art. 85 Abs. 2 lit. h
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 85
AHVG und den entsprechenden Bestimmungen in andern Sozialversicherungszweigen (vgl. z.B. Art. 30bis Abs. 3 lit. h
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 85
KUVG, Art. 56 Abs. 1 lit. h
SR 833.1 Bundesgesetz vom 19. Juni 1992 über die Militärversicherung (MVG)
MVG Art. 56 Zusammentreffen von Hinterlassenenrenten - 1 Die Hinterlassenenrenten werden gleichmässig herabgesetzt, wenn sie zusammen den versicherten Jahresverdienst des Verstorbenen übersteigen.
1    Die Hinterlassenenrenten werden gleichmässig herabgesetzt, wenn sie zusammen den versicherten Jahresverdienst des Verstorbenen übersteigen.
2    Fällt später eine Rentenberechtigung dahin, so erhöhen sich die übrigen Renten gleichmässig bis zum Höchstbetrag.
MVG), welche die Revision von Rekursentscheiden betreffen, nachgebildet (BGE 110 V 178 Erw. 2a). Diese Betrachtungsweise kann indessen bei der Frage, ob die Kantone von Bundesrechts wegen verpflichtet sind, wegen neu entdeckter Tatsachen oder Beweismittel die Revision gegen Rekursentscheide auf dem Gebiete der Arbeitslosenversicherung zuzulassen, nicht uneingeschränkt zur Anwendung gelangen. Denn aus dem bundesrechtlichen Grundsatz des revisionsweisen Zurückkommens auf Verfügungen des Sozialversicherers folgt nicht ohne weiteres, dass auch Entscheide der kantonalen Rekursbehörden unter den genannten Voraussetzungen der Revision unterliegen, kommt doch den Urteilen (verwaltungsexterner) Justizbehörden nach unbestrittener Auffassung gegenüber Verwaltungsverfügungen eine höhere Rechtsbeständigkeit zu (vgl. IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 5. Aufl., Bd. I, S. 254; vgl. auch BGE 109 Ia 105 Erw. 2 mit Hinweisen). Dessenungeachtet hat das Eidg. Versicherungsgericht
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die Revision kantonaler Rekursentscheide wegen neu entdeckter Tatsachen oder Beweismittel als ungeschriebenen Grundsatz des Bundessozialversicherungsrechts anerkannt und daher auch in Gebieten zur Anwendung gebracht, in denen keine spezielle Bundesrechtsnorm eine solche Revision vorsieht. Dies hat das Gericht für die bis Ende 1983 in Kraft gewesene unfallversicherungsrechtliche Ordnung (nicht veröffentlichtes Urteil Rüegg vom 21. Dezember 1979) und das Arbeitslosenversicherungsrecht (nicht veröffentlichtes Urteil Bettschen vom 6. April 1984) festgehalten. Die Schiedskommission hat im vorliegend angefochtenen Entscheid dieser Rechtslage Rechnung getragen, indem sie den herangezogenen § 246 Ziff. 2 der baselstädtischen Zivilprozessordnung im Sinne der dargelegten bundesrechtlichen Revisionsgrundsätze auslegte und anwendete. b) Dem kantonalen Recht überlassen ist dagegen die Frist, innert der das Revisionsgesuch einzureichen ist. Mit kantonalem Recht hat sich das Eidg. Versicherungsgericht grundsätzlich nicht zu befassen. Das Gericht hat nur zu prüfen, ob die Auslegung oder Anwendung des kantonalen Rechts zu einer Verletzung von Bundesrecht im Sinne von Art. 104 lit. a
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 85
OG, der auch den Beschwerdegrund einer Verletzung verfassungsmässiger Rechte umfasst (GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 288), geführt hat. Das für die baselstädtische Schiedskommission geltende Geschäftsreglement vom 15. März 1983 sieht bezüglich der Frist - wie auch im Hinblick auf die vorliegend massgeblichen Revisionsgründe als solche - keine Regelung vor. Die Schiedskommission hat - lückenfüllend - § 247 der Zivilprozessordnung herangezogen, wonach das Revisionsgesuch innerhalb der Frist eines Monats seit dem Tage einzureichen ist, an welchem vom neuentdeckten Beweismittel Gebrauch gemacht werden konnte. In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird diese Auslegung des kantonalen Rechts beanstandet und ausgeführt, "dass eine Anlehnung an Art. 66
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 66
1    Die Beschwerdeinstanz zieht ihren Entscheid von Amtes wegen oder auf Begehren einer Partei in Revision, wenn ihn ein Verbrechen oder Vergehen beeinflusst hat.
2    Ausserdem zieht sie ihn auf Begehren einer Partei in Revision, wenn:
a  die Partei neue erhebliche Tatsachen oder Beweismittel vorbringt;
b  die Partei nachweist, dass die Beschwerdeinstanz aktenkundige erhebliche Tatsachen oder bestimmte Begehren übersehen hat;
c  die Partei nachweist, dass die Beschwerdeinstanz die Bestimmungen der Artikel 10, 59 oder 76 über den Ausstand, der Artikel 26-28 über die Akteneinsicht oder der Artikel 29-33 über das rechtliche Gehör verletzt hat; oder
d  der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem endgültigen Urteil festgestellt hat, dass die Konvention vom 4. November 1950120 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, oder den Fall durch eine gütliche Einigung (Art. 39 EMRK) abgeschlossen hat, sofern eine Entschädigung nicht geeignet ist, die Folgen der Verletzung auszugleichen, und die Revision notwendig ist, um die Verletzung zu beseitigen.
3    Gründe im Sinne von Absatz 2 Buchstaben a-c gelten nicht als Revisionsgründe, wenn die Partei sie im Rahmen des Verfahrens, das dem Beschwerdeentscheid voranging, oder auf dem Wege einer Beschwerde, die ihr gegen den Beschwerdeentscheid zustand, geltend machen konnte.
VwVG dem Sachgebiet wohl angemessener wäre". Indessen vermag die Beschwerdeführerin in keiner Weise darzutun, dass die Lösung der Schiedskommission willkürlich ist. Vielmehr kann ihre Auffassung mit guten Gründen vertreten werden. Daran ändert nichts, dass Art. 67 Abs. 1
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 67
1    Das Revisionsbegehren ist der Beschwerdeinstanz innert 90 Tagen nach Entdeckung des Revisionsgrundes, spätestens aber innert 10 Jahren nach Eröffnung des Beschwerdeentscheides schriftlich einzureichen.121
1bis    Im Fall von Artikel 66 Absatz 2 Buchstabe d ist das Revisionsbegehren innert 90 Tagen einzureichen, nachdem das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nach Artikel 44 der Europäischen Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950122 endgültig geworden ist.123
2    Nach Ablauf von 10 Jahren seit Eröffnung des Beschwerdeentscheides ist ein Revisionsbegehren nur aus dem Grunde von Artikel 66 Absatz 1 zulässig.
3    Auf Inhalt, Form, Verbesserung und Ergänzung des Revisionsbegehrens finden die Artikel 52 und 53 Anwendung; die Begründung hat insbesondere den Revisionsgrund und die Rechtzeitigkeit des Revisionsbegehrens darzutun. Dieses hat auch die Begehren für den Fall eines neuen Beschwerdeentscheides zu enthalten.
VwVG (wie im übrigen auch Art. 141 Abs. 1 lit. b
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 67
1    Das Revisionsbegehren ist der Beschwerdeinstanz innert 90 Tagen nach Entdeckung des Revisionsgrundes, spätestens aber innert 10 Jahren nach Eröffnung des Beschwerdeentscheides schriftlich einzureichen.121
1bis    Im Fall von Artikel 66 Absatz 2 Buchstabe d ist das Revisionsbegehren innert 90 Tagen einzureichen, nachdem das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nach Artikel 44 der Europäischen Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950122 endgültig geworden ist.123
2    Nach Ablauf von 10 Jahren seit Eröffnung des Beschwerdeentscheides ist ein Revisionsbegehren nur aus dem Grunde von Artikel 66 Absatz 1 zulässig.
3    Auf Inhalt, Form, Verbesserung und Ergänzung des Revisionsbegehrens finden die Artikel 52 und 53 Anwendung; die Begründung hat insbesondere den Revisionsgrund und die Rechtzeitigkeit des Revisionsbegehrens darzutun. Dieses hat auch die Begehren für den Fall eines neuen Beschwerdeentscheides zu enthalten.
OG) in bundesrechtlichen Revisionsfällen wie dem vorliegenden eine 90tägige Frist vorsieht. Hierin liegt kein
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ungeschriebener Grundsatz des Bundesrechts, welchen die Kantone auch für ihre Verfahren zu beachten hätten. Zusammenfassend ergibt sich, dass die Rechtsauffassung der Schiedskommission, wonach Revisionsgesuche gegen ihre Entscheide innert Monatsfrist seit Entdeckung des neuen Beweismittels oder der neuen Tatsache einzureichen sind, weder willkürlich noch sonstwie bundesrechtswidrig (Art. 104 lit. a
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 85
OG) ist.