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Auszug aus dem Urteil der Abteilung III
i. S. A. AG gegen Suva
C 1454/2008 vom 8. Juni 2010

Unfallverhütung. Anfechtbarkeit von Ermahnungen des Kontrollorgans sowie von Verfügungen, wenn die erlassene Anordnung bereits umgesetzt ist.

Art. 5 , Art. 44 , Art. 48 VwVG. Art. 62 Abs. 2 , Art. 66 Abs. 1 VUV. Art. 85 , Art. 92 Abs. 3 UVG.

1. Ermahnungen des Kontrollorgans sind in der Regel notwendige Voraussetzung für eine spätere Sanktionierung in Form einer Prämienerhöhung. Da sie die aktuelle Rechtsstellung eines betroffenen Betriebes verschlechtern, sind solche Ermahnungen grundsätzlich anfechtbar (E. 2.4.3).
2. Feststellungen über die Verletzung von Arbeitssicherheitsvorschriften sind auch anfechtbar, wenn sie in einer ohne vorgängige Ermahnung erlassenen und bereits vollzogenen Verfügung enthalten sind, mit welcher Sofortmassnahmen angeordnet wurden (E. 2.4.4).
3. Ermahnungen, die bei einer Prämienerhöhung berücksichtigt werden können, sind - abweichend vom Leitfaden für das Durchführungsverfahren in der Arbeitssicherheit - mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen. Einwände des ermahnten Betriebes sind als Einsprachen zu behandeln (E. 2.5.3).


Prévention des accidents. Annulabilité d'avertissements de l'organe de contrôle ainsi que de décisions, lorsque les instructions données ont déjà été mises en oeuvre.

Art. 5, art. 44, art. 48 PA. Art. 62 al. 2, art. 66 al. 1 OPA. Art. 85, art. 92 al. 3 LAA.

1. Les avertissements de l'organe de contrôle sont, en règle générale, une condition nécessaire pour prononcer une sanction subséquente consistant dans l'augmentation des primes d'assurance. Comme ils affectent la situation juridique de l'entreprise concernée, ces avertissements peuvent faire l'objet d'une contestation (consid. 2.4.3).
2. Les constatations relatives à la violation des prescriptions de sécurité au travail peuvent aussi faire l'objet d'un recours si elles figurent dans une décision prise sans avertissement préalable ordonnant des mesures urgentes, et ce nonobstant l'exécution de ces mesures (consid. 2.4.4).
3. Les avertissements susceptibles d'être pris en considération pour une augmentation des primes doivent contenir une indication des voies de droit, contrairement à ce que prévoit le manuel de la procédure d'exécution pour la sécurité au travail, et peuvent faire l'objet d'une procédure d'opposition (consid. 2.5.3).


Prevenzione degli infortuni. Impugnabilità di avvertimenti dell'organo di controllo come pure delle decisioni, allorquando il provvedimento emanato è già stato messo in atto.

Art. 5, art. 44, art. 48 PA. Art. 62 cpv. 2, art. 66 cpv. 1 OPI. Art. 85, art. 92 cpv. 3 LAINF.

1. Gli avvertimenti dell'organo di controllo sono di regola condizione necessaria per un successivo sanzionamento sotto forma di un aumento del premio e peggiorano quindi la situazione giuridica dell'azienda interessata. Di principio tali avvertimenti sono quindi impugnabili (consid. 2.4.3).
2. Le constatazioni concernenti la violazione delle prescrizioni in materia di sicurezza sul lavoro possono anch'esse formare oggetto di ricorso, se queste figurano in una decisione priva di un avvertimento precedente volto ad ordinare delle misure urgenti, e ciò nonostante l'esecuzione di queste misure (consid. 2.4.4).
3. Gli avvertimenti che in successivo momento possono essere presi in considerazione nell'ambito di un aumento di premio devono - diversamente da quanto previsto dal manuale della procedura d'esecuzione per la sicurezza sul lavoro - essere muniti di un'indicazione dei rimedi giuridici. Le obiezioni dell'azienda ammonita sono da considerare come delle opposizioni (consid. 2.5.3).


Am 29. Januar 2008 führte die Suva auf der Baustelle F. eine Kontrolle durch und stellte fest, dass Mitarbeiter der A. AG auf einer Absturzhöhe von circa 5,5 m ohne Fassadengerüst arbeiteten. Mit Verfügung vom 29. Januar 2008 ordnete die Kontrollbehörde gegenüber der A. AG an, die Arbeiten ab einer Höhe von 3,0 m einzustellen, bis ein Fassadengerüst erstellt sei. Die A. AG erhob mit Datum vom 29. Februar 2008 Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (BVGer) und machte sinngemäss geltend, die Verfügung vom 29. Januar 2008 hätte nicht oder nicht nur ihr gegenüber erlassen werden dürfen.

Am 11. März 2008 erliess die Suva betreffend die bei der Baustellenkontrolle am 29. Januar 2008 festgestellten Mängel eine Ermahnung und drohte der A. AG bei weiteren Verstössen gegen Arbeitsschutzbestimmungen eine Prämienerhöhung an. In Ergänzung ihrer Beschwerde beantragte die Beschwerdeführerin die Aufhebung der Verfügung vom 29. Januar 2008 und der Ermahnung vom 11. März 2008. Die Suva vertrat im Verfahren vor BVGer die Ansicht, Anfechtungsgegenstand könne nur die Verfügung vom 29. Januar 2008 sein, und brachte sinngemäss vor, die Ermahnung sei erst in einem allfälligen Beschwerdeverfahren gegen eine Prämienerhöhung zu überprüfen.

Das BVGer tritt auf die Beschwerde ein.


Aus den Erwägungen:

2. Angefochten ist die Verfügung der Suva vom 29. Januar 2008, mit welcher die Beschwerdeführerin verpflichtet wurde, die Arbeiten auf der Baustelle F. ab einer Höhe von 3,0 m einzustellen, bis ein Fassadengerüst erstellt sei, sowie die Ermahnung der Suva vom 11. März 2008, welche mit der Verfügung vom 29. Januar 2008 in einem engen sachlichen Zusammenhang steht.

2.1 Nach Art. 59 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG, SR 830.1) ist zur Beschwerde berechtigt, wer durch die angefochtene Verfügung (oder den angefochtenen Einspracheentscheid) berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat (vgl. auch Art. 48 Abs. 1 Bst. c des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren [VwVG, SR 172.021]). Schutzwürdig ist das Interesse grundsätzlich nur dann, wenn es nicht nur bei der Beschwerdeeinreichung, sondern auch im Zeitpunkt der Urteilsfällung aktuell und praktisch ist (BGE 123 II 285 E. 4; Urteil des Bundesgerichts [BGer] 2C_166/2009 vom 30. November 2009 E. 1.2.1, Urteil des BGer 8C_622/2009 vom 3. Dezember 2009 E. 1.1; zu den Ausnahmen vgl. bspw. Urteil des BGer 2C_166/2009 vom 30. November 2009 E. 1.2.1; vgl. auch BGE 135 I 79 E. 1.1). Aktuell ist das Interesse, wenn der durch die angefochtene Verfügung erlittene Nachteil im Zeitpunkt des Entscheids der Beschwerdeinstanz noch besteht. Ein praktisches Interesse setzt voraus, dass dieser Nachteil bei Gutheissung der Beschwerde beseitigt werden kann. Das Interesse ist somit dann
schutzwürdig, wenn durch den Ausgang des Verfahrens die tatsächliche oder rechtliche Situation der beschwerdeführenden Person noch beeinflusst werden kann. Demgegenüber fehlt es an einem aktuellen praktischen Interesse, wenn der Nachteil auch bei Gutheissung der Beschwerde nicht mehr behoben werden könnte (BVGE 2009/31 E. 3.1 mit Hinweisen). Fällt das schutzwürdige Interesse im Laufe des Verfahrens dahin, wird die Sache als erledigt erklärt; fehlte es schon bei der Beschwerdeeinreichung, ist auf die Eingabe nicht einzutreten (Urteil des BGer 2C_166/2009 vom 30. November 2009 E. 1.2.1 mit Hinweisen, Urteil des BGer 8C_622/2009 vom 3. Dezember 2009 E. 1.1).

