Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas

Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts

Prozess
{T 7}
U 172/00

Urteil vom 27. August 2002
IV. Kammer

Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber Attinger

Parteien
H.________, 1952, Beschwerdeführerin, vertreten durch Advokat Dominik Zehntner, Spalenberg 20, 4051 Basel,

gegen

Zürich Versicherungs-Gesellschaft, Alfred-Escher-Strasse 50, 8022 Zürich, Beschwerdegegnerin

Vorinstanz
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 29. März 2000)

Sachverhalt:
A.
Die 1952 geborene H.________ war seit 1980 bei der Einwohnergemeinde X.________ als Busfahrerin angestellt und bei der Zürich Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: "Zürich") obligatorisch gegen Unfälle versichert. Am 15. Dezember 1994 wurde sie als Lenkerin eines Schulbusses in eine Auffahrkollision verwickelt, als ihr beim Linksabbiegen zum Stehen gebrachter Kleinbus vom Fahrzeug eines andern Verkehrsteilnehmers von hinten gerammt wurde. Während die im Schulbus mitfahrenden Kinder unverletzt blieben, musste die Versicherte wegen der noch am Unfalltag einsetzenden Kopf- und Nackenschmerzen am 16. Dezember 1994 ihren Hausarzt Dr. P._______ aufsuchen, welcher ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule (HWS) diagnostizierte (Arztzeugnis vom 20. Dezember 1994). In der Folge richtete die "Zürich" der vollständig arbeitsunfähigen H.________ Taggelder aus und übernahm die Heilbehandlung, so auch die stationären Aufenthalte in der Rheuma- und Rehabilitationsklinik Y._______ (vom 22. Juni bis 20. Juli 1995) und in der Rehaklinik Z._______ (vom 27. März bis 22. Mai 1996 sowie vom 20. August bis 2. Oktober 1997). Mit Verfügung vom 20. November 1997 - bestätigt mit undatiertem, am 7. April 1998 versandtem Einspracheentscheid - stellte die
"Zürich" ihre Leistungen auf den 30. November 1997 hin ein, weil der adäquate Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den noch vorhandenen gesundheitlichen Beschwerden verneint werden müsse.
B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 29. März 2000 ab.
C.
H.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag auf Weiterausrichtung der gesetzlichen Leistungen (namentlich Heilbehandlung und Taggelder, allenfalls Invalidenrente und Integritätsentschädigung) über Ende November 1997 hinaus.

Die "Zürich" schliesst auf Abweisung, während das Bundesamt für Sozialversicherung und die als Mitinteressierte beigeladene Wincare Versicherungen auf eine Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde verzichten.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
In formellrechtlicher Hinsicht beantragt die "Zürich" in ihrer Eingabe vom 16. Juni 2000, die seitens der Beschwerdeführerin nachgereichte "Urteilskommentierung" des behandelnden Psychiaters und Psychotherapeuten Dr. M._______ vom 29. Mai 2000 sei aus dem Recht zu weisen, weil diese erst nach Ablauf der Verwaltungsgerichtsbeschwerdefrist und nach Erstattung der Vernehmlassung des Unfallversicherers eingereicht worden sei. Wie es sich bezüglich dieser Einwendung verhält (vgl. BGE 127 V 353), kann offen bleiben, weil der erwähnten ärztlichen Stellungnahme in keinem Fall entscheidwesentliche Bedeutung beizumessen ist.
2.
Unter sämtlichen Verfahrensbeteiligten ist zu Recht unbestritten, dass vorliegend der für die Leistungspflicht des Unfallversicherers zunächst vorausgesetzte na türliche Kausalzusammenhang (BGE 119 V 337 Erw. 1, 118 V 289 Erw. 1b, je mit Hinweisen) zwischen dem am 15. Dezember 1994 erlittenen Verkehrsunfall und den über den 30. November 1997 hinaus anhaltenden Beschwerden (u.a. dauernde Kopf-/Nacken- und Schultergürtelschmerzen, Schwindel, neuropsychologische Defizite, rezidivierende Übelkeit, Schlafstörungen, rasche Ermüdbarkeit, Visusstörungen, schwere depressive Entwicklung mit Suizidalität) gegeben ist.

