Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C 199/2010

Urteil vom 30. Juni 2010
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Eusebio,
Gerichtsschreiber Störi.

Verfahrensbeteiligte
Stockwerkeigentümergemeinschaft A.________,
bestehend aus den Miteigentümern:
1. B.________ und C.________,
2. D.________,
3. Ehepaar E.________,
4. Erbengemeinschaft F.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. Vincent Augustin,

gegen

Ehepaar G.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Erich Vogel,

Gemeinde Felsberg, Schulstrasse 1, Postfach,
7012 Felsberg, vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. Peter-Curdin Conrad.

Gegenstand
Baueinsprache,

Beschwerde gegen das Urteil vom 9. Februar 2010 des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden,
5. Kammer.

Sachverhalt:

A.
Am 4. August 2009 reichten Eheleute G.________ ein Baugesuch für den Abbruch eines Stalles und den Neubau eines Einfamilienhauses auf den Parzellen Nr. 1608 und 498 in der Dorfkernzone Altdorf von Felsberg ein. Das Projekt hält zur östlich angrenzenden, mit einem Mehrfamilienhaus der Stockwerkeigentümergemeinschaft A.________ (bestehend aus B.________ und C.________, D.________, Eheleute E.________ sowie der Erbengemeinschaft F.________; im Folgenden: Stockwerkeigentümergemeinschaft) überbauten Parzelle Nr. 1423 einen Grenzabstand von 2.5 m ein. Da dieses Mehrfamilienhaus auf die Grenze gebaut ist, beträgt auch der Gebäudeabstand 2.5 m. Die Stockwerkeigentümergemeinschaft reichte gegen das Bauprojekt Einsprache ein, im Wesentlichen mit der Begründung, der Gebäudeabstand von 5.0 m sei verletzt, wodurch ihnen negative Einwirkungen wie Entzug von Licht, Sonne und Aussicht entstünden.

Am 8. September 2009 bewilligte die Baukommission Felsberg das Baugesuch und wies die Einsprache ab.

Am 2. November 2009 wies der Gemeindevorstand Felsberg die Beschwerde der Stockwerkeigentümergemeinschaft gegen die Baubewilligung ab.

Am 9. Februar 2010 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden die Beschwerde der Stockwerkeigentümergemeinschaft gegen den Entscheid des Gemeindevorstands ab.

B.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Stockwerkeigentümergemeinschaft, dieses verwaltungsgerichtliche Urteil aufzuheben und die Baubewilligung zu verweigern. Sie ersucht, der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen und das kantonale Departement für Volkswirtschaft und Soziales zur schriftlichen Stellungnahme beizuladen.

C.
Am 20. Mai 2010 erkannte der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts der Beschwerde aufschiebende Wirkung zu.

D.
Das Verwaltungsgericht und die Gemeinde Felsberg sowie Eheleute G.________ beantragen in ihren Vernehmlassungen, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
Unaufgefordert nimmt die Stockwerkeigentümergemeinschaft Stellung dazu.

Erwägungen:

1.
Gegen den angefochtenen, kantonal letztinstanzlichen Entscheid über eine Baubewilligung steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten offen (Art. 82 ff . BGG). Die Beschwerdeführer haben am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen, verfügen als unmittelbare Nachbarn über eine spezifische Beziehungsnähe zur Streitsache und könnten aus der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids einen praktischen Nutzen ziehen, z.B. wenn das Bauprojekt verhindert würde; sie sind damit zur Beschwerde befugt (Art. 89 Abs. 1 BGG). Die vorgebrachten Rügen - der angefochtene Entscheid wende kantonales Recht in willkürlicher und damit bundesrechtswidriger Weise an und verletze das Legalitätsprinzip (Art. 5 Abs. 1 BV, Art. 5 Abs. 1 der Bündner Kantonsverfassung vom 14. September 2003; KV) - sind zulässig (Art. 95 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.2.1). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde einzutreten ist.

2.
Umstritten ist einzig die Auslegung von Art. 75 Abs. 1 und 2 des Raumplanungsgesetzes des Kantons Graubünden vom 6. Dezember 2004 (KRG). Die Bestimmung mit dem Randtitel "Bauabstände 1. Gebäude" lautet:
"1Bei der Erstellung von Gebäuden, die den gewachsenen Boden überragen, ist gegenüber jedem Nachbargrundstück ein Grenzabstand von 2.5 m einzuhalten, sofern das Baugesetz der Gemeinde nicht grössere Grenzabstände vorschreibt.
2Zwischen Gebäuden ist ein Gebäudeabstand von 5.0 m einzuhalten, sofern das Baugesetz der Gemeinde nicht grössere Gebäudeabstände vorschreibt."
Das Baugesetz von Felsberg vom 26. November 2006 schreibt für die Dorfkernzone Altdorf keine grösseren Grenz- oder Gebäudeabstände vor.

