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16. Auszug aus dem Urteil der ARK vom 26.5.95
i.S. B.K., Ex-Jugoslawien

Art. 3 Abs. 1 und 12a AsylG: Glaubhaftigkeit und Asylrelevanz einer Vergewaltigung durch Polizisten.

1. Prüfung der Glaubhaftigkeit geltend gemachter Vergewaltigungen (Erw. 3 a - f). Bedeutung ärztlicher Gutachten. Die Diagnose gehört zur Expertise, von welcher der Richter nur aus triftigen Gründen abweichen darf. Es bleibt aber allein Aufgabe des Richters, die Glaubhaftigkeit der gesamten Vorbringen zu beurteilen (Erw. 3e).

2. Prüfung des Verfolgungscharakters einer Vergewaltigung (Erw. 4 a-c). Verfolgungsmassnahmen von Trägern hoheitlicher Funktionen, welche bei der Amtsausübung in Verletzung der Amtspflicht begangen werden, stellen direkte staatliche Verfolgung dar, es sei denn, der Betroffenen sei es unter Berücksichtigung der allgemeinen Lage im betreffenden Staat zuzumuten, sich mit einer Strafanzeige an die Behörden zu wenden und diese gingen wirklich gegen die fehlbaren Amtspersonen vor (Erw. 4c).

Art. 3, al. 1 et 12a LA : commission d'un viol par des policiers, problèmes touchant à la pertinence et à la crédibilité d'un tel acte en matière d'asile.

1. Examen de la crédibilité d'un viol (consid. 3 a-f). Portée d'un rapport médical. Le juge ne peut s'écarter des conclusions d'un expert que pour des raisons impérieuses. Il reste toutefois dans sa compétence exclusive de juger de la crédibilité de l'ensemble des moyens de preuves qui lui sont soumis (consid. 3e).

2. Examen des critères permettant d'assimiler un viol à une mesure de persécution (consid. 4a - c). Les actes de persécutions de personnes occupant de hautes fonctions, qui ont été commis dans l'exercice d'une charge officielle et en violation des devoirs de service, constituent des mesures de persécutions étatiques directes à moins que, compte tenu de la situation générale régnant dans son pays, il soit exigible de la victime


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qu'elle porte plainte devant les autorités et que celles-ci soient réellement à même de réagir contre les fonctionnaires fautifs (consid. 4c).

Art. 3 cpv. 1 e 12a LA: verosimiglianza e rilevanza di uno stupro commesso da poliziotti.

1. Esame della verosimiglianza dell'evocato stupro (consid. 3a-f). Rilevanza della perizia medica. Il giudice non potrà scostarsi dalle conclusioni peritali che con valido e fondato motivo. Rimane tuttavia di sua esclusiva competenza di valutare la verosimglianza dell'insieme delle allegazioni che gli sono state sottoposte (consid. 3e)

2. Esame delle condizioni materiali per il riconoscimento della qualità di rifugiato (consid. 4 a-c). Gli atti di persecuzione commessi nell'esercizio della loro professione, e in violazione dei loro doveri d'ufficio, da persone che occupano funzioni pubbliche di rilievo sono costitutivi di persecuzioni statali dirette, ad eccezione del caso in cui, conto tenuto della situazione generale vigente nel Paese, sia esigibile da parte della vittima che sporga denuncia dinanzi le autorità, e che le autorità abbiano effettivamente agito contro i funzionari responsabili (consid. 4c).

Zusammenfassung des Sachverhalts:

Die Beschwerdeführerin, eine Muslimin albanischer Ethnie aus dem Kosovo, verliess ihre Heimat am 8. Juli 1994 und gelangte drei Tage später in die Schweiz, wo sie am 11. Juli 1994 ein Asylgesuch einreichte. Sie machte im wesentlichen geltend, sie sei in ihrer Heimat wegen ihres Bruders, welcher Ex-Jugoslawien aufgrund eines militärischen Aufgebotes verlassen habe, mehrmals von der Polizei behelligt worden. Zu Beginn des Jahres 1992 habe die Polizei ihre Identitätspapiere konfisziert. Am Abend des 2. Januar 1994 hätten sich drei Polizisten nach dem Verbleiben ihres Bruders erkundigt und sie auf ihre abschlägige Antwort hin mitgenommen. Die uniformierten Polizisten hätten sie nicht auf den Posten, sondern in ihr Quartier verbracht, sie dort vergewaltigt und erst gegen Morgengrauen wieder nach Hause gehen lassen. Mitte März 1994 sei sie abends erneut von drei Polizisten zum Mitgehen gezwungen und in deren Quartier missbraucht worden. Sie habe sich nirgends


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beschweren können, da die zuständigen Stellen alle von Serben besetzt gewesen seien. Im April 1994 seien die Polizisten frühmorgens zu Hause erschienen und hätten ihr, nachdem sie sich nach Waffen und Geld erkundigt hätten, nochmals dasselbe angetan. Am 1. Mai 1994 sei sie deshalb mit ihrer Mutter zu ihrer Schwester nach Pec gegangen, wo sie aus Platzgründen nicht hätten bleiben können. Wegen der fehlenden Identitätspapiere hätten sie auch nicht früher ausreisen können. Aus Scham wolle und könne sie mit ihren Verwandten nicht über diese Vorfälle sprechen.

Mit Verfügung vom 22. November 1994 lehnte das BFF das Asylgesuch der Beschwerdeführerin ab und ordnete deren Wegweisung aus der Schweiz an. Zur Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt, die Vorbringen vermöchten weder den gesetzlichen Anforderungen an die Glaubhaftigkeit noch denjenigen an die Flüchtlingseigenschaft zu genügen. So hätten die Polizeibesuche vordergründig den rechtsstaatlich legitimen Zweck gehabt, den als Refraktär flüchtigen Bruder ausfindig zu machen; der dabei erfolgte Ausweisentzug sei nicht von asylrelevanter Intensität gewesen. Die geltend gemachten polizeilichen Mitnahmen mit den anschliessenden Vergewaltigungen seien infolge unsubstantiierter und widersprüchlicher Darstellung unglaubhaft. Ferner seien sowohl die Voraussetzungen der Wegweisung als auch des Vollzugs derselben gegeben.

Mit Eingabe vom 6. Januar 1995 beantragte die Beschwerdeführerin durch ihre Rechtsvertreterin, der angefochtene Entscheid sei vollumfänglich aufzuheben und das Asyl zu erteilen; eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen; subeventuell sei festzustellen, dass die Beschwerdeführerin nicht in ihre Heimat ausgeschafft werden könne. Im übrigen sei der Rekurrentin umgehend ein Kantonswechsel und eine Therapie bei einer italienisch-sprechenden Fachfrau zu ermöglichen. Mit der Beschwerde wurde u.a. ein Arztzeugnis und ein in einer anderen, vergleichbaren Fallkonstellation, im Auftrag der ARK erstelltes psychiatrisches Gutachten eingereicht.

Am 16. Januar 1995 reichte der Sozialpsychiatrische Dienst des zuständigen Kantons einen auf Ersuchen der ARK verfassten ärztlichen Bericht zu bestimmten Fragen betreffend den Gesundheitszustand der Rekurrentin zu den Akten.

Mit Vernehmlassung vom 3. März 1995 schloss die Vorinstanz auf Ablehnung der Beschwerde.


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Die ARK heisst die Beschwerde gut und weist die Vorinstanz an, der Beschwerdeführerin Asyl zu erteilen.

Aus den Erwägungen:

3. a) Es stellt sich vorab die Frage, ob die Vorinstanz die geltend gemachten polizeilichen Mitnahmen und Vergewaltigungen aufgrund der von ihr festgestellten Ungereimtheiten zu Recht als unglaubhaft bezeichnet hat. Die Vorinstanz begründete dies unter anderem damit, dass die Rekurrentin auf Fragen über die erlittenen Vergewaltigungen nur unsubstantiiert, sehr stereotyp und allgemein, sowie mit fehlender innerer Betroffenheit Auskunft gegeben habe.

b) aa) Hinsichtlich der letztgenannten Entscheiderwägungen kann der Vorinstanz nicht zugestimmt werden. Von einer fehlenden emotionalen respektive inneren Betroffenheit der Beschwerdeführerin anlässlich der Schilderung der Vergewaltigungen kann keine Rede sein, finden sich doch in beiden Einvernahmeprotokollen verschiedene Anmerkungen, wonach die Beschwerdeführerin bei ihrer Schilderung geweint hat und Mühe bekundete, vom Erlebten zu berichten. Die Hilfswerkvertreterin bemerkte denn auch, die Beschwerdeführerin leide weiterhin an körperlichen und psychischen Beschwerden als Folge der sexuellen Misshandlungen. Ferner verweist die Rechtsvertreterin der Rekurrentin in diesem Zusammenhang zu Recht auf das im Auftrag der ARK in anderer Sache erstellte Gutachten der Psychiatrischen Universitätsklinik Bern vom 22. März 1994. Darin wurde mit Bezug auf zwei angeblich vergewaltigte Frauen aus dem Kosovo unter anderem festgestellt, dass die Offenlegung eines traumatischen Vergewaltigungserlebnisses für jede Frau schwierig zu erzählen sei und dass auch die beiden Frauen aufgrund ihres sozio-kulturellen Hintergrundes bei den Berichten über ihre Gewalterlebnisse Zuflucht zu "stereotypen Antworten" genommen hätten. Da es ihre affektive
Sozialisation und ihr Schamgefühl nicht zulassen würden, fremden Menschen, den Tathergang aufgrund ihres emotionalen Erlebens zu schildern, hätten sie sich innerlich vom Erlebnis distanziert, um darüber reden zu können. Diese Aussagen vermögen auch im vorliegenden Fall Wirkung zu entfalten, denn einerseits ist der sozio-kulturelle Hintergrund der Rekurrentin identisch und andererseits ist die Rekurrentin eigenen Angaben zufolge in vergleichbarem Masse affektiv sozialisiert und beschämt.

bb) Im übrigen werden diese gutachterlichen Aussagen von einem anderen Experten (vgl. dazu Prof. Dr. U. Rauchfleisch, Psych. Universitätspoliklinik


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Basel, "Zur Situation von Folter- und Verfolgungsopfern in der Schweiz", in: ASYL 1995/1, S. 8 ff.) insofern bestätigt, als Frauen im allgemeinen offenbar wesentlich seltener als Männer über Extremtraumatisierungen zu berichten vermögen; dies gelte insbesondere bei Frauen, bei denen Vergewaltigungen in einem solchen Ausmass mit Scham- und Schuldgefühlen belegt seien, dass sie selbst auf direkte Fragen hin keine Mitteilungen darüber machen könnten. Präzise Zeit- und Ortsangaben sowie exakte Beschreibungen der Misshandlungsumstände seien kaum zu erwarten und nicht selten würden eklatante Widersprüche als Folge der Traumatisierungen auftreten. Eine der wichtigsten Überlebensstrategien derart traumatisierter Personen sei das völlige Abschalten der Gefühle (akute Depersonalisation). Selbst unter Berücksichtigung der grundsätzlichen Vorbehalte hinsichtlich der Übertragbarkeit derartiger gutachterlicher Aussagen auf konkrete Einzelfälle sind die diesbezüglichen Entscheiderwägungen der Vorinstanz deshalb von höchst bescheidener Indizkraft. Soweit sich die Vorinstanz im Rahmen ihrer Vernehmlassung im übrigen auf die Einberufung einer speziellen Frauenrunde anlässlich der direkten Anhörung beruft, ist sie auf die vorliegenden
Expertenberichte zu verweisen, welche unter anderem die Schaffung eines empathischen Gesprächsraums verlangen, um mit vergewaltigten Frauen konstruktiv arbeiten zu können.

c) aa) Bezüglich der Substantiiertheit der Vorbringen ist nach Auffassung der Asylrekurskommission zu unterscheiden: Die Beschwerdeführerin hat die Vergewaltigung vom 2. Januar 1994 und deren Begleitumstände sowohl an der Empfangsstelle als auch anlässlich der vorinstanzlichen Befragung so detailreich und substantiiert geschildert, wie dies von einem Menschen, gleich welcher kultureller Herkunft, in vergleichbarer Situation vernünftigerweise erwartet werden kann. Sowohl der Zeitpunkt der Heimsuchung durch die drei serbischen Polizisten, als auch deren Verhalten sowie die Umstände der Mitnahme wurden genau dargestellt. Die Rekurrentin beschrieb auch den Ort, an den sie verbracht worden war, sehr genau: Es habe sich um eine zweistöckige, ehemalige Militärkaserne in der Nähe der Busstation der Kosovo-Trans in G. gehandelt; sie sei in den ersten Stock in einen grossen Raum mit drei Kajütenbetten und einem grossen Schrank gebracht worden, welcher Waffen und Uniformen enthalten habe. Die Beschwerdeführerin hat sodann auch den Hergang der sexuellen Übergriffe durch die serbischen Polizisten teilweise stockend, insgesamt aber recht detailliert geschildert: Die Polizisten hätten begonnen, Schnaps zu konsumieren und sie zum Mittrinken
aufgefordert; ihre Weigerung hätten sie mit Schlägen quittiert und ihr die Kleider zerrissen; ihre Bitten, von ihr abzulassen, da sie noch Jungfrau sei, hätten sie mit anzüglichen Bemerkungen erwidert; auf ihre Gegenwehr hätten sie mit der Drohung, sie


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umzubringen, reagiert; die Polizisten hätten sie auf ein Bett gezwungen und der Erste habe ihr den Slip ausgezogen; nachdem sie von zwei Polizisten missbraucht worden sei - die anderen hätten dazu getrunken - habe sie das Bewusstsein verloren. Auch die weiteren Ausführungen der Beschwerdeführerin - sie habe nackt, mit Bauchschmerzen und Bisswunden auf dem Bett gelegen, als sie wieder zu sich gekommen sei; die Bluse habe sie mit abgerissenen Knöpfen neben ihrem Kopf gefunden und den Rock in der Nähe der Türe; es habe sich nurmehr ein Polizist im Zimmer befunden, welcher sie zurückgefahren habe, nachdem sie sich mit den aufgefundenen Kleidungsstücken notdürftig angezogen habe - sind von hinreichender Substanz.

bb) Hinsichtlich der beiden geltend gemachten Vergewaltigungen vom März und vom April 1994 ist dagegen festzustellen, dass die diesbezüglichen Angaben nicht mehr gleich präzis und detailreich ausgefallen sind. Die Beschwerdeführerin machte zwar klare Aussagen bezüglich der Tageszeit, zu welcher sich diese Übergriffe ereignet hätten. Die Datierung dieser Vergewaltigungen vermochte sie indessen nicht mehr genau vorzunehmen; sie war sich bezüglich der teilnehmenden Polizisten unsicher; sie war auch nicht in der Lage, den Hergang der angeblichen Missbrauchshandlungen durch die Polizisten so genau wie bei der ersten Vergewaltigung zu beschreiben. Die Beschwerdeführerin gab beispielsweise auf die wiederholte Frage, was denn im März 1994 in der ehemaligen Kaserne mit ihr genau geschehen sei, stets zur Antwort: "Sie taten alles was sie wollten mit mir". Ebenso pauschal fielen die Angaben zu den Vorfällen vom April 1994 aus.

d) aa) Die Vorinstanz begründete die Unglaubhaftigkeit der Vergewaltigungen in ihren Entscheiderwägungen im weiteren damit, dass die diesbezüglichen Aussagen der Rekurrentin auch widersprüchlich ausgefallen seien. Tatsächlich sind nach einer Überprüfung der Akten verschiedene Ungereimtheiten vorhanden, welche nicht als unwesentlich bezeichnet werden können. Allerdings ist auch mit Bezug auf diese Ungereimtheiten insofern zu differenzieren, als sie sich nicht auf die Vergewaltigung vom 2. Januar 1994 beziehen. Die Feststellung der Vorinstanz, wonach die Rekurrentin in diesem Zusammenhang ihre Lage beziehungsweise diejenige ihrer Kleider nach der Wiedererlangung des Bewusstseins unterschiedlich dargestellt habe, trifft zwar zu; in Anbetracht der im übrigen auch in Einzelheiten stimmigen Aussagen kann diese Ungereimtheit nicht als wesentlich bezeichnet werden.

bb) Die weiteren von der Vorinstanz zu Recht festgestellten Widersprüche beschlagen insbesondere die Vergewaltigungen vom März und vom April 1994.


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So gab die Beschwerdeführerin an der Empfangsstelle zu Protokoll, sie sei stets von den drei gleichen Polizisten vergewaltigt worden; den Bundesbehörden erklärte sie dagegen, bei der zweiten und auch bei der dritten Vergewaltigung sei nur einer der drei Polizisten zuvor bereits dabei gewesen. Im weiteren terminierte die Beschwerdeführerin die beiden letzten Vergewaltigungen an der Empfangsstelle noch auf die Zeitspanne vom 16. bis zum 31. März 1994 respektive auf den 30. April 1994, wogegen sie diese anlässlich der Befragung durch die Vorinstanz auf den 15./16. März 1994 respektive auf anfangs April oder den 15. April 1994 legte. Sodann widersprach sich die Beschwerdeführerin hinsichtlich der dritten Vergewaltigung vom April 1994 auch insofern, als sie zunächst vorbrachte, sie sei damals frühmorgens zu Hause abgeholt worden, währenddem sie später geltend machte, sie sei damals selber frühmorgens in die Kaserne gegangen. Aus diesen unklaren und widersprüchlichen Angaben allein kann zwar nicht zwingend geschlossen werden, dass die geltend gemachten Vergewaltigungen vom März und vom April 1994 nicht stattgefunden haben, doch hat die Vorinstanz zu Recht erhebliche Zweifel an der Glaubhaftigkeit der diesbezüglichen Vorbringen
angebracht.

e) Zu prüfen bleibt, ob sich aus den ärztlichen Berichten Indizien für den Wahrheitsgehalt der behaupteten Vorfälle ergeben, welche die sich aus den Aussagen der Beschwerdeführerin ergebenden Zweifel zu überwiegen vermöchten.

aa) Die Vorinstanz erhebt in ihrer Vernehmlassung vom 3. März 1995 diverse Einwände gegen das Zustandekommen des ärztlichen Berichts vom 16. Januar 1995, welcher die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung ICD-10 (vgl. dazu die Beschreibung von Rauchfleisch, a.a.O., S. 9) enthält und den Aussagen der Rekurrentin einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad beimisst. Das BFF bemängelt insbesondere, die Diagnose sei ohne nachvollziehbare Begründung und ohne medizinische Erklärung erfolgt; die geltend gemachten psychischen Leiden würden als Indiz für die angeblich erlittenen Vergewaltigungen genommen und daraus werde der hohe Wahrscheinlichkeitsgrad der Richtigkeit der Aussagen der Rekurrentin ohne Abklärung weiterer möglicher Ursachen abgeleitet. Die Sachverständigen haben in ihrer Stellungnahme vom 15. März 1995 an ihren bisherigen Befunden festgehalten und den entscheidenden Instanzen die Durchführung eines ausführlichen psychiatrischen Gutachtens empfohlen, falls ihre einstündige psychiatrische Untersuchung der Patientin als ungenügend erachtet werde.


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Dazu ist zunächst grundsätzlich festzustellen, dass der Richter gemäss der bundesgerichtlichen Praxis in Sachfragen nur aus triftigen Gründen von einer gerichtlichen Expertise abweicht (vgl. BGE 118 Ia 144 ff.). Sachfragen stellen in diesem Kontext insbesondere die Diagnose und die wahrscheinliche Reaktion der Beschwerdeführerin im Fall einer Ausreise in den Kosovo dar, nicht aber die Frage der Glaubhaftigkeit der Vergewaltigungen. Hinsichtlich der vorinstanzlichen Einwände im Zusammenhang mit diesen Sachfragen ist festzuhalten, dass die Dauer und die Häufigkeit der Befragung der Patientin durch die Ärzte keine oder nur sehr beschränkt Rückschlüsse auf die Zuverlässigkeit der Diagnose zulässt, da diesbezüglich sehr viele andere Faktoren - Eindeutigkeit der Symptome, Erfahrung der Ärzte, etc. - mitentscheidend sind. Die Vorinstanz hält denn auch fest, dass die psychiatrische Untersuchung der Rekurrentin hinsichtlich der Einmaligkeit der Befragung für die Darstellung der Gründe ähnlich wie die Situation beim BFF sei; nachdem in letzterer Hinsicht unter Berücksichtigung der für die Sachverhaltsermittlung geltenden Untersuchungsmaxime kaum geringere Anforderungen an die Sorgfalt gestellt werden dürfen, kommt diese Feststellung
einer (wohl unbeabsichtigten) Anerkennung des Gesagten gleich. Ferner trifft es nach Auffassung der Asylrekurskommission nicht zu, dass die Diagnose nicht nachvollziehbar und medizinisch erklärt begründet worden ist; das Zeugnis vom 16. Januar 1995 beruft sich unter anderem auf die psychopathologischen Befunde und verweist im übrigen auf die bereits im Arztzeugnis vom 12. Dezember 1994 festgestellten gesundheitlichen Beschwerden. Richtig ist indessen, dass die Kürze der Begründung nicht derjenigen eines ausführlichen psychiatrischen Gutachtens entspricht; dies wird von der ärztlichen Leitung des sozialpsychiatrischen Dienstes des Kantons X. sinngemäss auch eingestanden, wobei zutreffend eingeschränkt wurde, dass selbst eine ausführliche psychiatrische Begutachtung sich auf die Angaben der Rekurrentin stützen müsste. Es kommt hinzu, dass den weiteren Ausführungen in der Vernehmlassung der Vorinstanz zu entnehmen ist, dass die gesundheitlichen Schwierigkeiten der Rekurrentin an und für sich unbestritten sind und sich deren Einwände vielmehr dagegen richten, dass die geltend gemachten Vergewaltigungen - wie von den Ärzten festgestellt - mit hoher Wahrscheinlichkeit ursächlich für diese Schwierigkeiten sein sollen. Nach dem
Gesagten bestehen für die Asylrekurskommission keine ernsthaften Einwände gegen die Schlüssigkeit der sachverständigen Feststellungen, welche die Anordnung weiterer, diesbezüglicher Beweismassnahmen respektive ein Abweichen in den vorerwähnten Sachfragen zur Folge hätte. Es ist demnach insbesondere davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet und sie im Falle einer Ausschaffung wahrscheinlich suizidal reagieren würde.


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bb) Bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Vorbringen der Rekurrentin handelt es sich hingegen um eine Rechtsfrage, deren Beantwortung - wie im übrigen auch die Beweiswürdigung - Aufgabe des Richters ist. Aufgabe des Experten ist es dagegen, aufgrund seiner Sachkunde entweder Erfahrungs- oder Wissenssätze seiner Disziplin mitzuteilen, für das Gericht erhebliche Tatsachen zu erforschen oder sachliche Schlussfolgerungen aus bereits bestehenden Tatsachen zu ziehen (vgl. BGE 118 Ia 144 ff.). Im Rahmen dieser Aufgabenteilung ist es durchaus zulässig, dass sich der Sachverständige aus seiner Sicht auch zur Frage äussert, welchen Grad von Wahrscheinlichkeit er den von der Rekurrentin geltend gemachten sexuellen Übergriffen beimisst. Der Richter hat diesfalls im Sinne des Verbotes willkürlicher Beweiswürdigung zu gewährleisten, dass diese Äusserung des Sachverständigen im Rahmen der Beweiswürdigung in Beziehung zu anderen für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit bedeutsamen Elemente (übrige Beweismittel, Parteivorbringen, etc.) gesetzt und entsprechend ihrer Beweis- respektive Indizkraft gewichtet wird. Die vom BFF in seiner Vernehmlassung geäusserte Kritik an der von den Sachverständigen festgestellten hohen Wahrscheinlichkeit der
Richtigkeit der Angaben der Rekurrentin erscheint der Kommission im übrigen nicht berechtigt, denn die Ärzte haben diese Schlussfolgerung mit diversen Feststellungen durchaus nachvollziehbar begründet. Im Bericht vom 16. Januar 1995 wurde unter anderem ausgeführt, die Beschwerdeführerin sei vor den geltend gemachten Repressalien psychisch weitgehend unauffällig gewesen; dann wurde auf die geschilderten Beschwerden sowie den psychopathologischen Befund verwiesen; letztlich wurde ausgeführt, dass auch keine Anzeichen dafür auszumachen gewesen seien, dass sich die Vergewaltigungen nicht oder zumindest nicht in der dargestellten Form abgespielt haben könnten. Nach Auffassung der Asylrekurskommission stellt die vorerwähnte Aussage der Sachverständigen demnach ein weiteres Indiz für die Glaubhaftigkeit der geltend gemachten Vergewaltigungen dar.

f) Im Sinne einer Gesamtwürdigung ist schliesslich festzuhalten, dass die Mutter der Beschwerdeführerin sowohl die polizeilichen Behelligungen als auch die dreimalige Mitnahme ihrer Tochter durch die Polizei bestätigt. Hinsichtlich der behaupteten Vergewaltigungen lässt sich ihren Akten indessen nichts entnehmen, was die Aussage der Rekurrentin bestätigt, wonach sie ihrer Mutter nichts erzählt habe. Im weiteren macht die Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin zu Recht geltend, es lägen Erkenntnisse dafür vor, dass im Kosovo Verfolgungsmuster existierten, welche der sogenannten "Reflexverfolgung" ähnlich seien, indem Angehörige von gesuchten Personen - in letzter Zeit sind offenbar auch Frauen vermehrt davon betroffen - befragt,


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schikaniert und teilweise misshandelt worden sind. In diesem Kontext ist aufgrund von vorliegenden Berichten offenbar auch die Vergewaltigung kosovo-albanischer Frauen durch serbische Ordnungskräfte zumindest nicht auszuschliessen. An dieser Stelle ist im übrigen erneut darauf hinzuweisen, dass der Rekurrentin in prozessualer Hinsicht nicht der Beweis für die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung, sondern lediglich das Glaubhaftmachen ihrer Asylgründe obliegt. In Abwägung all der vorerwähnten Umstände gelangt die Asylrekurskommission daher zum Ergebnis, dass die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Vergewaltigung vom 2. Januar 1994 durch drei serbische Polizisten als überwiegend wahrscheinlich anzusehen ist. Die geltend gemachten sexuellen Übergriffe vom März und vom April 1994 werden dagegen in Anbetracht der vorerwähnten Ungereimtheiten als unglaubwürdig erachtet, wenngleich nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, dass auch diese stattgefunden haben.

4. a) Nach herrschender Lehre und Praxis setzt die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft im wesentlichen voraus, dass der Asylbewerber oder die Asylbewerberin ernsthafte Nachteile bestimmter Intensität bereits erlitten hat oder bei einer Rückkehr in das Heimatland solche mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit und in absehbarer Zukunft befürchten muss, welche ihm oder ihr individuell gezielt und aufgrund bestimmter Verfolgungsmotive mittelbar oder unmittelbar vom Heimatstaat und seinen Organen zugefügt worden sind beziehungsweise zugefügt werden. Im Falle bereits erlittener Nachteile muss zwischen der Ausreise und der Verfolgung zudem ein kausaler Zusammenhang in zeitlicher und sachlicher Hinsicht bestehen und schliesslich muss es dem Gesuchsteller oder der Gesuchstellerin unmöglich sein, in einem anderen Teil seines oder ihres Heimatstaates Schutz vor Verfolgung zu finden (vgl. EMARK 1995 Nr. 2, S. 14 ff.; W. Kälin, Grundriss des Asylverfahrens, Basel/Frankfurt a.M. 1990, S. 38 ff., 71 ff. und 125 ff.; A. Achermann/C. Hausammann, Handbuch des Asylrechts, Bern/Stuttgart 1991, S. 74 f., 89 f. und 107 ff.; S. Werenfels, Der Begriff des Flüchtlings im schweizerischen Asylrecht, Bern 1987, S. 181 ff., 294 ff. und 333 ff.).

b) Hinsichtlich der im Jahre 1992 erfolgten Beschlagnahme der Identitätspapiere stellte die Vorinstanz zu Recht fest, dass diese Massnahme mangels Verfolgungsintensität nicht asylrelevant sei. Dieselbe Feststellung gilt bezüglich der von der Beschwerdeführerin geltend gemachten polizeilichen Behelligungen in ihrem Elternhause in der ersten Hälfte des Jahres 1994. Auch diese Massnahmen waren nicht von derartiger Intensität, als dass der Rekurrentin dadurch ein menschenwürdiges Leben im Verfolgerstaat verunmöglicht oder in


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unzumutbarer Weise erschwert worden wäre, so dass sich die Rekurrentin dieser Zwangssituation nur durch Flucht ins Ausland hätte entziehen können. Anders ist die Situation hinsichtlich der geltend gemachten Mitnahmen, insbesondere der als glaubhaft dargestellten Vergewaltigung vom 2. Januar 1994 zu erachten. Eine Vergewaltigung stellt unter Berücksichtigung der gesundheitlichen, psychischen und sozialen Auswirkungen im Regelfall eine Verletzung der körperlichen Integrität von schwerwiegendem Ausmass dar. Stellt man vorliegendenfalls die erwähnten Behelligungen und Schikanen durch die serbische Polizei ebenfalls in Rechnung, muss man zum Schluss gelangen, dass die Gesamtheit der gegen die Beschwerdeführerin ergriffenen Verfolgungsmassnahmen jedenfalls von genügender Verfolgungsintensität sind, denn der Beschwerdeführerin ist ein menschenwürdiges Dasein in ihrer Heimat nach den erfolgten Misshandlungen und Behelligungen nicht mehr möglich. Die Voraussetzung der individuell gezielten Zufügung der erwähnten Nachteile ist zu bejahen, kann doch nicht davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführerin zufällig in der von ihr geltend gemachten Weise misshandelt worden ist. Auch die asylrechtliche Motivation hinsichtlich der
vorerwähnten Verfolgungsmassnahmen ist gegeben, denn einerseits ist die Beschwerdeführerin albanischer Ethnie und islamischer Religionszugehörigkeit und andererseits gehört die Rekurrentin insofern einer sozialen Gruppe im Sinne ihrer Familie an, als ihr Bruder von den staatlichen Behörden gesucht worden ist (vgl. Kälin, a.a.O., S. 96 m.w.H.).

c) aa) Zu untersuchen ist schliesslich, ob die von der Beschwerdeführerin erlittene Verfolgung dem Staate zugerechnet werden kann. Direkte staatliche Verfolgung liegt vor, wenn die Verfolgung von staatlichen Organen ausgeht. Mittelbare staatliche Verfolgung ist gegeben, wenn der Staat Verfolgung durch Private unterstützt, billigt oder tatenlos hinnimmt und damit den Betroffenen den erforderlichen Schutz nicht gewährt, obwohl er zur Schutzgewährung in der Lage wäre; der Staat manifestiert diesfalls also seine Schutzunwilligkeit. Im Falle fehlender Schutzfähigkeit hat die Praxis neuerdings die quasi-staatliche Verfolgung unter bestimmten Voraussetzungen als asylrelevant anerkannt (vgl. EMARK 1995 Nr. 2, S. 14. ff.). Rein private Verfolgung ist dagegen nicht asylrelevant (vgl. Kälin, a.a.O, S. 60 ff.; Achermann/Hausammann, a.a.O, S. 82 ff.; Werenfels, a.a.O., S. 217 ff.).

bb) In Literatur und Praxis ist unbestritten, dass dem Staat auch Verfolgungsmassnahmen von Trägern hoheitlicher Funktionen direkt anzulasten sind, welche - wie vorliegendenfalls - in Verletzung der Amtspflichten bei der Amtsausübung begangen werden, sofern der Staat diese billigt. Keine Flüchtlings-


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eigenschaft vermag solche Verfolgung allerdings dann zu begründen, wenn der Betroffene sich an den Staat wenden kann und dieser wirklich gegen den Amtsmissbrauch vorgehen wird (vgl. Werenfels, a.a.O., S. 220; Kälin, a.a.O., S. 62; Achermann/Hausammann, a.a.O., S. 83 ff. und 117; E. Bauer/ K. Moussa, Frauenflüchtlinge in der Schweiz, Bern 1993, S. 116 f.; C. Hausammann, Frauenverfolgung und Flüchtlingsbegriff, Bern 1992, S. 20 ff.). Es ist vorliegend also zu untersuchen, ob der restjugoslawische Staat solche Missbräuche im Kosovo billigt oder nichts zu deren Verhinderung unternimmt. Dabei wird man es nicht mit der Feststellung bewenden lassen können, die Betroffene habe die Einreichung einer Strafanzeige unterlassen, denn dieser Umstand lässt keineswegs darauf schliessen, dass der betreffende Staat willig ist beziehungsweise willig wäre, allfällige Täter wirklich zur Rechenschaft zu ziehen. Vielmehr ist in einem solchen Fall zu fragen, ob die Betroffene allenfalls einen nachvollziehbaren Grund hatte, sich nicht an die Strafverfolgungsbehörden dieses Staates zu wenden. Dabei kann ins Gewicht fallen, ob sexuelle Gewalt im betreffenden Staat nur zum Schein oder mit unverhältnismässig geringer Bestrafung geahndet wird; zudem ist auf
die Häufigkeit derartiger Vorkommnisse im betreffenden Staat abzustellen und schliesslich ist zu berücksichtigen, ob der Betroffenen in Anbetracht dieser allgemeinen und ihrer persönlichen Umstände die Einreichung einer Strafanzeige zuzumuten gewesen wäre.

cc) Die Beschwerdeführerin machte anlässlich der Empfangsstellenbefragung sinngemäss geltend, sie habe keine Anzeige eingereicht, da es sich bei den Vorgesetzten der Polizisten ebenfalls um Serben handle. Tatsächlich haben sich zum damaligen Zeitpunkt in Folge von Massenentlassungen keine Albaner mehr im Polizeidienst befunden. Im Zusammenhang mit der Zugehörigkeit der Rekurrentin zur albanischen Bevölkerungsmehrheit im Kosovo, welche unbestrittenermassen offensichtlichen Diskriminierungen und Übergriffen der serbischen Ordnungskräfte ausgesetzt ist, ist es in der Tat fraglich, inwiefern sie bei einer Strafanzeige mit Verständnis und nicht mit erneuten Benachteiligungen der serbischen Untersuchungsbehörden hätte rechnen können beziehungsweise müssen: Der "Council for the Defence of Human Rights and Freedom" (CDHRF) in Pristina berichtete von 2157 Fällen von physischer Misshandlung für das Jahr 1994 und von mindestens 781 Misshandlungen in verschiedener Form an Kosovo-Albanern in den ersten beiden Monaten des Jahres 1995; die "Demokratische Liga Kosovos" (LDK) soll im Berichtszeitraum 1994 insgesamt 4008 Fälle von körperlicher Misshandlung festgestellt haben. Stellt man diesen Zahlen die im gleichen Zeitraum bekanntgewordenen
Fälle gegenüber, in denen Angehörige der Ordnungskräfte wegen derartiger


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Übergriffe gerichtlich zur Rechenschaft gezogen worden sind, ergibt sich ein krasses statistisches Missverhältnis, denn gemäss der Auskunft eines Länderexperten wurden im gleichen Zeitraum ganze zwei Fälle bekannt, in denen serbische Polizisten wegen physischer Gewaltanwendung in Untersuchungshaft gesetzt worden sind; darüber, dass eine erstinstanzliche Verurteilung ergangen wäre, sei zwischenzeitlich nichts bekannt geworden, wobei die Ausfällung einer das gesetzlich vorgesehene Strafmass ausschöpfenden Strafe in derartigen Fällen erfahrungsgemäss unwahrscheinlich sei. Die Erklärung für dieses Missverhältnis ist gemäss den Aussagen dieses Länderexperten einerseits in der Angst der Opfer vor allfälligen weiteren Benachteiligungen bei der Einreichung einer Anzeige und andererseits in der generell geringen Sanktionswahrscheinlichkeit im Falle einer tatsächlich eingeleiteten Strafuntersuchung zu sehen.

dd) Dass diese Bestandesaufnahme und deren Erklärung nicht nur in der vorerwähnten Zeitperiode, sondern auch in anderen Jahren Gültigkeit hatte, lässt sich beispielsweise anhand der Jahresberichte 1993 und 1994 von Amnesty International bestätigen: Die erwähnte Organisation habe in den Jahren 1992 und 1993 nahezu täglich Meldungen über Misshandlungen an ethnischen Albanern durch die serbische Polizei erhalten. Damals seien die Schicksale von 15 Folteropfern im Kosovo anhand von medizinischen Gutachten und Fotos beispielhaft dokumentiert und publiziert worden. Amnesty habe daraufhin eine Stellungnahme des jugoslawischen Justizministeriums erhalten, in der sämtliche Vorwürfe über polizeiliche Übergriffe zurückgewiesen worden seien; es sei betont worden, die Polizei habe ausschliesslich in Notwehrsituationen physische Gewalt angewandt, weswegen ihr Vorgehen rechtlich nicht zu beanstanden sei (vgl. Jahresbericht 1993, S. 279). Im Jahresbericht 1994 wird einerseits von oftmals unfairen Gerichtsverfahren gegenüber albanischen Häftlingen und andererseits vom ersten Fall seit Jahren berichtet, bei dem Ordnungskräfte im Zusammenhang mit Todesfällen in Haft strafrechtlich in erster Instanz belangt worden seien; im gleichen Atemzug
werden andere Fälle von Todesfällen nach Misshandlungen in Haft oder Verschwindenlassen erwähnt, in denen die Behörden weder Untersuchungen der Misshandlungsvorwürfe noch strafrechtliche Schritte gegen die Verantwortlichen eingeleitet haben sollen (vgl. Jahresbericht 1994, S. 284 ff). In Anbetracht dieser allgemeinen Verhältnisse und unter Berücksichtigung der gerichtsnotorischen Beweisschwierigkeiten bei Fällen sexueller Gewalt ist es nachvollziehbar, dass bei den albanischstämmigen Betroffenen wenig Vertrauen in die serbische Justiz vorhanden ist und daher im allgemeinen auf die Einleitung strafrechtlicher Schritte verzichtet wird.


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ee) Es vermag daher auch nicht zu erstaunen, dass eine präzise Aussage hinsichtlich der Häufigkeit von derartigen Vergewaltigungsfällen im Kosovo zahlenmässig nicht möglich ist. Einerseits ist nur eine verschwindend geringe Anzahl von konkreten Einzelfälle bekannt und andererseits muss gerade in diesem Kontext aus sozio-kulturellen Gründen eine hohe Dunkelziffer angenommen werden. Aufgrund der vorhandenen Informationen ist immerhin auszuschliessen, dass die Vergewaltigung im Kosovo in vergleichbarem Ausmass und gleich systematisch wie in Bosnien-Herzegowina betrieben wird. Letztlich ist in persönlicher Hinsicht zu berücksichtigen, dass die Beschwerdeführerin nebst der Vergewaltigung auch andere Behelligungen (Schläge, Beschlagnahme von Identitätspapieren) durch die serbischen Ordnungskräfte erlitten hat und sie von daher erst recht kein Vertrauen in die Justiz haben konnte. Es kommt hinzu, dass die Rekurrentin stets betont hat, sie habe starke Schamgefühle und ihre Angehörigen sollten keine Kenntnis von diesem Vorfall erlangen. In der Tat gilt es den sozio-kulturellen Hintergrund auch in persönlicher Hinsicht zu veranschlagen, denn die Beschwerdeführerin hatte infolge muslimischer Religionszugehörigkeit und der Ledigkeit
gesellschaftliche Nachteile im Falle einer Anzeige und der damit verbundenen Publizität zu gewärtigen. In Würdigung all der genannten Umstände gelangt die Asylrekurskommission im vorliegenden Einzelfall zur Auffassung, dass auch einer Drittperson in vergleichbarer Situation die Einreichung einer Strafanzeige nicht hätte zugemutet werden können. Nach dem Gesagten ist überwiegend zu bezweifeln, ob der Staat die Täter im Falle einer Strafanzeige wirklich zur Rechenschaft gezogen hätte. Die von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Nachteile muss sich der Staat infolgedessen anrechnen lassen.

5. - Zusammenfassend ergibt sich somit, dass die Vorinstanz das Asylgesuch der Beschwerdeführerin zu Unrecht abgelehnt hat. Die angefochtene Verfügung ist aufzuheben und die Vorinstanz ist anzuweisen, der Beschwerdeführerin Asyl zu gewähren. Die Akten sind zur Behandlung der weitergehenden Verfahrensanträge, wonach der Beschwerdeführerin ein Kantonswechsel und eine Therapie bei einer italienisch sprechenden Fachfrau zu ermöglichen sei, an die dafür zuständige Vorinstanz zu überweisen.


Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 1996-16-136-149
Datum : 08. Juli 1994
Publiziert : 08. Juli 1994
Quelle : Vorgängerbehörden des BVGer bis 2006
Status : Publiziert als 1996-16-136-149
Sachgebiet : Jugoslawien
Gegenstand : Art. 3 Abs. 1 und 12a AsylG: Glaubhaftigkeit und Asylrelevanz einer Vergewaltigung durch Polizisten.


BGE Register
118-IA-144
Stichwortregister
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1995 • abklärung • albanisch • amnesty international • amtsmissbrauch • angabe • anhörung oder verhör • anmerkung • arztzeugnis • asylbewerber • asylrecht • asylrekurskommission • asylverfahren • aufgabenteilung • ausführung • auskunftspflicht • ausreise • ausschaffung • ausweisentzug • beginn • begründung des entscheids • bericht • beschwerdeantwort • beurteilung • beweismittel • bewilligung oder genehmigung • bosnien-herzegowina • bundesgericht • dauer • diagnose • eigenschaft • einladung • empfangsstelle • entscheid • erleichterter beweis • erste instanz • ethnie • examinator • falsche angabe • familie • flucht • frage • funktion • garantie der menschenwürde • geld • geschwister • geschäftsbericht • gesuchsteller • gesundheitszustand • gewicht • grundlagenwerk • heimatstaat • indiz • information • kenntnis • kommunikation • kosovo • körperliche integrität • leben • literatur • mass • massenentlassung • medizinisches gutachten • mitwirkungspflicht • monat • mutter • opfer • polizei • prüfung • psychiatrische untersuchung • psychiatrisches gutachten • psychisches leiden • rechtsgleiche behandlung • repressalien • richterliche behörde • richtigkeit • sachverhalt • sachverständiger • schweizer bürgerrecht • statistik • stelle • strafanzeige • strafuntersuchung • tag • therapie • unrichtige auskunft • untersuchungshaft • untersuchungsmaxime • vergewaltigung • verhalten • verurteilung • verwandtschaft • voraussehbarkeit • voraussetzung • vorinstanz • vorteil • zahl • zimmer • zweifel
EMARK
1995/2 S.14