Die Vorinstanz hat sodann im angefochtenen Entscheid die Rechtsprechung zum für die Leistungspflicht des Unfallversicherers weiter vorausgesetzten adäquaten Kausalzusammenhang zwischen einem Unfall mit Schleudertrauma der HWS ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle und den hernach andauernden Beschwerden mit Einschränkung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit (BGE 117 V 359) zutreffend wiedergegeben. Das kantonale Gericht hat überdies richtig dargelegt, dass die Beurteilung der Adäquanz in denjenigen Fällen, in welchen die zum typischen Beschwerdebild eines Schleudertraumas der HWS gehörenden Beeinträchtigungen zwar teilweise gegeben sind, im Vergleich zur vorliegenden ausgeprägten psychischen Problematik aber ganz in den Hintergrund treten, nach der für psychische Fehlentwicklungen nach Unfällen geltenden Rechtsprechung (BGE 115 V 133) vorzunehmen ist (BGE 123 V 99 Erw. 2a mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen.
3.
3.1 Der Rechtsprechung gemäss BGE 123 V 99 Erw. 2a liegt der Sachverhalt zu Grunde, dass sehr bald nach einem Unfall mit Schleudertrauma der HWS oder äquivalenten Verletzungen, gleichsam an diesen anschliessend, die psychische Problematik derart überwiegt, dass die mit dem Schleudertrauma einhergehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen (buntes Beschwerdebild) völlig in den Hintergrund treten. Mit andern Worten muss die psychische Problematik un mittelbar nach dem Unfall eindeutige Dominanz aufweisen, damit anstelle von BGE 117 V 359 die zur Adäquanz bei Unfällen mit anschliessend einsetzender psychischer Fehlentwicklung geltende Rechtsprechung Anwendung findet. Würde auf das Erfordernis eines nahen zeitlichen Zusammenhangs zwischen Unfall und überwiegender psychischer Problematik verzichtet, hätte dies zur Folge, dass der adäquate Kausalzusammenhang bei den meisten Versicherten, die ein Schleu dertrauma der HWS oder eine äquivalente Verletzung erlitten haben und im Zusammenhang mit diesem Unfall auch an psychogenen Beschwerden leiden, nach BGE 115 V 133 zu beurteilen wäre. Denn bei Opfern eines Schleudertraumas der HWS, bei welchen keine organischen Befunde vorliegen, steht mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Unfall immer
häufiger die psychische Problematik im Vordergrund. Damit würde jedoch die Rechtsprechung zum adäquaten Kausalzusammenhang bei Schleudertraumen der HWS ohne organisch nachweisbare Befunde (BGE 117 V 359) unterlaufen, für deren Anwendung eben gerade nicht entscheidend ist, ob Beschwerden medizinisch eher als organischer und/oder psychischer Natur bezeichnet werden (zum Ganzen: Urteil W. vom 18. Juni 2002, U 164/01).
3.2 Soll die Rechtsprechung gemäss BGE 123 V 99 Erw. 2a auch in einem späteren Zeitpunkt angewendet werden, ist die Frage, ob die psychische Problematik die übrigen Beschwerden nach einem Unfall mit Schleudertrauma der HWS ganz in den Hintergrund treten lässt, nicht auf Grund einer Momentaufnahme zu entscheiden. So ist es nicht zulässig, längere Zeit nach einem solchen Unfall, wenn die zum typischen Beschwerdebild gehörenden physischen Beschwerden weitgehend abgeklungen