2.2 Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde anfechtbar sind Verfügungen im Sinne von Art. 5 VwVG (Art. 44 VwVG; vgl. auch Art. 56 Abs. 1 ATSG). Als Verfügungen im Sinne von Art. 5 Abs. 1 VwVG gelten individuelle, an den Einzelnen gerichtete Hoheitsakte, durch die eine konkrete verwaltungsrechtliche Rechtsbeziehung rechtsgestaltend oder feststellend in verbindlicher und erzwingbarer Weise geregelt wird. Für das Vorliegen einer Verfügung ist dabei nicht massgebend, ob sie als solche gekennzeichnet ist oder den gesetzlichen Formvorschriften für eine Verfügung entspricht. Massgebend ist vielmehr, ob die Strukturmerkmale einer Verfügung vorhanden sind (Urteil des BVGer A 8518/2007 vom 18. September 2008 E. 4.4 mit Hinweisen).

2.3 Nach der Rechtsprechung ist eine behördliche Mahnung einer Verfügung im Sinne von Art. 5 VwVG gleichzustellen, wenn diese die Rechtsstellung der Betroffenen verschlechtert (BGE 103 Ib 350 E. 2, vgl. auch BGE 125 I 119 E. 2a). Im Bereich des Disziplinarrechts liegt insbesondere dann eine anfechtbare Verfügung vor, wenn eine Ermahnung als Disziplinarmassnahme ausgestaltet ist (BGE 125 I 119 E. 2a). Verwarnungen, Mahnungen und die Androhung belastender Anordnungen sind anfechtbar, wenn sie notwendige Voraussetzung für spätere, schärfere Massnahmen bilden (Urteil des BGer 5P.199/2003 vom 12. August 2003 E. 1.1), sofern sich die aktuelle Rechtsstellung der betroffenen Person allein dadurch verschlechtert (vgl. Pierre Tschannen/Ulrich Zimmerli/ Markus Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl., Bern 2009, § 28 N. 27; Urteil des BGer 1P.555/2001 vom 3. Januar 2002 E. 4.2ff.). Im Falle einer Belehrung, eines Verweises, einer Mahnung oder dergleichen gilt es zu prüfen, ob diesem Akt Sanktionscharakter zukommt; dies trifft dann zu, wenn er den Vorwurf rechtswidrigen Verhaltens in sich schliesst, dem Betreffenden nahelegt, dieses in Zukunft zu unterlassen, und objektiv eine
Massregelung darstellt. Von Bedeutung ist sodann, inwiefern sich die früher verhängte Massnahme bei der Beurteilung in einem allfällig später eingeleiteten Disziplinarverfahren auswirken würde (Urteil des BGer 5P.199/2003 vom 12. August 2003 E. 1.1 mit Hinweisen).

2.4 Mit Schreiben vom 8. Februar 2008 bestätigte die Suva der Beschwerdeführerin, die Hochbauarbeiten könnten weitergeführt werden, weil das Fassadengerüst erstellt sei (...). Im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung am 29. Februar 2008 war die von der Vorinstanz erlassene Anordnung demnach bereits umgesetzt. Es stellt sich daher die Frage, ob im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung ein schutzwürdiges Interesse bestanden hat. Weiter ist zu prüfen, ob der Ermahnung vom 11. März 2008 Verfügungscharakter zukommt. Um diese Fragen zu klären, ist zunächst auf das Verfahren im Bereich der Unfallverhütung einzugehen.

2.4.1 Nach Art. 62 Abs. 1 der Verordnung über die Unfallverhütung vom 19. Dezember 1983 (VUV, SR 832.30) macht das für die Kontrolle zuständige Durchführungsorgan, wenn sich aufgrund eines Betriebsbesuches herausstellt, dass Vorschriften über die Arbeitssicherheit verletzt sind, den Arbeitgeber darauf aufmerksam und setzt ihm eine angemessene Frist zur Einhaltung der Vorschrift. Diese Ermahnung ist dem Arbeitgeber schriftlich zu bestätigen. Wird der Ermahnung keine Folge geleistet, so ordnet das zuständige Durchführungsorgan, nach Anhörung des Arbeitgebers und der unmittelbar betroffenen Arbeitnehmer, die erforderlichen Massnahmen durch Verfügung an und setzt dem Arbeitgeber eine angemessene Frist zum Vollzug der Massnahmen (Art. 64 Abs. 1 VUV). In dringenden Fällen ist die Verfügung ohne vorgängige Ermahnung zu erlassen (vgl. Art. 62 Abs. 2 VUV). Leistet der Arbeitgeber einer vollstreckbaren Verfügung keine Folge oder handelt er auf andere Weise Vorschriften über die Arbeitssicherheit zuwider, kann sein Betrieb nach Art. 66 Abs. 1 VUV i. V.m. Art. 92 Abs. 3 des Bundesgesetzes vom 20. März 1981 über die Unfallversicherung (UVG, SR 832.20) in eine höhere Stufe des Prämientarifs versetzt
werden (Prämienerhöhung).

