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Auszug aus dem Zwischenentscheid der Abteilung II
i.S. A. AG gegen das Bundesamt für Bauten und Logistik
B-6762/2011 vom 10. Februar 2012

Öffentliches Beschaffungswesen. Aufschiebende Wirkung. Wiedererwägung. Replikrecht.

Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Art. 29 Abs. 2 BV. Art. 58 und Art. 66 Abs. 2 Bst. c VwVG. Art. 121 BGG.

1. Aufgrund der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte kann nicht mehr gesagt werden, dass vorsorgliche Massnahmen und Anordnungen betreffend die aufschiebende Wirkung grundsätzlich ausserhalb des Geltungsbereichs von Art. 6 Ziff. 1 EMRK liegen (E. 3.3).

2. Im öffentlichen Beschaffungswesen gilt ein qualifiziertes Beschleunigungsgebot bis zum Ergehen des Zwischenentscheides betreffend die aufschiebende Wirkung (E. 3.4).

3. Das Beschleunigungsgebot führt naturgemäss zur Einschränkung des rechtlichen Gehörs beziehungsweise des Replikrechts, was mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK vereinbar ist. Die Güterabwägung zwischen Beschleunigungsgebot und rechtlichem Gehör kann dazu führen, dass der Beschwerdeführer erst im Hauptverfahren Gelegenheit zur Beschwerdeergänzung erhält (E. 3.5).

Marchés publics. Effet suspensif. Réexamen. Droit de réplique.

Art. 6 ch. 1 CEDH. Art. 29 al. 2 Cst. Art. 58 et art. 66 al. 2 let. c PA. Art. 121 LTF.

1. Sur la base de la jurisprudence récente de la Cour européenne des Droits de l'Homme, il n'est plus possible d'affirmer que les mesures provisionnelles, respectivement les décisions concernant l'effet suspensif, n'entrent en principe pas dans le champ d'application de l'art. 6 ch. 1 CEDH (consid. 3.3).

2. Jusqu'au prononcé de la décision incidente relative à l'effet suspensif du recours, le droit des marchés publics applique un principe de célérité qualifié (consid. 3.4).

3. Le principe de célérité, qui restreint par nature le droit d'être entendu ou de répliquer, est compatible avec l'art. 6 ch. 1 CEDH. La pesée des intérêts entre le principe de célérité et le droit d'être entendu peut avoir pour conséquence que le recourant doit attendre la procédure principale pour pouvoir compléter son recours (consid. 3.5).

Acquisti pubblici. Effetto sospensivo. Riesame. Diritto di replica.

Art. 6 n.1 CEDU. Art. 29 cpv. 2 Cost. Art. 58 e art. 66 cpv. 2 lett. c PA. Art. 121 LTF.

1. In base alla recente giurisprudenza della Corte europea dei diritti dell'uomo, non si può più affermare che i provvedimenti cautelari o le disposizioni riguardanti l'effetto sospensivo non rientrino di principio nel campo d'applicazione dell'art. 6 cifra 1 CEDU (consid. 3.3).

2. In materia di acquisti pubblici vige il principio di celerità qualificato fino alla resa della decisione incidentale relativa all'effetto sospensivo (consid. 3.4).

3. Il principio di celerità implica per sua natura una restrizione del diritto di essere sentito e del diritto di replica; tale restrizione è compatibile con le esigenze dell'art. 6 cifra 1 CEDU. La ponderazione degli interessi in gioco tra imperativo di celerità e diritto di essere sentito può avere per conseguenza che il ricorrente possa completare il ricorso solo nell'ambito del procedimento nella causa principale (consid. 3.5).


Das Bundesamt für Bauten und Logistik schrieb auf der Internetplattform SIMAP (Informationssystem für das öffentliche Beschaffungswesen) am 29. September 2011 einen Lieferauftrag für den Druck von Nachträgen zur Systematischen Sammlung des Bundesrechts (SR) im offenen Verfahren aus (Meldungsnummer 691049). Am 25. November 2011 publizierte die Vergabestelle auf SIMAP unter der Meldungsnummer 714825 die Zuschlagserteilung an die D. AG (nachfolgend: Zuschlagsempfängerin).

Der hiergegen von der A. AG (nachfolgend: Beschwerdeführerin) mit Eingabe vom 15. Dezember 2011 eingereichten Beschwerde wurde mit superprovisorischer Anordnung vom 16. Dezember 2011 einstweilen die aufschiebende Wirkung erteilt.

Nachdem die Vergabestelle mit ihrer innert erstreckter Frist erstatteten Stellungnahme vom 9. Januar 2012 beantragt hatte, es sei ihr superprovisorisch zu gestatten, bis zum Entscheid über die aufschiebende Wirkung die Leistungen von der bisherigen Leistungserbringerin vorläufig weiter zu beziehen, wurde diesem Begehren nach Anhörung der Beschwerdeführerin mit Verfügung vom 10. Januar 2012 entsprochen.

Der Beschwerdeführerin wurden am 12. Januar 2012 und 25. Januar 2012 verschiedene Aktenstücke zugestellt.

Mit Zwischenentscheid vom 26. Januar 2012 kam das Bundesverwaltungsgericht zum Schluss, dass sich die Beschwerde gestützt auf eine Prima-facie-Würdigung als offensichtlich unbegründet erweist, weshalb das Ersuchen um Erteilung der aufschiebenden Wirkung abgewiesen wurde.

Die Beschwerdeführerin beantragt in ihrer Eingabe vom 31. Januar 2012, den Zwischenentscheid vom 26. Januar 2012 sei in Wiedererwägung zu ziehen und der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung wiederzuerteilen. Begründet wird das Wiedererwägungsgesuch unter anderem verfahrensrechtlich dahingehend, dass der Beschwerdeführerin gestützt auf ihr Replikrecht Gelegenheit hätte gegeben werden müssen, vor Ergehen des Zwischenentscheides zu den Akten Stellung zu nehmen.

Das Bundesverwaltungsgericht tritt auf das Wiedererwägungsgesuch nicht ein und weist das Gesuch um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ab.


Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Die Beschwerdeführerin macht zunächst in verfahrensrechtlicher Hinsicht und damit im Sinne von Art. 66 Abs. 2 Bst. c des Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 20. Dezember 1968 (VwVG, SR 172.021) geltend, der Beschwerde sei in Verletzung des Gehörsanspruchs und des konventionsrechtlich garantierten Replikrechts (Art. 29 Abs. 2 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 [BV, SR 101]; Art. 6 Ziff. 1 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten [EMRK, SR 0.101]) die aufschiebende Wirkung entzogen worden. Der submissionsrechtliche Rechtsschutz, dessen Wirksamkeit im Wesentlichen von der aufschiebenden Wirkung abhänge, sei durch die Zwischenverfügung ohne Not und unter Verletzung des rechtlichen Gehörs der Gesuchstellerin geschwächt worden, ohne dass ein öffentliches Interesse dafür ersichtlich wäre (...). Die Vergabestelle äussert sich dazu nicht.

3.2 Sachverhaltlich ist in diesem Zusammenhang zunächst festzustellen, dass die Beschwerde vom 15. Dezember 2011 selbst keinen Antrag enthalten hat, der Beschwerdeführerin sei nach gewährter Akteneinsicht vor Ergehen des Zwischenentscheides betreffend die aufschiebende Wirkung Gelegenheit zur Beschwerdeergänzung zu geben, was im Rahmen von Vergabebeschwerden (unabhängig vom Erfolg derartiger Anträge) durchaus gelegentlich anbegehrt wird. Demnach kann jedenfalls nicht gesagt werden, dass einzelne Anträge unbeurteilt geblieben sind (vgl. dazu etwa im Rahmen der Revision bundesgerichtlicher Entscheide Art. 121 Bst. c des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 [BGG, SR 173.110]).