sind, die psychische Problematik aber fortbesteht, diese fortan nach der Rechtsprechung zu den psychischen Unfallfolgen zu beurteilen, während sie in einem früheren Stadium, als das typische Beschwerdebild noch ausgeprägt war, nach der Schleudertrauma-Praxis beurteilt worden wäre. Vielmehr ist in einem solchen Fall zu prüfen, ob im Verlaufe der ganzen Entwicklung vom Unfall bis zum Beurteilungszeitpunkt die physischen Beschwerden gesamthaft nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt haben und damit ganz in den Hintergrund getreten sind. Nur wenn dies zutrifft, ist die Adäquanz nach der Rechtsprechung zu den psychischen Unfallfolgen (BGE 115 V 133) zu beurteilen (Urteil W. vom 18. Juni 2002, U 164/01).
4.
4.1 Die "Zürich" und das kantonale Gericht haben die Adäquanz anhand der Rechtsprechung zu den psychischen Unfallfolgen geprüft. Im angefochtenen Entscheid wurde diesbezüglich ausgeführt, die bei der Beschwerdeführerin nach dem Schleudertrauma der HWS aufgetretenen, für eine solche Verletzung typischen Beschwerden hätten sich schon bald durchwegs therapieresistent gezeigt und bereits in den Berichten der Rheuma- und Rehabilitationsklinik Y._______ vom 31. Juli 1995 sowie des Hausarztes Dr. P._______ vom 11. August 1995 sei (u.a.) eine (schwere) reaktive Depression diagnostiziert worden. In der Folge sei die Beschwerdeführerin denn auch insbesondere auf psychotherapeutischer Ebene weiterbehandelt worden, während die somatischen Folgen des Unfalls weitgehend in den Hintergrund getreten seien. Entsprechend den erwähnten ärztlichen Berichten sei davon auszugehen, dass das nach dem Unfall durch die Schleuderverletzung geprägte Beschwerdebild bereits nach einigen Monaten in eine psychische Überlagerung umgeschlagen habe, welche schliesslich eindeutige Dominanz aufgewiesen habe. Unter diesen Umständen sei die Adäquanz des Kausalzusammenhangs nicht auf Grund der Kriterien, wie sie für Schleudertraumen der HWS entwickelt wurden, sondern
unter dem Ge sichtspunkt einer psychischen Fehlentwicklung zu prüfen.
4.2 Der vorinstanzlichen Betrachtungsweise kann nicht gefolgt werden. Abgesehen davon, dass eine Depression rechtsprechungsgemäss ebenfalls zum typischen ("bunten") Beschwerdebild eines Schleudertraumas der HWS zu zählen ist (BGE 117 V 360 Erw. 4b), wurde dieses Leiden bei der Beschwerdeführerin erst rund ein halbes Jahr nach dem versicherten Unfall vom 15. Dezember 1994 erstmals diagnostiziert, somit nicht "unmittelbar" nach diesem Ereignis im Sinne der unter Erw. 3.1 hievor dargelegten Rechtsprechung. Von einer eindeutigen Dominanz der psychischen Problematik gegenüber den übrigen Beschwerden kann ebenfalls nicht die Rede sein. Wenn im Bericht der Rheuma- und Rehabilitationsklinik Y._______ vom 31. Juli 1995 ausgeführt wurde, die Ungewissheit, ob die bisherige Erwerbstätigkeit wieder aufgenommen werden könne, trage nebst der Schmerzsymptomatik ebenfalls zur Verstärkung der Depression bei, kommt das bei der Versicherten (damals) nach wie vor bestehende, vielschichtige somatisch-psychische Beschwerdebild, welches einer Differenzierung an sich kaum zugänglich ist, deutlich zum Ausdruck.