2.1 Die Beschwerdeführer haben vor Verwaltungsgericht erfolglos beantragt, beim Juristen für Raumplanung des Departements für Volkswirtschaft und Soziales eine Amtsauskunft zur Auslegung von Art. 75 KRG einzuholen. Den gleichen Antrag stellen sie vor Bundesgericht. Zur Begründung führen sie an, es könnte sich daraus ergeben, dass es die klare Absicht der gesetzesvorbereitenden Instanzen gewesen sei, Art. 75 Abs. 2 KRG als zwingende, auch für das Verhältnis Altbau/Neubau geltende Minimalvorschrift auszugestalten.

Das Verwaltungsgericht ist in seinem Zuständigkeitsbereich die oberste richterliche Behörde des Kantons und damit dazu berufen, das kantonale Baurecht autonom auszulegen und anzuwenden. Es war keineswegs verpflichtet, die Meinung des zuständigen Departementsjuristen zur Auslegung von Art. 75 KRG einzuholen oder ihn zu befragen, ob man bei der Vorbereitung der Gesetzgebungsarbeiten im Departement dazu bestimmte Überlegungen angestellt hat. Selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte, käme ihnen bei der Auslegung von Art. 75 KRG keine massgebliche Bedeutung zu, da sie, was unbestritten ist, nicht in den politischen Gesetzgebungsprozess eingeflossen sind und dementsprechend in den Gesetzgebungsmaterialien keinen Niederschlag gefunden haben. Das Verwaltungsgericht konnte somit den Antrag auf Vorladung des Departementsjuristen ohne Verfassungsverletzung ablehnen, und auch im bundesgerichtlichen Verfahren erübrigt sich aus den gleichen Gründen, von ihm einen Amtsbericht einzuholen.

2.2 Das Verwaltungsgericht (E. 4 S. 9 ff.) hat in der Sache erwogen, das Verhältnis altrechtlicher Bauten gegenüber Neubauten sei, wie früher im kommunalen Baupolizeirecht, auch im KRG nicht geregelt, weder unter den Abstandsvorschriften (Art. 75-78) noch den Übergangsbestimmungen (Art. 108). Die einschlägigen Materialien enthielten keine Hinweise darauf, dass es sich dabei um ein qualifiziertes Schweigens des Gesetzgebers handle. Dementsprechend sei diese Frage mittels Auslegung der nunmehr kantonalen Abstandsvorschriften zu klären. Art. 77 Abs. 1 und 2 KRG liessen die ausnahmsweise Unterschreitung des Gebäudeabstands zu, etwa bei Vorliegen einer Vereinbarung, im Hofstattrecht oder aufgrund von planerischen Vorgaben, woraus sich ergebe, dass der Gesetzgeber den Gebäudeabstand von 5.0 m nicht absolut verstanden habe. Es fänden sich in den Materialien zudem keine Hinweise, dass der Gesetzgeber im Zuge der Einführung der neuen kantonalen Bauvorschriften von Art. 72 ff . KRG von der ihm bekannten, in PVG 1975 Nr. 32 festgehaltenen langjährigen Praxis des Verwaltungsgerichts habe abrücken wollen.
Dieses Urteil habe das kommunale Baupolizeirecht betroffen, welches eine dem KRG vergleichbare Abstandsregelung enthalten habe. Das damalige Baupolizeirecht wie das KRG enthielten keine Regelung, wie zu verfahren sei, wenn auf dem Nachbargrundstück ein lange vor dem Inkrafttreten des geltenden Rechts realisierter Altbau stehe, der den zonengemässen Grenzabstand nicht einhalte und diesbezüglich auch nicht über ein Näherbaurecht verfüge. In dieser Situation komme der allgemein bekannte Grundsatz zur Anwendung, wonach die bauliche Situation desjenigen, der nach Inkrafttreten der Bauordnung baue, durch einen Altbau auf dem Nachbargrundstück aus der Zeit vor Inkrafttreten dieser Bauordnung nicht verschlechtert werden soll, weil der Altbau näher an der Grenze steht, als es nach der neuen Regelung zulässig wäre.

2.3 Die Beschwerdeführer halten dem entgegen, Wortlaut und Sinn von Art. 75 Abs. 1 KRG seien eindeutig und klar, die minimalen Grenz- und Gebäudeabstände von 2.5 bzw. 5.0 m dürften unter Vorbehalt der in Art. 77 KRG geregelten, vorliegend nicht einschlägigen Ausnahmen in keinem Fall und auch nicht unter dem Vorwand der Berücksichtigung irgendwelcher altrechtlicher Aspekte unterschritten werden. Wenn das Verwaltungsgericht folgere, das Gesetz beantworte die sich hier stellende Frage des Gebäudeabstands nicht, so handle es krass willkürlich und halte sich schlicht nicht ans Gesetz; es entziehe sich auf diese Weise der Vorherrschaft des Gesetzes und bringe unzulässigerweise okkasionelles Richterrecht zur Anwendung. Das verstosse gegen das Willkürverbot von Art. 9 BV, den Grundsatz der Vorherrschaft des Gesetzes (Art. 1 Abs. 1 ZGB) sowie das Legalitätsprinzip von Art. 5 Abs. 1 BV und Art. 5 Abs. 1 KV.