3.3 Die Beschwerdeführerin rügt insbesondere gestützt auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK, dass ihr keine instruktionsrichterliche Frist zur Stellungnahme zu den zugestellten Akten und damit auch zur Stellungnahme der Vergabestelle vom 9. Januar 2012 angesetzt worden ist. In diesem Zusammenhang beruft sie sich pauschal und ohne nähere Ausführungen auf ihr Replikrecht. Dazu ist zunächst festzuhalten, dass der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zum fair trial auch bei der Auslegung von Art. 29 Abs. 2 BV Rechnung zu tragen ist (BGE 133 I 100 E. 4.5), und dass das Bundesgericht in Bezug auf das Hauptverfahren in Änderung seiner Rechtsprechung ein weitgehendes Replikrecht anerkannt hat (BGE 132 I 42 E. 3). Ebenfalls zugunsten der Beschwerdeführerin zu berücksichtigen ist der Umstand, dass aufgrund der neueren Rechtsprechung des EGMR, (Micallef gegen Malta, Urteil der Grossen Kammer vom 15. Oktober 2009, Nr. 17056/06, insbes. §§ 79ff.) entgegen Peter Galli/André Moser/Elisabeth Lang/ Evelyne Clerc (Praxis des öffentlichen Beschaffungsrechts, 1. Bd., 2. Aufl., Zürich 2007, Rz. 773), nicht mehr gesagt werden kann, dass vorsorgliche beziehungsweise vorläufige
Massnahmen, die in Abhängigkeit eines Verfahrens in der Hauptsache getroffen werden, grundsätzlich ausserhalb des Geltungsbereichs von Art. 6 Ziff. 1 EMRK liegen (möglicherweise anderer Ansicht Andreas R. Ziegler, L'importance de l'article 6 CEDH dans la procédure de recours dans le cadre des marchés publics en Suisse, in: Aktuelle Juristische Praxis [AJP] 2011, S. 339ff., insbes. S. 345). Gleichwohl können die Ausführungen zum Replikrecht im Hauptverfahren nicht unbesehen auf den Zwischenentscheid betreffend die aufschiebende Wirkung in Vergabesachen übertragen werden, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.

3.4 Entgegen den Ausführungen der Beschwerdeführerin gilt ein qualifiziertes Beschleunigungsgebot für Vergabesachen bis zum Ergehen des Zwischenentscheides betreffend die aufschiebende Wirkung (vgl. dazu etwa den Zwischenentscheid des Bundesverwaltungsgerichts B 3311/2009 vom 16. Juli 2009 E. 12 mit Hinweis, und zum kantonalen Rechtsmittelverfahren etwa das Urteil des Bundesgerichts 2P.103/2006 vom 29. Mai 2006 E. 3.1). Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Vergabestelle im vorliegenden Fall mit Verfügung vom 10. Januar 2012 instruktionsrichterlich nach Anhörung der Beschwerdeführerin einstweilen erlaubt worden ist, bis zum Entscheid über die aufschiebende Wirkung die Leistungen von der Zuschlagsempfängerin und bisherigen Erbringerin der Leistung vorläufig weiter zu beziehen. Vielmehr ist das Verfahren so oder anders möglichst bald einem praxisgemäss in Dreierbesetzung zu fällenden und gemäss Art. 83 Bst. f BGG mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten anfechtbaren Zwischenentscheid zuzuführen (vgl. zur Dreierbesetzung etwa den seitens der Beschwerdeführerin beanstandeten Zwischenentscheid im vorliegenden Verfahren vom 26. Januar 2012 E. 1.5 mit Hinweis).
Erst wenn die Vergabestelle den Vertrag abschliessen darf, wird das Verfahren nicht mehr vom qualifizierten Beschleunigungsgebot beherrscht.