Die (eher) somatischen Beeinträchtigungen spielten denn auch im Vergleich zur psychischen Problematik zu keinem Zeitpunkt eine völlig untergeordnete Rolle. So besuchte die Beschwerdeführerin während ihres vom 22. Juni bis 20. Juli 1995 dauernden Aufenthaltes in der Rheuma- und Rehabilitationsklinik Y._______ lediglich vier Gesprächstherapie-Sitzungen bei einem Psychologen; der weit überwiegende Teil des Klinikaufenthaltes war der intensiven Physiotherapie gewidmet. Auch in der Folge unterzog sich die Versicherte neben der regelmässigen ambulanten Psychotherapie immer wieder ausgedehnten physikalischen Behandlungen, die sich in erster Linie gegen die schmerzbedingten Bewegungseinschränkungen der HWS richteten. Vom 27. März bis 22. Mai 1996 sowie vom 20. August bis 2. Oktober 1997 absolvierte sie in der Rehaklinik Z._______ interdisziplinäre Therapieprogramme, welche einerseits aus Physiotherapie mit Schwergewicht Entspannung der hypertonen Nackenmuskulatur und Haltungsschulung sowie analgesierenden physikalischen Therapien bestanden und anderseits psychotherapeutische Gespräche zur Verbesserung der Schmerzverarbeitung und zur Entwicklung von Coping-Strategien umfassten (Klinikberichte vom 19. April und 17. Juni 1996 sowie 12.
September 1997). Anlässlich der erstgenannten Hospitalisation wurde überdies ein kognitives Aufbautraining durchgeführt. Unter diesen Umständen lässt sich die vom kantonalen Gericht sinngemäss vertretene Auffassung nicht halten, wonach sich die weitere medizinische Behandlung im Anschluss an die im Sommer 1995 erfolgte Diagnose einer schweren reaktiven Depression zur Hauptsache auf dieses psychische Leiden beschränkt habe. Kann demnach auch mit Blick auf den gesamten Entwicklungsverlauf vom Unfall bis zum Einspracheentscheid vom April 1998 keineswegs von einem gänzlichen In-den-Hintergrund-Treten der physischen Beschwerden im Sinne von Erw. 3.2 hievor gesprochen werden, ist die Adäquanzbeurteilung anhand der in BGE 117 V 359 entwickelten Grundsätze vorzunehmen.
5.
Die Änderung der Beurteilungskriterien gegenüber den im angefochtenen Entscheid herangezogenen wirkt sich insofern aus, als vorliegend bei dem im unteren Bereich der mittelschweren Unfälle liegenden Ereignis vom 15. Dezember 1994 eine Differenzierung zwischen physischen und psychischen Komponenten der unfallbezogenen Merkmale entfällt (BGE 117 V 367 Erw. 6a in fine). Die vorinstanzliche (unter dem engeren Blickwinkel gemäss BGE 115 V 133 erfolgte) Bejahung der Kriterien des schwierigen Heilungsverlaufs und der Dauerbeschwerden erweist sich als rechtens. Ferner ist, weil hier eben nicht zwischen organischen und psychischen Beschwerden unterschieden werden darf, klarerweise auch eine ungewöhnlich lange Dauer der ärztlichen Behandlung anzunehmen, musste diese doch über den Zeitpunkt des Einspracheentscheids hinaus, d.h. länger als drei Jahre nach dem Unfallereignis, weitergeführt werden. Schliesslich ist das unfallbezogene Kriterium einer langen und erheblichen Ar beitsunfähigkeit ebenfalls zu bejahen, ist doch - abgesehen von den kurzen Zeiträumen stets misslungener Arbeitsversuche - von einer vollständigen Leistungseinbusse auszugehen.
Sind somit die zu berücksichtigenden unfallbezogenen Merkmale in gehäufter Weise erfüllt, kommt dem Unfallereignis vom 15. Dezember 1994 praxisgemäss massgebende Bedeutung für die über Ende November 1997 hinaus andauernden Beschwerden mit Einschränkung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit zu. Entgegen der Auffassung von "Zürich" und Vorinstanz ist demnach die Adäquanz des Kausalzusammenhangs zu bejahen mit der Folge, dass die Beschwerdeführerin weiterhin Anspruch auf die gesetzlichen Leistungen hat.
6.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Der obsiegenden, anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin steht eine Parteientschädigung zu Lasten der "Zürich" zu (Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 29. März 2000 und der undatierte, am 7. April 1998 versandte Einspracheentscheid aufgehoben und es wird festgestellt, dass die Zürich Versicherungs-Gesellschaft über Ende November 1997 hinaus weiterhin die gesetzlichen Leistungen zu erbringen hat.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Die Zürich Versicherungs-Gesellschaft hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, dem Bundesamt für Sozialversicherung und der Wincare Versicherungen zugestellt.

Luzern, 27. August 2002

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: