2017 VI/10

Auszug aus dem Urteil der Abteilung IV
i.S. A. gegen Staatssekretariat für Migration
D-2177/2015 vom 11. Dezember 2017

Nichteintreten auf ein Asylgesuch (Dublin-Verfahren). Frage der Anwendbarkeit der " Tarakhel-Praxis " auf andere verletzliche Personengruppen. Prüfung des Selbsteintritts aus humanitären Gründen aufgrund der Verfahrensdauer sowie neuer Sachverhaltselemente.

Art. 3
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 3 Verbot der Folter - Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
EMRK. Art. 17 Abs. 1, Art. 31, Art. 32 Dublin-III-VO.

1. Die aufgrund des Urteils Tarakhel des EGMR für die Überstellung von Familien mit Kindern nach Italien entwickelten Grundsätze (Einholung von individuellen Garantien als Zulässigkeitsvoraussetzung, vgl. BVGE 2015/4) werden nicht auf weitere Kategorien von besonders verletzlichen Personen angewendet (E. 5).

2. Rückweisung der Sache an das SEM im Hinblick auf einen allfälligen Selbsteintritt aus humanitären Gründen; im vorliegenden Fall aufgrund der langen, vom Beschwerdeführer nicht zu vertretenden Verfahrensdauer sowie neuer Erkenntnisse über seinen Gesundheitszustand (E. 6).

Non-entrée en matière sur une demande d'asile (procédure Dublin). Applicabilité de la " pratique Tarakhel " d'autres groupes de personnes vulnérables. Examen de l'application de la clause de souveraineté pour raisons humanitaires cause de la durée de la procédure et de nouveaux éléments de fait.

Art. 3 CEDH. Art. 17 al. 1, art. 31, art. 32 règlement Dublin III.

1. Les principes développés sur la base de l'arrêt Tarakhel de la CourEDH concernant le transfert de familles avec enfants en Italie (exigence de garanties individuelles comme condition d'admission: cf. ATAF 2015/4) ne s'appliquent pas d'autres catégories de personnes particulièrement vulnérables (consid. 5).

2. Renvoi de la cause au SEM en vue de l'éventuelle application de la clause de souveraineté pour raisons humanitaires; en l'espèce, renvoi cause de la durée de la procédure, non imputable au recourant, et de nouveaux éléments relatifs son état de santé (consid. 6).

Non entrata nel merito di una domanda d'asilo (procedura Dublino). Applicabilit della " prassi Tarakhel " ad altre categorie di persone vulnerabili. Esame dell'applicazione della clausola di sovranit per ragioni umanitarie fondata sulla durata della procedura nonché su nuovi elementi di fatto.

Art. 3 CEDU. Art. 17 cpv. 1, art. 31, art. 32 regolamento Dublino III.

1. I principi sviluppati dalla CorteEDU sulla base della sentenza Tarakhel riguardo al trasferimento in Italia di famiglie con bambini (ottenimento di assicurazioni concrete come presupposto dell'ammissibilit : cfr. DTAF 2015/4) non si applicano ad altre categorie di persone particolarmente vulnerabili (consid. 5).

2. Rinvio della causa alla SEM in vista dell'eventuale applicazione della clausola di sovranit per ragioni umanitarie nella fattispecie a causa della lunga durata della procedura non imputabile al ricorrente, nonché degli elementi di fatto relativi al suo stato di salute (consid. 6).

Der Beschwerdeführer ersuchte am 25. November 2014 um Asyl. Er wurde für die weitere Behandlung seines Asylgesuchs dem Testbetrieb in Zürich zugewiesen. Nachdem eine Botschaftsanfrage ergab, dass er mit einem italienischen Touristenvisum in die Schweiz gereist war, wurde ihm am 20. Januar 2015 das rechtliche Gehör zum Dublin-Verfahren gewährt, da mutmasslich Italien als zuständig für sein Asylverfahren erachtet werde.

