Auszug aus dem Urteil der Abteilung V
i. S. Y. gegen Bundesamt für Migration E-7803/2007 vom ll. März 20l0
Asyl. Begründete Furcht vor künftiger Verfolgung im Zusammenhang mit einem politischen Datenblatt. Bestätigung der Rechtsprechung.
Art. 3 Abs. 1
SR 142.31 Loi du 26 juin 1998 sur l'asile (LAsi) LAsi Art. 3 Définition du terme de réfugié - 1 Sont des réfugiés les personnes qui, dans leur État d'origine ou dans le pays de leur dernière résidence, sont exposées à de sérieux préjudices ou craignent à juste titre de l'être en raison de leur race, de leur religion, de leur nationalité, de leur appartenance à un groupe social déterminé ou de leurs opinions politiques. |
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1 | Sont des réfugiés les personnes qui, dans leur État d'origine ou dans le pays de leur dernière résidence, sont exposées à de sérieux préjudices ou craignent à juste titre de l'être en raison de leur race, de leur religion, de leur nationalité, de leur appartenance à un groupe social déterminé ou de leurs opinions politiques. |
2 | Sont notamment considérées comme de sérieux préjudices la mise en danger de la vie, de l'intégrité corporelle ou de la liberté, de même que les mesures qui entraînent une pression psychique insupportable. Il y a lieu de tenir compte des motifs de fuite spécifiques aux femmes. |
3 | Ne sont pas des réfugiés les personnes qui, au motif qu'elles ont refusé de servir ou déserté, sont exposées à de sérieux préjudices ou craignent à juste titre de l'être. Les dispositions de la Convention du 28 juillet 1951 relative au statut des réfugiés4 sont réservées.5 |
4 | Ne sont pas des réfugiés les personnes qui font valoir des motifs résultant du comportement qu'elles ont eu après avoir quitté leur pays d'origine ou de provenance s'ils ne constituent pas l'expression de convictions ou d'orientations déjà affichées avant leur départ ni ne s'inscrivent dans leur prolongement. Les dispositions de la Convention du 28 juillet 1951 relative au statut des réfugiés6 sont réservées.7 |
Besteht bei Asylsuchenden aus der Türkei ein politisches Datenblatt, ist in der Regel bereits aufgrund dieser Fichierung von einer begründeten Furcht vor künftiger asylrechtlich relevanter Verfolgung auszugehen (E. 5).
Asile. Crainte fondée d'une persécution future en relation avec l'existence d'une fiche politique. Confirmation de la jurisprudence.
Art. 3 al. 1 LAsi.
La seule existence en Turquie d'une fiche politique concernant un demandeur d'asile permet d'admettre, en règle générale, une crainte fondée d'une persécution future déterminante en matière d'asile (consid. 5).
Asilo. Fondato timore di persecuzioni future in caso d'esistenza di una schedatura politica. Conferma della giurisprudenza.
Art. 3 cpv. 1 LAsi.
La sola esistenza in Turchia di una schedatura politica concernente un richiedente l'asilo permette di ritenere, di regola, un fondato timore di persecuzioni future rilevanti in materia d'asilo (consid. 5).
Der Beschwerdeführer, ein Kurde aus der türkischen Ostprovinz X., stellte am 30. Januar 2006 ein Asylgesuch. Er machte unter anderem geltend, er sei Schriftsteller und stamme aus einer politisch exponierten Familie. Mehrere Geschwister seien als Mitglieder der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) von der türkischen Armee getötet worden. Als er wegen des Totenscheins für einen Bruder auf dem Polizeiposten vorgesprochen habe, sei er festgenommen worden. Nach Anwendung massiver Folter
während rund eineinhalb Monaten sei er von Polizisten beziehungsweise von Mitarbeitern des türkischen Geheimdiensts dazu gebracht worden, verschiedene unwahre Geständnisse zu unterzeichnen. Gestützt auf diese Dokumente habe man ihn in Untersuchungshaft versetzt und ein Strafverfahren wegen separatistischer Umtriebe gegen ihn eröffnet. In der Folge sei er von einem Staatssicherheitsgericht rechtskräftig wegen Hochverrats und Separatismus gestützt auf Art. l25 des Türkischen Strafgesetzbuchs zum Tod verurteilt worden. Diese Strafe sei später in eine langjährige Freiheitsstrafe umgewandelt worden. Im Jahr 2004 sei er auf Bewährung freigelassen worden. Bei einem Widerruf der bedingten Entlassung würde er die Reststrafe verbüssen müssen. Er leide immer noch unter den Folgen der erlittenen Folterungen.