2.4.2 Die Durchführung der Bestimmungen über die Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten obliegt gemäss Art. 85 Abs. 1 UVG den Durchführungsorganen des Arbeitsgesetzes vom 13. März 1964 (ArG, SR 822.11) und der Suva. Die gestützt auf Art. 85 Abs. 2 UVG eingesetzte Eidgenössische Koordinationskommission für Arbeitssicherheit (EKAS) stimmt die einzelnen Durchführungsbereiche aufeinander ab, soweit der Bundesrat hierüber keine Bestimmungen erlassen hat; sie sorgt für eine einheitliche Anwendung der Vorschriften über die Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten in den Betrieben (Art. 85 Abs. 3 Satz 1 UVG). Die Beschlüsse der EKAS sind für die Versicherer und die Durchführungsorgane des Arbeitsgesetzes verbindlich und sie kann insbesondere Ausführungsbestimmungen zum Verfahren erlassen (Art. 85 Abs. 4 UVG, Art. 53 Bst. a VUV).

2.4.2.1 Der « Leitfaden für das Durchführungsverfahren in der Arbeitssicherheit » der EKAS (nachfolgend: EKAS-Leitfaden [Bestellnummer 6030]) unterscheidet zwischen einem ordentlichen und einem ausserordentlichen Durchführungsverfahren. Ziel des ordentlichen Durchführungsverfahrens ist die (unmittelbare) Durchsetzung der Unfallverhütungsvorschriften in den einzelnen Betrieben (vgl. EKAS-Leitfaden Ziff. 4.2). Das ausserordentliche Verfahren soll (subsidiär) dann angewendet werden, wenn sicherheitswidrige Zustände aufgrund der Art der auszuführenden Arbeit oder der Arbeitsweise nur vorübergehend und während verhältnismässig kurzer Zeit bestehen, weshalb das ordentliche Verfahren nicht zielführend wäre (vgl. EKAS-Leitfaden Ziff. 5.2.1).

2.4.2.2 Das ausserordentliche Verfahren dient weiter der Feststellung, wann eine Arbeitgeberin oder ein Arbeitgeber - im Sinne von Art. 66 Abs. 1 VUV - « auf andere Weise Vorschriften über die Arbeitssicherheit » zuwiderhandelt und ein Betrieb deshalb in eine höhere Stufe des Prämientarifs zu versetzen ist. Obwohl gemäss Wortlaut von Art. 92 Abs. 3 UVG bereits ein einzelner Verstoss gegen Vorschriften über die Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten eine (rückwirkende) Prämienerhöhung rechtfertigen würde, muss eine solche Sanktion verhältnismässig sein. Deshalb soll - sofern nicht ein besonders gravierender Verstoss vorliegt oder die Verletzung von Vorschriften zu einem Unfall geführt hat - nicht bei jeder (allenfalls geringfügigen) Zuwiderhandlung gegen Arbeitssicherheitsvorschriften eine Prämienerhöhung verfügt werden (vgl. EKAS-Leitfaden, Ziff. 5.2 und 7.3.2). Im Normalfall spricht das Kontrollorgan dreimal eine Ermahnung aus, wenn es einen sicherheitswidrigen Zustand feststellt (vgl. EKAS-Leitfaden Ziff. 5.3). In der Ermahnung ist anzuführen, welche Mängel festgestellt und welche Bestimmungen über die Arbeitssicherheit verletzt wurden. Mit der dritten Ermahnung wird dem Betrieb angedroht, dass bei einem
weiteren Verstoss gegen Arbeitssicherheitsvorschriften eine Prämienerhöhung (von mindestens 20 %; vgl. Art. 113 Abs. 2 UVV) verfügt werde (vgl. EKAS-Leitfaden Ziff. 5.3.4).

2.4.2.3 Die beiden Verfahren sind nicht strikte getrennt. Die im ordentlichen Verfahren festgestellten Sicherheitsverstösse sind auch im ausserordentlichen Verfahren im Hinblick auf eine allfällige Prämienerhöhung « anzurechnen » (vgl. EKAS-Leitfaden Ziff. 5.2.3). Ob die Feststellung eines Verstoss gegen Arbeitssicherheitsvorschriften in einer Ermahnung oder - weil aus Dringlichkeit auf eine Ermahnung verzichtet wurde - in der Verfügung enthalten ist, spielt keine Rolle.

2.4.3 Wie sich aus dem soeben Ausgeführten ergibt, sind die Ermahnungen des Kontrollorgans in der Regel notwendige Voraussetzung für eine spätere Sanktionierung in Form einer Prämienerhöhung nach Art. 92 Abs. 3 UVG i. V.m. Art. 66 Abs. 1 VUV und verschlechtern die aktuelle Rechtsstellung eines betroffenen Betriebes. Diesen Ermahnungen kommt demnach Sanktionscharakter im Sinne der Rechtsprechung (vgl. E. 2.3) zu. Das BVGer hat deshalb die Rechtsprechung der Eidgenössischen Rekurskommission für die Unfallversicherung übernommen und die Anfechtbarkeit einer Ermahnung grundsätzlich bejaht (Urteil des BVGer C 3183/2006 vom 6. Juli 2007 E. 3.5, Urteil des BVGer C 640/2008 vom 18. August 2009 E. 2 und 5 mit Hinweisen).

2.4.4 Die ohne vorgängige Ermahnung gestützt auf Art. 62 Abs. 2 i . V.m. Art. 64 Abs. 1 VUV erlassene Verfügung vom 29. Januar 2008 enthält die Feststellung, dass Arbeitssicherheitsvorschriften nicht eingehalten wurden (fehlendes Fassadengerüst bei einer Absturzhöhe von 5,5 m), hält fest, welche Sofortmassnahmen erforderlich sind (ein Fassadengerüst zu erstellen), und untersagt die Weiterarbeit ab einer Höhe von 3,0 m, bis der festgestellte Mangel behoben ist. Die Feststellung des Verstosses gegen Vorschriften über die Arbeitssicherheit bleibt auch nach der Behebung des Mangels bestehen und sie kann - wie bei einer Ermahnung - im Hinblick auf eine spätere Prämienerhöhung berücksichtigt werden. Ist eine Ermahnung mit einer solchen Feststellung anfechtbar, muss dies ohne Weiteres auch für eine Verfügung gelten. Das aktuelle Rechtsschutzinteresse ist daher gegeben (vgl. bereits Urteil des BVGer C 3183/2006 vom 6. Juli 2007 E. 3.6).

Dass die Suva in ihrer Ermahnung vom 11. März 2008 den bereits in der Verfügung vom 29. Januar 2008 angeführten Sicherheitsmangel erneut festhält, vermag daran nichts zu ändern. Diesbezüglich wäre eine Ermahnung nicht erforderlich gewesen. Vielmehr hätte es genügt, in der Verfügung - wie bei Ermahnungen (vgl. EKAS-Leitfaden Ziff. 5.3.3 f.) - auf die mögliche Sanktion einer Prämienerhöhung hinzuweisen (vgl. E. 2.5.4).

2.4.5 Anzufügen bleibt, dass die Eröffnung des Beschwerdeweges gegen eine - in einer Verfügung oder in einer Ermahnung getroffene - Feststellung des Kontrollorgans, dass Vorschriften über die Arbeitssicherheit verletzt wurden, auch aus beweisrechtlicher Sicht angezeigt erscheint, weil zwischen solchen Feststellungen längere Zeit vergehen kann. Wird eine gestützt auf Art. 92 Abs. 3 UVG verfügte Prämienerhöhung angefochten und soll die Beschwerdeinstanz erst in diesem Verfahren prüfen, ob die einzelnen Feststellungen damals zu Recht getroffen wurden, können sich Schwierigkeiten ergeben, den rechtserheblichen Sachverhalt nachträglich noch festzustellen.

2.5 Die von der Suva vertretene Ansicht, wonach die von einem Kontrollorgan - in einer Ermahnung oder einer Verfügung - getroffene Feststellung, dass Vorschriften über die Arbeitssicherheit verletzt wurden, nicht unmittelbar gerichtlich anfechtbar seien, entspricht den Vorgaben im EKAS-Leitfaden.

2.5.1 Der EKAS-Leitfaden soll wie Verwaltungsverordnungen (zu welchen bspw. Weisungen, Richtlinien usw. gehören) eine einheitliche, gleichmässige und sachrichtige Praxis des Gesetzesvollzugs sicherstellen und ist daher für die Durchführungsorgane grundsätzlich verbindlich (vgl. vorstehende E. 2.4.2; zu den Verwaltungsverordnungen und deren Berücksichtigung im Gerichtsverfahren siehe BGE 133 V 587 E. 6.1, BGE 133 V 346 E. 5.4.2, je mit Hinweisen; André Moser/Michael Beusch/Lorenz Kneubühler, Prozessieren vor dem Bundesverwaltungsgericht, Basel 2008, S. 81 Rz. 2.174). Weder eine vollzugslenkende Verwaltungsverordnung noch eine Vollziehungsverordnung können (allein) Grundlage bilden, um Rechte und Pflichten zu begründen oder einzuschränken (vgl. Tschannen/Zimmerli/Müller, a. a.O., § 14 N. 11 und 23, § 41 N. 12). Erforderlich wäre zumindest eine auf einer hinreichend konkreten formell-gesetzlichen Delegationsbestimmung beruhende Verordnung (vgl. Art. 164 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 [BV, SR 101]; Tschannen/Zimmerli/Müller, a. a.O., § 14 N. 27 und § 19 N. 38).

2.5.2 Der EKAS wurden keine Rechtsetzungskompetenzen übertragen, welche sie ermächtigen würden, den Rechtsschutz der betroffenen Betriebe einzuschränken (vgl. Art. 85 UVG und Art. 52 ff . VUV), weshalb nicht zu prüfen ist, ob beziehungsweise in welcher Form eine Einschränkung allenfalls zulässig wäre. Die im EKAS-Leitfaden nicht vorgesehene Anfechtungsmöglichkeit von Ermahnungen ist für das Gericht unbeachtlich.

2.5.3 Abweichend von den Musterdokumenten im EKAS-Leitfaden (vgl. Teil II des Leitfadens S. 81ff.) sind Ermahnungen, die in einem späteren Zeitpunkt im Hinblick auf eine Prämienerhöhung nach Art. 92 Abs. 3 UVG berücksichtigt werden können, mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen (vgl. Art. 49 Abs. 3 Satz 1 ATSG; Art. 35 Abs. 1 VwVG). Erhebt der ermahnte Betrieb dagegen Einwände, hat das Kontrollorgan darüber in einem Einspracheentscheid zu befinden (vgl. auch Urteil des BVGer C 640/2008 vom 18. August 2009 E. 5).

2.5.4 Keine präzisen Vorgaben enthält der EKAS-Leitfaden, wie die Kontrollorgane vorzugehen haben, wenn sie gemäss Art. 62 Abs. 2 VUV auf eine Ermahnung verzichten und direkt mit einer Verfügung nach Art. 64 Abs. 1 VUV die erforderlichen Massnahmen anordnen. Der Leitfaden hält lediglich fest, dass auch solche schwerer wiegende Feststellungen im Rahmen des ausserordentlichen Durchführungsverfahrens zu berücksichtigen seien (vgl. EKAS-Leitfaden Ziff. 5.2.3). Ob das Kontrollorgan im Anschluss an die Verfügung zusätzlich eine Ermahnung zu erlassen hat oder sich auf die in der Verfügung getroffenen Feststellungen stützen soll, geht aus dem Leitfaden nicht hervor (vgl. auch Musterdokumente im Teil II des EKAS-Leitfadens S. 70ff.). Mit Blick auf das Ziel, dass streitige Sachverhaltsfeststellungen möglichst frühzeitig überprüft werden sollen, und im Interesse eines raschen und einfachen Verfahrens, wäre es wünschenswert, wenn die gestützt auf Art. 62 Abs. 2 i . V.m. mit Art. 64 Abs. 1 VUV erlassene Verfügung auch die Elemente einer Ermahnung im Hinblick auf eine spätere Prämienerhöhung (vgl. EKAS-Leitfaden Ziff. 5.3.3 f. betreffend 2. und 3. Ermahnung) enthalten würde. Andernfalls wäre in der
Verfügung klarzustellen, dass diese noch keine Feststellung enthält, dass der Verfügungsadressat Arbeitssicherheitsvorschriften verletzt hat, welche im Hinblick auf eine Prämienerhöhung berücksichtigt werden können, und dass eine solche Feststellung erst in einer später zu erlassenden anfechtbaren Ermahnung getroffen würde. Für einen betroffenen Betrieb muss klar sein, wann beziehungsweise in welchem Verfahren er eine solche Feststellung des Kontrollorgans bestreiten kann.

2.6 Zu prüfen bleibt, ob auf die Rügen betreffend Ermahnung vom 11. März 2008 eingetreten werden kann, soweit darin weitere - nicht bereits in der Verfügung vom 29. Januar 2008 enthaltene - Verstösse gegen Arbeitssicherheitsvorschriften angeführt werden. Das BVGer hat nur auf Beschwerden gegen Verfügungen einzutreten, die nicht durch Einsprache anfechtbar sind (vgl. Art. 32 Abs. 2 Bst. a des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 [VGG, SR 1732.32]; Art. 109 i . V.m. Art. 105a UVG). Aus prozessökonomischen Gründen rechtfertigt sich vorliegend eine Rückweisung zum Erlass eines Einspracheentscheides jedoch nicht. Da, wie soeben festgestellt, Ermahnungen in Bezug auf die Feststellung von Verletzungen der Arbeitssicherheitsvorschriften grundsätzlich anfechtbar sind, die Beschwerdeführerin die Beurteilung der Ermahnung vom 11. März 2008 ausdrücklich beantragte, die Vorinstanz sich in einer Prozesserklärung dazu geäussert hat, die Sache spruchreif ist und in einem engen sachlichen Zusammenhang zur angefochtenen Verfügung steht, ist die Ausdehnung des Streitgegenstandes auf eine ausserhalb des Anfechtungsgegenstandes liegende Frage zulässig (vgl. BGE 122 V 34 E. 2a mit
Hinweisen, BGE 130 V 138 E. 2.1).
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 2010/37
Datum : 08. Juni 2010
Publiziert : 05. März 2012
Quelle : Bundesverwaltungsgericht
Status : 2010/37
Sachgebiet : Abteilung III (Ausländerrecht, Sozialversicherungen, Gesundheit)
Gegenstand : Verhütung Unfälle und Berufskrankheiten


Gesetzesregister
ATSG: 49  56  59
BV: 164
UVG: 85  92  105a  109i
UVV: 113
VGG: 32
VUV: 52  53  62  64  66
VwVG: 5  35  44  48
BGE Register
103-IB-350 • 122-V-34 • 123-II-285 • 125-I-119 • 130-V-138 • 133-V-346 • 133-V-587 • 135-I-79
Weitere Urteile ab 2000
1P.555/2001 • 2C_166/2009 • 5P.199/2003 • 8C_622/2009
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
arbeitssicherheit • arbeitgeber • verwaltungsverordnung • einspracheentscheid • weiler • ausserordentliches verfahren • berufskrankheit • frage • bundesverwaltungsgericht • anfechtungsgegenstand • verhütung von berufsunfällen • weisung • sanktion • bundesgesetz über die arbeit in industrie, gewerbe und handel • sachlicher zusammenhang • rechtsmittelbelehrung • angemessene frist • ordentliches verfahren • vorinstanz • entscheid
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BVGE
2009/31
BVGer
A-8518/2007 • C-1454/2008 • C-3183/2006 • C-640/2008