Am 22. Januar 2015 nahm die Rechtsvertreterin Stellung zur beabsichtigten Wegweisung nach Italien. Sie berief sich auf die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall Tarakhel gegen die Schweiz vom 4. November 2014, 29217/12, wonach die Sicherheitsvermutung für Italien nicht länger haltbar und die Zulässigkeit der Überstellung im Einzelfall zu prüfen sei. Der Beschwerdeführer sei eine besonders verletzliche Person. Er leide an hohem Blutdruck sowie Schmerzen an den Extremitäten und am Rücken. Da er männlich und alleinstehend sei, sei für ihn die Wahrscheinlichkeit erhöht, in Italien keine Unterkunft zu erhalten. Deshalb sei seine Wegweisung unzulässig, sofern keine individuelle Prüfung stattfinde und von den italienischen Behörden keine Garantien eingeholt würden hinsichtlich des Zugangs zum Asylverfahren, adäquater Unterbringung und Betreuung sowie der notwendigen medizinischen Versorgung. Zum Beleg des medizinischen Vorbringens legte die Rechtsvertreterin einen ärztlichen Bericht vor.

Am 27. Januar 2015 ersuchte das Dublin-Office des Staatssekretariats für Migration (SEM) die italienischen Behörden um Aufnahme des Beschwerdeführers gestützt auf die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung), ABl. L 180/31 vom 29.6.2013 (nachfolgend: Dublin-III-VO).

Zwischen dem 25. Februar 2015 und dem 23. März 2015 reichte die Rechtsvertreterin weitere Arztberichte ein, aus denen hervorgeht, dass der Beschwerdeführer unter einer krankhaften Überfunktion der Schilddrüse leidet sowie an einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer mittelschweren Depression, an Bluthochdruck und an weiteren nicht näher bezeichneten Symptomen, welche das Erkennungsvermögen und das Bewusstsein betreffen, sowie an Vergesslichkeit. Er werde engmaschig ärztlich überwacht und erhalte Medikamente.

Am 30. März 2015 teilte das Dublin-Office des SEM den italienischen Behörden mit, es halte Italien als für die Prüfung des Asylgesuchs des Beschwerdeführers zuständig, da innert Frist keine Antwort eingegangen sei. Gleichentags wurde der Rechtsvertreterin der Entwurf des Nichteintretensentscheids übermittelt. Zur Begründung führte das SEM aus, Italien sei gemäss Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO zuständig, die Überstellung sei ferner sowohl zulässig als auch zumutbar. Weder verletze Italien die Aufnahmebedingungen in systematischer Weise noch seien individuell Anhaltspunkte ersichtlich, wonach der Beschwerdeführer dort in eine existenzielle Notlage geraten würde. Es sei nicht angezeigt, bei den italienischen Behörden entsprechende Garantien einzuholen. Dem aktuellen psychischen und physischen Gesundheitszustand des Beschwerdeführers werde bei der Organisation der Überstellung Rechnung getragen, indem die italienischen Behörden über die besondere Schutzbedürftigkeit und die notwendige medizinische Behandlung zum Zeitpunkt der Überstellung informiert würden, sodass die Weiterbehandlung als gewährleistet erachtet werde. Italien werde die nötige medizinische Unterstützung leisten und der Beschwerdeführer könne
sich an die dortigen Behörden wenden. Am 31. März 2018 erging der entsprechende Nichteintretensentscheid des SEM.