Der Beschwerdeführer machte weiter geltend, er habe sich bereits während der Strafverbüssung schriftstellerisch betätigt und immer wieder Wege gefunden, seine Berichte und Kurzgeschichten aus der Haft in Polit-, Kunst- und Kulturzeitschriften publizieren zu lassen. Nach seiner bedingten Freilassung habe er zwei Romane veröffentlicht. Danach seien anonyme aber offensichtlich vom Geheimdienst veranlasste telefonische Todesdrohungen auf seinem Mobiltelefon eingegangen. Aus Angst vor körperlichen Angriffen oder vor der Verwicklung in ein erneutes fingiertes Strafverfahren habe er sich zur Flucht aus der Türkei entschlossen.
Das Bundesamt für Migration (BFM) wies das Asylgesuch des Beschwerdeführers mit Verfügung vom l6. Oktober 2007 ab.
Das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) heisst die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde gut und weist das BFM an, dem Beschwerdeführer in der Schweiz Asyl zu gewähren.
Aus den Erwägungen:
5. Es bleibt die flüchtlingsrechtliche Relevanz der glaubhaft gemachten Asylvorbringen zu prüfen.
5.1 Nach dem oben Gesagten steht fest, dass der Beschwerdeführer sich nach seiner bedingten Freilassung weiterhin schriftstellerisch betätigt, namentlich zwei Bücher mit teilweise regimekritischen Inhalten publiziert und entsprechend erneut die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich gezogen hat. In der Folge setzten anonyme telefonische Anrufe ein, welche den Beschwerdeführer psychisch unter Druck setzten. Unter dem Eindruck der zuvor erlebten Gefängnisstrafe und dieser Einschüchterungsversuche floh der Beschwerdeführer in die Schweiz.
5.2 Die - insoweit auch von ihr als glaubhaft anerkannte - massive Vorverfolgung des Beschwerdeführers hat die Vorinstanz bei der flüchtlingsrechtlichen Beurteilung der Furcht vor zukünftiger Verfolgung in keiner Weise berücksichtigt. Dies entgegen der konstanten Praxis, wonach bei der Beurteilung der Begründetheit der Furcht einer vorverfolgten Person nicht allein auf eine rein objektive Betrachtungsweise abzustellen und auch das von ihr bereits Erlebte und das Wissen um Konsequenzen in vergleichbaren Fällen in Betracht zu ziehen sind (vgl. etwa Entscheidungen und Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission [EMARK] 2004 Nr. l E. 6.a mit weiteren Hinweisen).
5.3 Vor allem aber hat die Vorinstanz in ihrer Verfügung gänzlich ausser Acht gelassen, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner Verurteilung gestützt auf den berüchtigten Art. l25 des Türkischen Strafgesetzbuchs im Jahr (...) und der Tatsache, dass die Haftentlassung nach Verbüssung von (...) Jahren Haft nur bedingt erfolgte, nach dem üblichen Vorgehen der türkischen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden landesweit als « politisch unbequeme Person » registriert worden sein muss.
Die ARK hatte in einem unter EMARK 2005 Nr. ll publizierten Urteil festgestellt, dass bei Asylbewerbern aus der Türkei, für welche im Zusammenhang mit vermuteter regimekritischer Orientierung oder angeblich staatsfeindlichen Aktivitäten so genannte politische Datenblätter angelegt worden sind, in der Regel bereits aufgrund dieser Fichierung von einer begründeten Furcht vor künftiger asylrechtlich relevanter staatlicher Verfolgung auszugehen ist.
5.3.1 Nach Kenntnis des BVGer wird in der Türkei - neben dem eigentlichen Strafregister (« Adli Sicil ») - auf nationaler Ebene seit längerer Zeit ein zentrales EDV-unterstütztes Registrierungssystem, das so genannte Allgemeine Informationssystem (« Genel Bilgi Toplama Sistemi », GBTS), unterhalten. Diese Datenbank beinhaltet Einträge über Einzelpersonen und wird nach den vorliegenden Berichten durch den Dienst für Auskünfte über Schmuggel und Informationsverwaltung der Nationalen Polizei verwaltet. Im GBTS werden Informationen erfasst, die von Polizei und Gendarmerie gesammelt und weitergeleitet werden; namentlich werden Fahndungs- und Verfahrensdaten von Personen registriert, die unter dem Verdacht des Begehens politischer Delikte stehen oder standen. Daneben sollen dem GBTS beispielsweise auch Angaben über Ausreiseverbote, militärstrafrechtliche Delikte und gewisse Steuervergehen zu entnehmen sein.
Zugang zum GBTS haben Polizei- und Gendarmeriestellen des ganzen Staatsgebiets, insbesondere die auch an den Landesgrenzen tätigen, für die Kontrolle von Ein- und Ausreisenden zuständigen Einheiten.
5.3.2 Das Anlegen eines Datensatzes im GBTS erfolgt offenbar nicht auf dem gesamten Staatsgebiet immer nach genau gleichen Gesichtspunkten, gewisse Grundtendenzen sind jedoch klar erkennbar: So hat jedenfalls ein Strafverfahren wegen eines politischen Delikts üblicherweise im Zeitpunkt des Abschlusses der staatsanwaltschaftlichen Voruntersuchung, spätestens aber bei Verfahrensabschluss - das Anlegen eines politischen Datenblatts zur Folge. Diese Fichierung bleibt in der Regel offenbar auch dann bestehen, wenn das Strafverfahren in der Folge eingestellt wird oder mit einem Freispruch endet (was von einer dem Gericht zur Verfügung stehenden Quelle damit begründet wird, dass die für das Anlegen des Datenblatts verantwortlichen Stellen den weiteren Fortgang des Strafverfahrens in der Regel nicht aktiv verfolgen und ihnen entsprechende Gerichtsbeschlüsse üblicherweise auch nicht mitgeteilt würden).
5.3.3 Die Umstände, aufgrund derer die ARK ihre oben erwähnte Praxis entwickelt hat (vgl. EMARK 2005 Nr. ll E. 5.l), haben sich nach Kenntnis des BVGer seither nicht wesentlich verändert. Erstens ist weiterhin mit Sicherheit davon auszugehen, dass das politische Datenblatt bei der mit einer Wiedereinreise verbundenen Kontrolle der betroffenen Personen entdeckt wird, was bereits ein Risiko staatlicher, in ihrer Intensität asylrechtlich potenziell relevanter Verfolgungsmassnahmen darstellt. Zweitens führt die landesweite und für sämtliche Polizeistellen der Türkei ohne Aufwand feststellbare Fichierung als politisch « unbequeme Person » üblicherweise zu einer - möglicherweise wenig intensiven, aber zeitlich andauernden - behördlichen Überwachung. Und drittens ist davon auszugehen, dass die betroffenen Personen bei politischen relevanten Zwischenfällen in ihrer Wohngegend häufig automatisch als potenzielle Tatverdächtige in Betracht gezogen und entsprechend behandelt werden. Hinzu kommen Berichte über andere Behelligungen und Diskriminierungen fichierter Personen, etwa bei alltäglichen Behördenkontakten.
Das voraussichtliche Verhalten der türkischen Behörden im konkreten Einzelfall lässt sich naturgemäss nicht mit letzter Genauigkeit vorhersagen; es versteht sich aber von selbst, dass die mit dem Abstützen auf allgemeine Risikotendenzen verbundene Unsicherheit sich nicht zulasten der Asylsuchenden auswirken darf.
5.3.4 Unter Würdigung aller zur Verfügung stehender Informationen erachtet das BVGer die Grenze der « beachtlichen Wahrscheinlichkeit » (vgl. bereits EMARK l993 Nr. ll E. 4c) zukünftiger Verfolgungsmassnahmen aufgrund des Vorliegens eines politischen Datenblatts in Fällen wie dem vorliegenden als erreicht. Dies auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die konkreten Umstände, die zur Registrierung einer Person als « politisch unbequem » führen, aufgrund der üblichen Vorgehensweise der türkischen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden in den meisten Fällen als relevante Vorverfolgung qualifiziert werden müssen; diese ist, wie bereits erwähnt, bei der Beurteilung des Vorliegens begründeter Furcht vor zukünftiger Verfolgung angemessen zu berücksichtigen.
5.3.5 Nach dem Gesagten führt das BVGer die in EMARK 2005 Nr. ll definierte Praxis der ARK weiter, wonach in der Regel bereits aus dem Vorliegen eines politischen Datenblatts auf begründete Furcht vor künftiger asylrechtlich relevanter staatlicher Verfolgung auszugehen ist.
5.4 Damit ist festzustellen, dass der Beschwerdeführer begründete Furcht vor künftiger Verfolgung hat, wobei ihm schon aufgrund des Datenblatts keine sichere landesinterne Fluchtalternative zur Verfügung stehen würde. Er erfüllt somit die Flüchtlingseigenschaft.