«AZA»
U 124/99 Vr

III. Kammer
Bundesrichter Schön, Spira und Bundesrichterin Widmer; Gerichtsschreiberin Kopp Käch

Urteil vom 22. Mai 2000

in Sachen
H.________, 1948, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Dr. R.________,
gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Luzern, Beschwerdegegnerin,
und
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

A.- Der 1948 geborene H.________ ist von Beruf Schreiner und Inhaber eines Bau- und Möbelschreinereiunternehmens. Er ist bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen Unfälle versichert. Am 20. Oktober 1993 erlitt H.________ als Lenker eines Personenwagens eine Kollision mit einer in entgegengesetzter Richtung fahrenden Automobilistin. Nach diversen medizinischen Abklärungen stellte die SUVA mit Verfügung vom 12. Juni 1996 die Heilkosten- und Taggeldleistungen per 31. Mai 1996 ein und verneinte den Anspruch auf eine Invalidenrente oder auf eine Integritätsentschädigung.

Mit Verfügung vom 16. Dezember 1996 sprach die IVStelle des Kantons Solothurn H.________ basierend auf einem Invaliditätsgrad von 40 % eine Viertelsrente der Invalidenversicherung zu.
Die Einsprache, mit welcher H.________ die Ausrichtung einer Invalidenrente der Unfallversicherung auf der Grundlage einer Erwerbsunfähigkeit von 50 % beantragen liess, wies die SUVA mit Entscheid vom 29. Juli 1997 ab.

B.- Gegen den Einspracheentscheid liess H.________ Beschwerde führen mit den Anträgen, ihm seien eine Invalidenrente auf der Basis einer Erwerbsunfähigkeit von 50 % sowie eine Integritätsentschädigung von 10 % auszurichten. Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wies die Beschwerde, soweit es darauf eintrat, mit Entscheid vom 2. März 1999 ab.

C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt H.________ wiederum die Zusprechung einer Invalidenrente auf der Basis einer Erwerbsunfähigkeit von 50 % ausrichten.
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung hat sich nicht vernehmen lassen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.- Streitig und zu prüfen ist vorliegend, ob dem Beschwerdeführer zufolge des Unfalls vom 20. Oktober 1993 eine Invalidenrente zusteht.

a) Die Leistungspflicht eines Unfallversicherers gemäss UVG setzt zunächst voraus, dass zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität, Tod) ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht. Ursachen im Sinne des natürlichen Kausalzusammenhangs sind alle Umstände, ohne deren Vorhandensein der eingetretene Erfolg nicht als eingetreten oder nicht als in der gleichen Weise bzw. nicht zur gleichen Zeit eingetreten gedacht werden kann. Entsprechend dieser Umschreibung ist für die Bejahung des natürlichen Kausalzusammenhangs nicht erforderlich, dass ein Unfall die alleinige oder unmittelbare Ursache gesundheitlicher Störungen ist; es genügt, dass das schädigende Ereignis zusammen mit anderen Bedingungen die körperliche oder geistige Integrität des Versicherten beeinträchtigt hat, der Unfall mit andern Worten nicht weggedacht werden kann, ohne dass auch die eingetretene gesundheitliche Störung entfiele (BGE 119 V 337 Erw. 1, 118 V 289 Erw. 1b, je mit Hinweisen).
Ob zwischen einem schädigenden Ereignis und einer gesundheitlichen Störung ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht, ist eine Tatfrage, worüber die Verwaltung bzw. im Beschwerdefall das Gericht im Rahmen der ihm obliegenden Beweiswürdigung nach dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu befinden hat. Die blosse Möglichkeit eines Zusammenhangs genügt für die Begründung eines Leistungsanspruches nicht (BGE 119 V 338 Erw. 1, 118 V 289 Erw. 1b, je mit Hinweisen).

b) Die Vorinstanz hat das für die Leistungspflicht des Unfallversicherers nach UVG weiter vorausgesetzte Erfordernis des adäquaten Kausalzusammenhang zwischen Unfallereignis und eingetretenem Gesundheitsschaden, insbesondere die Rechtsprechung zur Adäquanzbeurteilung von psychischen Gesundheitsstörungen nach Unfällen einschliesslich der dabei zu beachtenden Kriterien (BGE 123 V 99 Erw. 2a, 115 V 135 ff. Erw. 4 ff.), zutreffend dargelegt. Auf diese Erwägungen kann verwiesen werden.