In der Beschwerde vom 8. April 2015 beantragte die Rechtsvertreterin die Aufhebung dieser Verfügung und die Rückweisung der Sache an das SEM. Die Vorinstanz sei anzuweisen, vor Erlass einer neuen Verfügung bei den italienischen Behörden eine Garantie einzuholen, dass der Beschwerdeführer nach der Überstellung Zugang zu einer adäquaten Unterkunft, Betreuung und medizinischer Versorgung erhalte. Italien verzeichne gravierende Engpässe bei den Unterkünften. Sehr wahrscheinlich werde der verletzliche Beschwerdeführer in Italien keine geeignete Unterkunft finden. Es bestehe ein hohes Risiko für eine unangemessene Behandlung im Sinne von Art. 3
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EMRK. Die Vorinstanz müsse deshalb Abklärungen vornehmen hinsichtlich seiner Unterbringung und medizinischer Betreuung. Seien bei diesen Abklärungen Engpässe ersichtlich, so sei die Vorinstanz verpflichtet, entsprechende Garantien einzuholen. Andernfalls dürfe der Beschwerdeführer nicht überstellt werden. Eine blosse Information der italienischen Behörden reiche nicht aus.

In seiner Stellungnahme vom 24. April 2015 hielt das SEM am angefochtenen Entscheid fest und ergänzte, der Beschwerdeführer befinde sich nicht in einem fortgeschrittenen oder terminalen Krankheitsstadium. Nur in diesem Fall stelle eine zwangsweise Rückweisung überhaupt einen Verstoss gegen Art. 3
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EMRK dar. Das Urteil Tarakhel beziehe sich auf die Wegweisung einer Familie im Dublin-Kontext und nicht auf andere Personengruppen. Der Gerichtshof habe keine systemischen Unzulänglichkeiten im italienischen Asylsystem festgestellt. Das Urteil habe im vorliegenden Fall keine weitere Bewandtnis, weshalb das SEM nicht verpflichtet sei, entsprechende Garantien einzuholen.

In der Replik vom 4. Mai 2015 erklärte die Rechtsvertreterin, der behandelnde Arzt habe ihr telefonisch die Situation erläutert und bestätigt, dass die Krankheit des Beschwerdeführers unbehandelt zum Tod führe und er lebenslang Medikamente einnehmen und engmaschig ärztlich überwacht werden müsse. Die Einholung von Garantien hinsichtlich der Unterkunft und des Zugangs zu medizinischer Versorgung sei unabdingbar.

In der Folge dokumentierte die Rechtsvertreterin den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers fortlaufend mit Berichten der ihn behandelnden Ärzte und wies darauf hin, dass die für ihn überlebenswichtige Behandlung neben der Behandlung durch den Hausarzt ein aktives Zusammenwirken verschiedener Fachärzte voraussetze. Bezugnehmend auf aktuelle Berichte über die Situation für Asylsuchende in Italien legte sie dar, dass der Beschwerdeführer Gefahr laufe, obdachlos zu werden, und die dringend nötige lückenlose ärztliche Betreuung unter diesen Umständen nicht sichergestellt sei.

Im März 2017 informierte die Rechtsvertreterin, dass der Beschwerdeführer eine Radiojodtherapie erhalten werde und inzwischen auch wegen eines chronischen Augenleidens regelmässig in Behandlung stehe.

Im Schreiben vom 11. April 2017 führte die Rechtsvertreterin aus, der Beschwerdeführer befinde sich seit nunmehr zwei Jahren in der Schweiz und in einem umfassenden Betreuungssetting, das durch das Zusammenwirken verschiedener Ärzte gewährleistet sei. Inzwischen nehme er auch an einem Beschäftigungsprogramm teil, das eine stabilisierende Wirkung habe. Sie legte einen Arztbericht des behandelnden Psychiaters vom 7. April 2017 vor, dem zu entnehmen ist, dass der Beschwerdeführer weiterhin unter Stimmungsschwankungen leide und ihn der Umstand seiner Flucht und das Zurücklassen seiner Familie in Sri Lanka sehr stark beschäftige. Er benötige eine stabile Umgebung.

Aus den Erwägungen:

5.

5.1 Das Bundesverwaltungsgericht hat sich bis anhin nicht abschliessend geäussert, ob sich die in BVGE 2015/4 E. 4.1 und 4.2 skizzierte Argumentation und die daraus resultierende Verpflichtung zur Einholung von individuellen Garantien zur Abwendung eines drohenden Risikos der Verletzung von Art. 3
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EMRK im Einzelfall ausschliesslich auf Fälle beschränkt, in denen Familien mit Kindern im Dublin-Verfahren nach Italien überstellt werden sollen, oder ob die Zulässigkeit der Überstellung auch bei anderen Kategorien von besonders verletzlichen Personen vom Vorliegen einer individuellen Garantie abhängig gemacht werden muss.

5.2 Der EGMR selbst hat diese Frage insoweit offengelassen, als er sich nach den allgemeinen Ausführungen (vgl. Urteil Tarakhel, " [a] Recapitulation of general principles ", §§ 93â¿¿99) mit dem Einzelfall der Familie Tarakhel und â¿¿ angesichts dieser Konstellation â¿¿ insbesondere mit dem Kindeswohl auseinandersetzte. Das Gericht prüfte die individuelle Schutzbedürftigkeit beziehungsweise inwieweit eine drohende Obdachlosigkeit und die mit der nicht ausreichenden Unterbringung verbundene Gefahr der Familientrennung rechtlich zu bewerten sei. Es kam zum Schluss, dass es eine Verletzung von Art. 3
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EMRK darstellen würde, wenn die Schweizer Behörden eine Überstellung von Familien mit Kindern nach Italien vornähmen, ohne zuvor von den italienischen Behörden eine individuelle Garantie erhalten zu haben, dass die Einheit der Familie gewahrt und für eine kindgerechte Unterbringung gesorgt werde (vgl. Urteil Tarakhel § 122; vgl. auch BVGE 2015/4 E. 4.1).

5.3 Das Bundesverwaltungsgericht vermag sich der Argumentation in der Beschwerde, wonach die Behörden in Dublin-Verfahren zwingend verpflichtet sein sollen, individuelle Garantien bei Überstellungen nach Italien nicht nur bei Familien mit Kindern, sondern auch bei anderen als vulnerabel zu bezeichnenden Personen einzuholen, aus den folgenden Erwägungen nicht anzuschliessen.