3.5 Bereits die Eidgenössische Rekurskommission für das öffentliche Beschaffungswesen (BRK) hat als Vorgängerorganisation des Bundesverwaltungsgerichts zur Frage der Güterabwägung zwischen Beschleunigungsgebot und rechtlichem Gehör festgehalten, dass der Entscheid über die Gewährung der aufschiebenden Wirkung im Sinne einer Prima-facie-Würdigung zu fällen sei. Demzufolge sei auch im Verfahren BRK 2006-011 auf die Durchführung eines zweiten Schriftenwechsels verzichtet worden. Eine Gelegenheit zur Beschwerdeergänzung habe demnach nicht gegeben werden müssen (Zwischenverfügung BRK 2006 011 vom 22. August 2011 E. 4c; vgl. zum kantonalen Rechtsmittelverfahren das Urteil des Bundesgerichts 2P.103/2006 vom 29. Mai 2006 E. 3.1). Ganz in diesem Sinne geht auch das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass die Beschwerdeführerin keinen Rechtsanspruch darauf hat, ihre Beschwerde vor Ergehen des Zwischenentscheides betreffend die aufschiebende Wirkung gestützt auf die ihr zugestellten Akten zu ergänzen (vgl. zum Ganzen Marc Steiner, Das Verfahren vor Bundesverwaltungsgericht in Vergabesachen, in: Leupold/Rüetschi/Stauber/Vetter [Hrsg.], Der Weg zum Recht - Festschrift für Alfred Bühler, Zürich
2008, S. 405ff., insbes. S. 425). Dementsprechend wird im Rahmen des Verfahrens betreffend die Erteilung der aufschiebenden Wirkung in der Regel auch auf die Erhebung von Beweisen verzichtet (Zwischenentscheid des Bundesverwaltungsgerichts B 7337/2010 vom 1. Februar 2011). Das Beschleunigungsgebot führt insoweit naturgemäss zur Einschränkung des rechtlichen Gehörs (Zwischenentscheid des Bundesverwaltungsgerichts B-3311/2009 vom 16. Juli 2009 E. 12). Das ist auch mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK durchaus vereinbar. Denn während etwa Luginbühl zu Recht feststellt, dass dem Urteil Micallef gegen Malta nicht entnommen werden kann, welche Verfügungen die Grosse Kammer als genügend dringlich ansieht, damit auf die Ansetzung einer Frist zum Replikrecht verzichtet werden darf, kann demselben Autor nicht beigepflichtet werden, wenn er ausführt, es sei aufgrund dieses Urteils in Bezug auf das Verfahren bis zum Entscheid über die aufschiebende Wirkung vorläufig von denselben Prämissen wie im Hauptverfahren auszugehen (Kaspar Luginbühl, EMRK und wirtschaftsverwaltungsrechtliche Zwischenverfügungen, in: AJP 2011, S. 875ff., insbes. S. 880 und 884). Vielmehr ist mit dem EGMR festzuhalten, dass das Verfahren immer im Sinne einer
Gesamtbetrachtung zu würdigen ist (so etwa Micallef gegen Malta, Urteil der Grossen Kammer vom 15. Oktober 2009, Nr. 17056/06, § 77; vgl. zum Ganzen Jochen Abraham Frowein/ Wolfgang Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 3. Aufl., Kehl 2009, Rz. 113 zu Art. 6). Demnach ist es mit dem Konventionsrecht ohne Weiteres vereinbar, der Beschwerdeführerin aufgrund der Abwägung zwischen Dringlichkeit und rechtlichem Gehör erst im Hauptverfahren Gelegenheit zur Beschwerdeergänzung zu geben.

3.6 Die BRK hat ausserdem festgehalten, es könne möglicherweise Anderes gelten, soweit die Vergabestelle neue Aspekte aufwerfe (Zwischenverfügung BRK 2006-011 vom 22. August 2006 E. 4c). Auch in diesem Punkt hat sich das Bundesverwaltungsgericht der Rechtsprechung der BRK angeschlossen. Dementsprechend ist etwa der Beschwerdeführerin im vorliegenden Verfahren entgegen dem auf superprovisorische Anordnung lautenden Antrag der Vergabestelle das rechtliche Gehör gewährt worden zum Begehren auf einstweilige Erlaubnis des Leistungsbezugs bei der Zuschlagsempfängerin und bisherigen Leistungserbringerin. Indessen behauptet die Beschwerdeführerin zu Recht nicht, sie sei von den mit dem Zwischenentscheid vom 26. Januar 2012 abgehandelten Themen überrascht worden. Vielmehr entsprechen die gerichtlichen Ausführungen in allen Punkten Rügen, welche die Beschwerdeführerin vorgetragen hat.

3.7 Zusammenfassend ergibt sich, dass der Zwischenentscheid vom 26. Januar 2012 aus verfahrens- beziehungsweise verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden ist, weshalb die entsprechenden Rügen der Beschwerdeführerin jedenfalls nicht dazu führen können, dass das Bundesverwaltungsgericht ihr Wiedererwägungsgesuch an die Hand nimmt.
Information de décision   •   DEFRITEN
Document : 2012/6
Date : 10 février 2012
Publié : 08 novembre 2012
Source : Tribunal administratif fédéral
Statut : 2012/6
Domaine : Cour II (économie, concurrence, formation)
Objet : Öffentliches Beschaffungswesen


Répertoire des lois
CEDH: 6
Cst: 29
LTF: 83  121
PA: 58  66
Répertoire ATF
132-I-42 • 133-I-100
Weitere Urteile ab 2000
2P.103/2006
Répertoire de mots-clés
Trié par fréquence ou alphabet
décision incidente • effet suspensif • tribunal administratif fédéral • principe de la célérité • tribunal fédéral • malte • délai • cour européenne des droits de l'homme • attribution de l'effet suspensif • loi fédérale sur le tribunal fédéral • hors • décision • demande adressée à l'autorité • cedh • mesure provisionnelle • commission de recours • perception de prestation • constitution fédérale • procès équitable • cousin
... Les montrer tous
BVGer
B-3311/2009 • B-6762/2011 • B-7337/2010