2.- a) Der Unfallversicherer hatte für seinen Entscheid auf den spezialärztlichen Untersuchungsbericht des Dr. med. V.________, Abteilung Unfallmedizin der SUVA, vom 26. März 1996 abgestellt und das Vorliegen eines Befundes, der eine Invalidität medizinisch begründen liesse, verneint. Er führte aus, hinsichtlich der organischen Unfallfolgen, welche derzeit nicht mit rechtsgenüglicher Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden könnten, sei dem Versicherten seine angestammte Tätigkeit als Schreinermeister vollumfänglich zumutbar.

b) Das kantonale Gericht ging nach Würdigung der verschiedenen ärztlichen Berichte gestützt auf das Gutachten der Orthopädischen Klinik X.________ vom 28. Dezember 1994 sowie auf die spezialärztliche Untersuchung des Dr. med. V.________ vom 26. März 1996 davon aus, dass die Beschwerden nicht auf organischen Ursachen im Zusammenhang mit dem Unfall vom 20. Oktober 1993 beruhen. Vielmehr seien die Unfallfolgen auf psychische Gründe zurückzuführen. Bei der Prüfung des adäquaten Kausalzusammenhangs ordnete es den Unfall dem mittleren Bereich zu. In Würdigung der durch die Rechtsprechung für psychische Gesundheitsstörungen - nicht wie vom Beschwerdeführer beantragt für ein Schleudertrauma - entwickelten Kriterien verneinte die Vorinstanz die adäquate Kausalität und somit die Voraussetzungen für die Zusprechung einer Invalidenrente.

c) Während der Beschwerdeführer im Vorverfahren sowohl somatische als auch psychische Beschwerden geltend gemacht hatte, bezeichnet er die invalidisierenden Beschwerden in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nunmehr als rein somatischer Natur und beruft sich nur eventualiter auf psychische Gesundheitsstörungen. Er führt aus, dass seine Arbeitsunfähigkeit von sämtlichen Ärzten mit Ausnahme des Dr. med. V.________ auf 50 % geschätzt werde. Da es ohne Gewalteinwirkung anlässlich des Unfalls nicht zu diesen körperlichen Beschwerden gekommen wäre, sei die natürliche Kausalität ohne weiteres erstellt. Auch sei der Eintritt körperlicher Schmerzen nach einer so heftigen Kontusion und Distorsion der Lenden- und Kreuzwirbelsäule nicht eine derart ungewöhnliche und abwegige Folge, als dass sie als inadäquat bezeichnet werden müsste. Der Kriterienkatalog für die Adäquanzbeurteilung psychischer Gesundheitsstörungen komme vorliegend gar nicht zur Anwendung.

3.- a) Für die Frage der Leistungspflicht des Unfallversicherers ist zunächst das Vorliegen des natürlichen Kausalzusammenhangs zwischen dem Unfall und den invalidisierenden somatischen Beschwerden zu prüfen. Erst wenn ein solcher Zusammenhang verneint wird, ist zu prüfen, ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und allfälligen invalidisierenden psychischen Beschwerden gegeben ist. Wird nämlich die Frage nach der natürlichen Kausalität der somatischen Beschwerden nicht beantwortet, besteht das Risiko, dass ein Anspruch auf Versicherungsleistungen nach der Adäquanzbeurteilung bei psychischen Gesundheitsstörungen - wie im Vorverfahren - verneint wird, während er im Falle des Bestehens eines natürlichen Kausalzusammenhanges zwischen Unfall und somatischen Beschwerden grundsätzlich zu bejahen gewesen wäre.

b) Die Vorinstanz hat die verschiedenen ärztlichen Beurteilungen dargelegt und ihren Entscheid massgebend auf das Gutachten der Orthopädischen Klinik X.________ vom 28. Dezember 1994 sowie auf die spezialärztliche Untersuchung des Dr. med. V.________ vom 26. März 1996 abgestellt. Diese medizinischen Berichte sind von der begutachtenden Stelle bzw. von der Person des Begutachters her nicht zu beanstanden. Sie sind jedoch nicht schlüssig genug, um die sich zunächst stellende Frage des natürlichen Kausalzusammenhangs zwischen dem Unfall und invalidisierenden somatischen Beschwerden zu verneinen.

aa) Im Gutachten der Orthopädischen Klinik X.________ vom 28. Dezember 1994 wird der Kausalzusammenhang nicht geprüft, sondern lediglich die Diagnose chronifizierte tieflumbale lokale Schmerzsymptomatik, diskrete Spondylarthrose L5/S1, weniger L4/L5, minimale Osteochondrose L5/S1, Adipositas sowie arterielle Hypertonie gestellt und gesagt, die Beschwerden würden nur eine schwache objektive Unterstützung finden.