5.4 Die Grosse Kammer hat sich nicht explizit zur Reichweite der Anwendbarkeit der im Urteil Tarakhel bezüglich der Einholung von Garantien im Einzelfall niedergelegten Grundsätze geäussert. Tatsächlich erfolgt die Auseinandersetzung mit der Unterbringungssituation und den Aufnahmestrukturen in Italien losgelöst von der Auseinandersetzung mit dem Einzelfall (vgl. Urteil Tarakhel § 37 ff., § 106 ff.). Die vorgelagerte Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Verhältnissen in Italien sowie die daraus gezogenen Schlussfolgerungen (keine systemischen Mängel, jedoch ein eklatanter Notstand in der Unterbringungssituation) beziehen sich auf die Situation des italienischen Asylwesens als Ganzes. Allerdings macht der Gerichtshof deutlich, dass dieser Darstellung im Rahmen der Berücksichtigung des Kindeswohls und der Situation, in welcher sich Familien befinden, eine besondere Beachtlichkeit zukomme. Zwar rekurriert die Grosse Kammer auf ihre Aussagen im Urteil M.S.S. gegen Belgien und Griechenland vom 21. Januar 2011, 30696/09, wonach Asylsuchende als " Mitglieder einer besonders unterprivilegierten und verletzlichen Bevölkerungsgruppe " zu bezeichnen seien (vgl. Urteil Tarakhel § 97) und deshalb auch nicht auszuschliessen
sei, dass die Verantwortlichkeit eines Staats unter Art. 3
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EMRK gegeben sein könne, wenn eine völlig von staatlicher Unterstützung abhängige asylsuchende Person mit Gleichgültigkeit seitens des Staats konfrontiert sei, während sie sich in einer mit der Menschenwürde unvereinbaren Situation ernster Bedürftigkeit be-
finde (vgl. Urteil Tarakhel § 98). Dabei geht sie im Hinblick auf Minderjährige von einer " extremen Verletzlichkeit " aus (vgl. Urteil Tarakhel § 99). Im italienischen Kontext, so der Gerichtshof an anderer Stelle, sei diese Anforderung des " besonderen Schutzes " von Asylsuchenden angesichts deren spezieller Bedürfnisse und Verletzlichkeit besonders bedeutsam, sofern Kinder betroffen seien (vgl. Urteil Tarakhel § 119). Falls eine kindgemässe Unterbringung und Versorgung nicht gewährleistet sei â¿¿ und allenfalls die Gefahr bestehe, dass Kinder von ihren Eltern getrennt würden â¿¿, so sei der Schutzbereich von Art. 3
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EMRK betroffen (vgl. Urteil Tarakhel § 120). Es ist erkennbar, dass der Gerichtshof die Situation von minderjährigen Kindern im Verhältnis zu den übrigen â¿¿ ebenfalls grundsätzlich schon als verletzlich erachteten â¿¿ Asylsuchenden als deutlich kritischer einschätzte und deshalb auch zum Schluss kam, es seien individuelle Zusicherungen nötig, um dem Kindeswohl Rechnung zu tragen. Diesen Ausführungen ist jedoch nicht zu entnehmen, dass der Gerichtshof damit Aussagen betreffend die Überstellung von anderen besonders Verletzlichen, insbesondere kranken Personen, treffen wollte â¿¿ eine
Unklarheit, die in der " Joint partly dissenting opinion " der dem Urteil Tarakhel nicht zustimmenden Richterinnen und Richter auch ausdrücklich bemängelt wurde (vgl. Joint Partly Dissenting Opinion der Richterinnen Berro-Lefèvre und Jäderblom und des Richters Casadevall im Anschluss an das Urteil).

5.5 In diesem Zusammenhang sind auch die nach dem Urteil Tarakhel ergangenen Urteile des EGMR A.M.E. gegen Niederlande vom 13. Januar 2015, 51428/10, sowie A.S. gegen Schweiz vom 30. Juni 2015, 39350/13, beachtlich. Beide beleuchteten die Ausgangslage der Beschwerdeführer anhand der vom Gerichtshof im Fall Tarakhel aufgestellten Kriterien, um das individuell drohende Gefährdungsrisiko im Rahmen von Art. 3
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EMRK zu prüfen (vgl. Urteil Tarakhel §§ 93â¿¿99): Der Gerichtshof erachtete als Prüfschema für das Vorliegen einer drohenden Gefährdung im Fall der Überstellung folgende Faktoren für beachtlich: " (...) the sex, age and state of health of the victim " (vgl. Urteil Tarakhel § 94). Auch die genannten Urteile folgen bei der Prüfung von Art. 3
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EMRK den Grundsätzen, wie sie in den Par. 93â¿¿99 und 101â¿¿104 des Urteils Tarakhel niedergelegt wurden (vgl. Urteil A.M.E. § 28, Urteil A.S. § 26). Ausdrücklich weist der Gerichtshof in beiden Urteilen darauf hin, dass die Anwendbarkeit von Art. 3
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EMRK ein gewisses Mindestmass an Schwere voraussetze, welches von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls abhängig sei. Wie im Fall Tarakhel werden dabei die Dauer der Behandlung (hier die Obdachlosigkeit bzw. die
unzureichende Unterbringung), ihre Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit sowie unter Umständen weitere Faktoren wie Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand der betroffenen Personen genannt (vgl. Urteil A.M.E. § 28). Allerdings kommt der Gerichtshof zu anderen Schlüssen â¿¿ auch weil in diesen Fällen keine Kinder betroffen waren. Im dem Urteil A.M.E. zugrunde liegenden Sachverhalt konnte der Antragsteller, ein junger, alleinstehender, gesunder Mann, der von den Niederlanden nach Italien überstellt werden sollte, das Gericht nicht davon überzeugen, dass er sich nach erfolgter Überstellung nach Italien in einer Situation befinden würde, die zur Annahme einer Gefährdung nach Art. 3
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EMRK hätte führen können (vgl. Urteil A.M.E. § 35, 36). Auch im Urteil A.S. gelang dieser Nachweis nicht (vgl. Urteil A.S. § 36) und das Gericht verneinte die Notwendigkeit, individuelle Garantien einzuholen. In einem weiteren Fall hielt der EGMR noch genereller fest, Dublin-Überstellungen Erwachsener nach Italien seien im Grundsatz mit Art. 3
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EMRK vereinbar (vgl. das Urteil des EGMR Jihana Ali u. a. gegen die Schweiz vom 4. Oktober 2016, 30474/14, § 36), und zwar ohne Zusicherungen einholen zu müssen.

5.6 Für die Sichtweise, wonach der EGMR im Urteil Tarakhel ein Prozedere nur für den Fall der Überstellung von Familien mit Kindern nach Italien vorgeben wollte, spricht nicht zuletzt auch der Umstand, dass die Dublin-III-VO den Austausch von Informationen über den Gesundheitszustand von zu überstellenden Asylsuchenden in Art. 32 bereits im Verordnungstext selbst ausdrücklich geregelt hat. Angesichts der ohnehin schon bestehenden Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die relevanten Daten auszutauschen, erübrigt sich im Grundsatz eine weitere Verpflichtung zur Einholung von individuellen Garantien, jedenfalls im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung. Ob die betreffenden Mitgliedstaaten ihrer Verpflichtung aus Art. 32 Dublin-III-VO im Rahmen der Planung des Vollzugs der Überstellung im Einzelnen genügend nachkommen, ist eine andere Frage, die vorliegend offenbleiben kann. Festzuhalten ist, dass die Vorinstanz auch im vorliegenden Fall im Rahmen ihres Entscheids zu Recht darlegte, den individuellen Bedürfnissen des Beschwerdeführers werde durch den Informationsaustausch nach Art. 32 Abs. 1 Dublin-III-VO Rechnung getragen. Vorliegend ging die Vorinstanz im Rahmen der Vernehmlassung vom 24. April 2015 auf die Gesundheitsversorgung
von Asylsuchenden in Italien ein und sprach die Möglichkeit an, allenfalls im Rahmen der Überstellungsmodalitäten auf einen entsprechenden Behandlungs- und Therapiebedarf des Beschwerdeführers hinzuweisen.

5.7 Als Fazit ist festzuhalten, dass die im Urteil Tarakhel betreffend die Einholung individueller Garantien festgehaltenen Grundsätze nach Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichts in ihrer zwingenden Anwendung auf Fälle zu beschränken sind, in denen Familien mit Kindern im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Italien überstellt werden sollen. Eine zwingende Verpflichtung, diese Grundsätze auch auf andere Kategorien von besonders verletzlichen (insb. schwerkranken) Asylsuchenden auszudehnen, vermag das Gericht aus dem Urteil nicht herauszulesen.

6.

6.1 Der Beschwerdeführer suchte in der Schweiz am 25. November 2014 um Asyl nach. Das SEM richtete am 27. Januar 2015 ein Übernahmegesuch an die italienischen Behörden. Diese liessen das Gesuch unbeantwortet, weshalb das Dublin-Office den italienischen Partnern am 30. März 2015 mitteilte, Italien werde als zuständig erachtet. Die Verfügung des SEM wurde am 1. April 2015 eröffnet, das vorliegende Beschwerdeverfahren ist seit dem 8. April 2015 hängig. Das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Dublin-Staats dauert mithin heute nahezu drei Jahre, ohne dass der Beschwerdeführer die lange Verfahrensdauer zu verantworten hätte. Bei dieser Sachlage ist zu klären, ob die Weiterführung des Dublin-Verfahrens im vorliegenden Fall noch angezeigt ist.

6.2 Die Dauer des Verfahrens (bzw. der Anwesenheit in der Schweiz) â¿¿ soweit sie nicht von den betroffenen Personen selbst verursacht oder verschuldet worden ist â¿¿ ist einer der Faktoren, die in der Prüfung des humanitären Selbsteintritts in Betracht zu ziehen sind (vgl. Jean-Pierre Monnet, La jurisprudence du Tribunal administratif fédéral en matière de transferts Dublin, in: Schengen und Dublin in der Praxis, Aktuelle Fragen, 2015, S. 427 f.). Vorliegend ist die lange Verfahrensdauer allein dem Umstand geschuldet, dass der Einzelfall Fragen von allgemeiner Bedeutung aufwarf, deren Klärung den Einbezug von drei Abteilungen des Bundesverwaltungsgerichts erforderte.

6.3 Auch der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat in mehreren Urteilen festgestellt, dass ein " unangemessen langes " Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats dazu führen kann, dass der Mitgliedstaat, in dem sich die asylsuchende Person aufhält, den Antrag auf internationalen Schutz nach den Modalitäten von Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO selbst prüfen muss (vgl. Urteil des EuGH vom 21. Dezember 2011 Câ¿¿411/10 und Câ¿¿493/10 N.S. u.a., Slg. 2011 I-13905 Rn. 98; Urteil des EuGH vom 14. November 2013 Câ¿¿4/11 Puid, veröffentlicht in der digitalen Sammlung [Allgemeine Sammlung] unter < http:curia.euro
pa.eu >, Rn. 35; Urteil des EuGH vom 16. Februar 2017 Câ¿¿578/16 C.K. u.a., veröffentlicht in der digitalen Sammlung, Rn. 57, 58).

6.4 Selbst wenn der Beschwerdeführer mit seinem Rechtsbegehren nicht durchdringen konnte, wonach die ihn betreffende Verfügung hätte aufgehoben werden müssen, weil das SEM vor seiner Überstellung nach Italien verpflichtet gewesen wäre, individuelle Garantien einzuholen (vgl. E. 5), ist doch unbestritten, dass der Beschwerdeführer bedeutende gesundheitliche Beeinträchtigungen hat und schwer chronisch krank ist. Es wurde dargelegt, dass seine Leiden der permanenten ärztlichen Betreuung und Kontrolle bedürfen, die sich nach übereinstimmenden Aussagen der behandelnden Ärztinnen und Ärzte dramatisch verschlechtern könnten, sobald der Zugang zu einer ständigen ärztlichen Behandlung und Kontrolle nicht mehr gegeben ist.

Ärztlich attestiert ist eine manifeste Schilddrüsenhyperthyreose, die durch eine Autoimmunerkrankung verursacht wurde (TRAK-positiv, [...]). Sein diagnostizierter Bluthochdruck konnte nur nach langwierigen Untersuchungen eingestellt werden ([...]). Aus den ärztlichen Berichten ergibt sich, dass der Beschwerdeführer fortlaufend und womöglich lebenslang unter ärztlicher Kontrolle die nötigen Medikamente erhalten muss, um seine Krankheiten in Schach halten zu können. Wird die Schilddrüsenüberfunktion nicht richtig behandelt, kann dies eine thyreotoxische Krise (sog. Thyreotoxikose â¿¿ krisenhafte Verschlimmerung einer Schilddrüsenüberfunktion) zur Folge haben, die aufgrund ihrer Symptome akut lebensbedrohlich ist (vgl. dazu die Erläuterungen auf < http://www.base
dow.ch >, abgerufen am 11.07.2017). Ob die ebenfalls diagnostizierten psychischen Beschwerden ([...]) in diesem Zusammenhang stehen oder im Zusammenhang mit seinen Asylvorbringen, ist unklar â¿¿ dies kann aber offenbleiben. Die aufgrund der diagnostizierten Traumatisierung schlechte psychische Verfassung wird derzeit durch stützende Therapie und psychiatrische Medikation stabilisiert ([...]), zusätzlich stabilisierend wirkt sich die Teilnahme an einem Beschäftigungsprogramm aus ([...]). Gemäss Arztbericht vom 7. Dezember 2015 ist der Beschwerdeführer inzwischen auch wegen eines makulären Venenastverschlusses mit zystoidem Makulaödem (Netzhautschwellung), welcher zu einer Sehverschlechterung führt, in Behandlung und erhält regelmässig Injektionen. Auch diese Erkrankung ist chronisch und lebenslang zu behandeln, ansonsten droht eine (dauerhafte) Verschlechterung des Sehvermögens ([...]).

6.5 Der Beschwerdeführer äusserte bereits bei der Einreichung des Gesuchs gesundheitliche Beschwerden. Allerdings war sein Krankheitsbild zu Beginn des Verfahrens noch unklar. Die Arztberichte vom März 2015 lieferten nur erste Anhaltspunkte ([...]), sodass davon ausgegangen werden muss, dass die Vorinstanz zum Zeitpunkt ihres Entscheids am 31. März 2015 noch nicht umfassend über den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers orientiert war. Erst auf Stufe des Beschwerdeverfahrens wurde am 22. Juli 2015 ein umfassenderer Arztbericht des behandelnden Facharztes für innere Medizin vorgelegt. Seit der Einreichung des Gesuchs und während der gesamten Dauer des Verfahrens steht der Beschwerdeführer in engmaschiger ärztlicher Behandlung bei verschiedenen Fachärzten. Sein Krankheitsbild, ebenso wie die bisher erfolgte Therapie, wurde durch die von der Rechtsvertreterin eingereichten Berichte dokumentiert ([...]). Zu den Gesundheitsvorbringen in ihrer Gesamthaftigkeit konnte die Vorinstanz â¿¿ auch betreffend die Prüfung humanitärer Gründe im Sinne von Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO â¿¿ bisher nicht Stellung nehmen. Eine erneute Überprüfung liegt jedoch nahe, da sich der Sachverhalt seit dem im April 2015 ergangenen
Entscheid weiterentwickelt hat. Das Gericht gibt überdies zu bedenken, dass der vorliegende Fall auch in Hinblick auf das Urteil der Grossen Kammer des EGMR Paposhvili gegen Belgien vom 13. Dezember 2016, 41738/10, sowie auch den Entscheid des EuGH in den verbundenen Rechtssachen Câ¿¿578/16 C.K. offene Fragen aufwerfen könnte.

6.6 In einer Gesamtwürdigung all dieser Faktoren erachtet das Bundesverwaltungsgericht es für angezeigt, den Nichteintretensentscheid vom 31. März 2015 aufzuheben und die Sache in Anwendung von Art. 61 Abs. 1
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 61 - 1 Die Beschwerdeinstanz entscheidet in der Sache selbst oder weist diese ausnahmsweise mit verbindlichen Weisungen an die Vorinstanz zurück.
1    Die Beschwerdeinstanz entscheidet in der Sache selbst oder weist diese ausnahmsweise mit verbindlichen Weisungen an die Vorinstanz zurück.
2    Der Beschwerdeentscheid enthält die Zusammenfassung des erheblichen Sachverhalts, die Begründung (Erwägungen) und die Entscheidungsformel (Dispositiv).
3    Er ist den Parteien und der Vorinstanz zu eröffnen.
VwVG zur vollständigen und richtigen Sachverhaltsermittlung und Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 2017/VI/10
Date : 11. Dezember 2017
Published : 27. September 2018
Source : Bundesverwaltungsgericht
Status : 2017/VI/10
Subject area : VI (Asylrecht)
Subject : Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren)


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