3.
3.1 Eine Gesetzesnorm muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihr zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden. Auszurichten ist die Auslegung auf die ratio legis, die zu ermitteln dem Gericht allerdings nicht nach seinen eigenen, subjektiven Wertvorstellungen, sondern nach den Vorgaben des Gesetz- bzw. Verfassungsgebers aufgegeben ist (BGE 131 I 74 E. 4.1; eingehend zur Auslegungsmethodik: BGE 128 I 34 E. 3a). Vorliegend ist somit zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht die Art. 75 ff . KRG in haltbarer Weise ausgelegt hat. Diesfalls ist sowohl der Vorwurf unbegründet, es habe gegen das Willkürverbot von Art. 9 BV verstossen, als auch die Rüge, es habe sich über das Gesetz hinweggesetzt und so das Rechtmässigkeitsprinzip von Art. 5 Abs. 1 BV bzw. Art. 5 Abs. 1 KV verletzt.

3.2 Wortlaut und -sinn von Art. 75 Abs. 1 und 2 KRG sind klar, der (minimale) Gebäudeabstand entspricht dem doppelten Grenzabstand, den die Bauten auf benachbarten Parzellen einhalten müssen. Diese Regelung ist ohne Weiteres sachgerecht und billig, da die Überbaubarkeit aller Parzellen durch diese Abstandsvorschriften in gleicher Weise eingeschränkt wird. Ihre Anwendung auf die Fälle, in denen eine altrechtliche Baute den (gegenüber dem damaligen Recht erhöhten neurechtlichen) Grenzabstand unterschreitet oder wie hier, auf die Grenze gebaut ist mit der Folge, dass die Einhaltung des ganzen (neurechtlichen) Gebäudeabstands einseitig zulasten der Nachbarparzelle erfolgen würde, wäre indessen, wie das Verwaltungsgericht zu Recht feststellt, stossend. Dadurch würde der bauwillige Nachbar doppelt bestraft, indem er einmal den auf die Grenze gestellten, baurechtswidrig gewordenen Altbau weiterhin dulden und seinerseits den doppelten Grenzabstand und damit den ganzen Gebäudeabstand einseitig zulasten seiner Parzelle einhalten müsste. Diese Bevorteilung des Eigentümers der altrechtlichen Baute erweist sich als derart fragwürdig, dass die Folgerung des Verwaltungsgerichts, dies könne nicht der Regelungsabsicht des Gesetzgebers entsprechen,
ohne Weiteres haltbar erscheint.

Das Bündner Verwaltungsgericht steht mit dieser Einschätzung übrigens keineswegs allein, in anderen Kantonen mit vergleichbaren gesetzlichen Grundlagen behandelt die Rechtsprechung die Fälle, in denen ein Bauprojekt auf einen benachbarten Altbau trifft, der die Grenzabstände nicht einhält, in gleicher Weise (vgl. Erich Zimmerlin, (altes) Baugesetz des Kantons Aargau, 2. A. 1985, N. 9 zu §§ 163-65, mit Hinweis auch auf einen Berner Fall). Dazu kommt, dass diese jahrzehntealte Praxis des Bündner Verwaltungsgerichts dem Gesetzgeber bekannt gewesen sein musste, als er die neuen Vorschriften von Art. 72 ff . KRG erliess, und möglicherweise gerade deshalb keinen Anlass sah, sie ins gesetzte Recht zu überführen. Auf jeden Fall ergibt sich aus den Materialien nach der unbestrittenen Darstellung des Verwaltungsgerichts kein Hinweis darauf, dass man diese Praxis im Sinne eines qualifizierten Schweigens für die Herrschaft des KRG hätte ausschliessen wollen. Zusammenfassend erweist es sich damit als vertretbar, die Art. 72 ff . KRG dahingehend auszulegen, dass sie keine Regelung für die umstrittenen übergangsrechtlichen Fälle enthalten und die Art. 75 Abs. 1 und 2 KRG insoweit auslegungsbedürftig sind. Die vom Verwaltungsgericht getroffene, auf
langjähriger Praxis beruhende Lösung ist zudem sachgerecht und keineswegs willkürlich. Die Rüge ist unbegründet.

4.
Die Beschwerde ist somit abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens werden die Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ausserdem haben sie den Beschwerdegegnern eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden der Stockwerkeigentümergemeinschaft A.________ auferlegt.

3.
Die Mitglieder der Stockwerkeigentümergemeinschaft A.________, 1. B.________ und C.________, 2. D.________, 3. Eheleute E.________ und 4. die Erbengemeinschaft F.________ haben den Beschwerdegegnern für das bundesgerichtliche Verfahren unter solidarischer Haftung eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Gemeinde Felsberg und dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, 5. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 30. Juni 2010
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Störi