bb) Die spezialärztliche Untersuchung des Dr. med. V.________ vom 26. März 1996 diagnostiziert eine Kontusion und Distorsion der Lendenwirbelsäule, arterielle Hypertonie sowie ein chronifiziertes lumbosakrales Schmerzsyndrom. Der Arzt geht in seinem Bericht auf den Kausalzusammenhang ein und führt die Schmerzen zunächst auf eine gestörte Wirbelsäulenstatik zurück. Diese Vorbelastung schliesst indessen den natürlichen Kausalzusammenhang zum Unfall als Teilursache nicht aus. Der Begutachter hält des Weitern fest, die beim Versicherten festgestellten degenerativen Veränderungen an der unteren Lendenwirbelsäule, insbesondere die beginnende Arthrose der Fazettengelenke L5/S1, stellten mit grosser Wahrscheinlichkeit einen Vorzustand dar, da sie doch bereits auf dem Röntgenbild zu erkennen seien. Dies betreffe auch die später computer- und kernspintomographisch festgestellten Diskusprotrusionen der Segmente L4/L5 und L5/S1 mit Rissbildungen im Anulus fibrosus. Diese Schlussfolgerung vermag nicht zu überzeugen. Ist ein Zustand von degenerativen Veränderungen auf dem «Unfallröntgenbild» zu erkennen, schliesst dies Unfallfolgen nicht aus. Im Gutachten wird zudem selber eingeräumt, dass eine torsionsbedingte Verletzung einer Bandscheibe
denkbar wäre, wofür jedoch bislang nur auf Grund von Indizien entschieden werden könnte. Es handle sich mehr um eine medizinische Hypothese, deren Objektivierung nicht ausgereift sei. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang die vom Röntgeninstitut Dr. PD W.________ am 13. Oktober 1994 festgestellten kleinen Risse im Anulus fibrosus, von welchen dieser sagt, dass sie erhebliche Schmerzen verursachen könnten. Ob diese Risse und allenfalls weitere somatische Beeinträchtigungen für die invalidisierenden Schmerzen des Beschwerdeführers verantwortlich gemacht werden können und mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall zurückzuführen sind, ist demnach nicht hinreichend geklärt. Die Sache ist deshalb an den Unfallversicherer zur Anordnung eines externen Gutachtens über die Frage des natürlichen Kausalzusammenhangs zwischen Unfall und invalidisierenden somatischen Beschwerden sowie zur Neubeurteilung des Leistungsanspruchs zurückzuweisen.

4.- Sollte sich kein natürlicher Kausalzusammenhang zu den somatischen Beschwerden, hingegen zu den psychischen Folgen, mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erstellen lassen, wäre der Fall - wie dies die Vorinstanz entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers getan hat - gemäss Rechtsprechung zum adäquaten Kausalzusammenhang bei psychischen Unfallfolgen, nicht nach der Rechtsprechung bei Schleudertraumen abzuhandeln. Die SUVA hätte unter Einbezug der Ergebnisse des neu einzuholenden Gutachtens nochmals über diese Frage zu entscheiden. Die «Schleudertraumapraxis» ist spezifisch für Schleudertraumen der Halswirbelsäule entwickelt worden. Wohl ist vorliegend durch den Hausarzt Dr. B.________ am 3. November 1993 ein Schleudertrauma LWS mit Blockierung LWS diagnostiziert worden und in der spezialärztlichen Untersuchung des Dr. med. V.________ vom 26. März 1996 wird eine Distorsion der Lendenwirbelsäule angenommen. Es haben somit auch im vorliegend zu beurteilenden Unfall physikalische Gesetze der Trägheit gewirkt, indem der Körper des Fahrers die Geschwindigkeit des Fahrzeuges beibehalten wollte, das Fahrzeug durch die Kollision jedoch abrupt zum Stehen gebracht wurde, sodass der Oberkörper nach vorne sowie hier
auch seitlich rechts in die Gurten geworfen wurde. Die «Peitschenbewegung», die für das Schleudertrauma der Halswirbelsäule charakteristisch ist, ist im Lendenbereich indessen ungleich geringer als im Hals- und Kopfbereich, sodass nicht von der besonderen Art der Verletzung wie im Fall des Schleudertraumas der Halswirbelsäule gesprochen werden kann.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne
gutgeheissen, dass der Entscheid des Versicherungsge-
richts des Kantons Solothurn vom 2. März 1999 und der
Einspracheentscheid der SUVA vom 29. Juli 1997 aufge-
hoben werden und die Sache an die SUVA zurückgewiesen
wird, damit sie nach erfolgter Begutachtung im Sinne
der Erwägungen über den Leistungsanspruch neu verfüge.

II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
III. Die SUVA hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

IV. Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wird
über eine Parteientschädigung für das kantonale Ver-
fahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses zu befinden haben.

V. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungs-
gericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 22. Mai 2000
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der III. Kammer:

Die Gerichtsschreiberin: