98 Ib 85
13. Urteil vom 28. April 1972 i.S. X. gegen Regierungsrat des Kantons Zürich.
Regeste (de):
- Fremdenpolizeirecht; Widerruf der Aufenthaltsbewilligung (Art. 9 Abs. 2 lit. b ANAG).
- - Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde; Kognitionsbefugnis des Bundesgerichtes.
- - Ob die Voraussetzungen für den Widerruf der Aufenthaltsbewilligung gegeben sind, ist Rechts- und Tatfrage; der Fremdenpolizeibehörde, die den Begriff des "zu schweren Klagen" Anlass gebenden Ausländers auf den Einzelfall anzuwenden hat, ist jedoch ein gewisser Beurteilungsspielraum eingeräumt. Ermessensfrage ist, ob, bei erfüllten Voraussetzungen, die Aufenthaltsbewilligung auch wirklich widerrufen werden soll.
- - Die das Massnahmerecht handhabende Behörde hat die Frage, ob ein Fall schwer wiegt, nach fremdenpolizeilichen Gesichtspunkten zu beantworten; sie braucht sich deshalb mit der strafrechtlichen Würdigung des Sachverhaltes nicht zu befassen.
Regeste (fr):
- Droit de la police des étrangers; révocation de l'autorisation de séjour (art. 9 al. 2 litt. b LSEE).
- - Recevabilité du recours de droit administratif; pouvoir d'examen du Tribunal fédéral.
- - La question de savoir si les conditions de la révocation de l'autorisation de séjour sont réunies est une question de droit et de fait; une certaine latitude de jugement doit être laissée à l'autorité de police des étrangers qui doit appliquer à un cas particulier la notion de l'étranger qui donne lieu à des "plaintes graves". Est une question d'appréciation celle de savoir si, lorsque les conditions sont remplies, l'autorisation de séjour doit réellement être révoquée.
- - L'autorité qui applique la mesure doit résoudre la question de savoir si un cas est grave d'après les critères de la police des étrangers; elle n'a pas à s'occuper de l'appréciation pénale de l'état de fait.
Regesto (it):
- Polizia degli stranieri; revoca del permesso di dimora (art. 9 cpv. 2 lett. b LDDS).
- - Ricevibilità del ricorso di diritto amministrativo; potere di cognizione del Tribunale federale.
- - Costituisce una questione di diritto e di fatto quella di sapere se sono dati i presupposti per la revoca d'un permesso di dimora; una certa latitudine di giudizio deve essere lasciata all'autorità di polizia degli stranieri chiamata ad applicare in una fattispecie concreta la nozione dello straniero che dà motivo a "gravi lagnanze". È una questione di apprezzamento quella di sapere se, dati i presupposti per la revoca, questa debba essere realmente pronunciata.
- - L'autorità competente per la revoca deve apprezzare la gravità del caso secondo i criteri della polizia degli stranieri, prescindendo dalla valutazione penale dei fatti.
Sachverhalt ab Seite 86
BGE 98 Ib 85 S. 86
A.- Der am 22. November 1950 in Miggiano (Italien) geborene Beschwerdeführer ist italienischer Staatsangehöriger. Im Herbst 1969 kam er in die Schweiz, nachdem ihm von der Fremdenpolizei des Kantons Zürich zuvor eine Aufenthaltsbewilligung zugesichert worden war. Er ist in der Nähe von Uster als Hilfsarbeiter tätig. Am 23. Juli 1970 hielt der mit Badehosen bekleidete Beschwerdeführer auf einem Feldweg ca. 200 m vom Strandbad Uster entfernt die ihm unbekannte 1957 geborene N., welche auf dem Fahrrad fuhr, an. Er sprach auf sie ein, fasste das Mädchen am Kinn, drehte ihr Gesicht gegen sich und gab ihr einen Zungenkuss. Hiernach küsste er das Mädchen auf das Gesicht und am Körper. Er streifte seine Badehosen hinunter, griff unter den Rock des Mädchens und versuchte schliesslich mit ihr den Geschlechtsverkehr zu vollziehen. Von seinem Vorhaben liess er
BGE 98 Ib 85 S. 87
ab, als das Mädchen sich wehrte. Mit Urteil des Bezirksgerichtes Uster vom 21. Oktober 1970 wurde der Beschwerdeführer der Unzucht mit einem Kinde im Sinne von Art. 191 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 191 - Wer eine urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person zum Beischlaf, zu einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung missbraucht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 191 - Wer eine urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person zum Beischlaf, zu einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung missbraucht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 191 - Wer eine urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person zum Beischlaf, zu einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung missbraucht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
B.- Im Anschluss an dieses Strafurteil widerrief die Fremdenpolizei des Kantons Zürich mit Verfügung vom 20. Januar 1971 die bis zum 31. Juli 1971 gültige Aufenthaltsbewilligung, wobei sie sich zur Begründung auf das Urteil des Bezirksgerichtes Uster berief. Dem Beschwerdeführer wurde zum Verlassen des zürcherischen Kantonsgebietes eine Frist bis zum 15. März 1971 angesetzt. Sein dagegen eingereichter Rekurs wurde mit Beschluss des Regierungsrates des Kantons Zürich vom 7. Oktober 1971 abgewiesen. Die Eidgenössische Fremdenpolizei dehnte mit Verfügung vom 17. November 1971 die kantonale Wegweisungsverfügung auf das ganze Gebiet der Schweiz aus und erliess gleichzeitig eine bis zum 15. Dezember 1974 geltende Einreisesperre.
C.- Mit einer gegen den Beschluss des Regierungsrates erhobenen staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
D.- Der Regierungsrat des Kantons Zürich beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement schliesst ebenfalls auf Abweisung.
E.- Mit Präsidialverfügung vom 14. Dezember 1971 wurde dem Gesuch um Gewährung der aufschiebenden Wirkung entsprochen.
F.- Mit Schreiben vom 17. März 1972 weist die Fremdenpolizei des Kantons Zürich darauf hin, dass der Beschwerdeführer gemäss Strafverfügung vom 4. Februar 1972 mit Fr. 120.-- gebüsst worden sei.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. a) Beim angefochtenen Beschluss des Regierungsrates des Kantons Zürich vom 7. Oktober 1971, mit dem der Rekurs des Beschwerdeführers gegen einen Widerruf der Aufenthaltsbewilligung
BGE 98 Ib 85 S. 88
abgewiesen wurde, handelt es sich um eine letztinstanzliche kantonale Verfügung im Sinne von Art. 98 lit. g
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
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2. Streitobjekt des vorliegenden Beschwerdeverfahrens ist der Widerruf der Aufenthaltsbewilligung. a) Die Aufenthaltsbewilligung kann nach Art. 9 Abs. 2 lit. b ANAG widerrufen werden, wenn das Verhalten des Ausländers "Anlass zu schweren Klagen gibt." Ob im Einzelfall die Voraussetzungen für einen Widerruf der Aufenthaltsbewilligung gegeben sind, ist Rechts- und Tatfrage (vgl. Urteil vom 22. Dezember 1971, i.S. P.F., Erw. 1b). Der Begriff der "schweren Klagen" ist, wie das Bundesgericht in früheren Urteilen (BGE 93 I 6; zitiertes Urteil vom
BGE 98 Ib 85 S. 89
14. Mai 1971, Erw. 2 a) schon festgestellt hat, ein unbestimmter Rechtsbegriff, der seinen Inhalt aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift sowie der Stellung im Gesetz und im Rechtssystem gewinnt. Der Behörde, die einen solchen Begriff auf den Einzelfall anzuwenden hat, ist ein gewisser Beurteilungsspielraum eingeräumt; das Bundesgericht nimmt daher die Überprüfung der Begriffsauslegung nur mit Zurückhaltung vor (BGE 96 I 369, mit Hinweisen). b) Wie das ANAG als Ganzes, ist auch Art. 9 Abs. 2 lit. b seinem Wesen nach polizeilicher Natur (VEBB 25, Nr. 99). Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, die Aufgabe der Polizei ist, obliegt der Behörde von Amtes wegen. Wenn daher die genannte Bestimmung von einem Verhalten spricht, das "Anlass zu schweren Klagen gibt", bedeutet dies, dass nicht primär subjektiv, sondern objektiv, d.h. im Lichte der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, Anlass zu Klagen besteht (BGE 93 I 7). Der Kreis, der wegen ihrer Bedeutung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit geschützten Rechtsgüter ist - entsprechend der Zwecksetzung des ANAG - ein weiterer als im Bereiche der allgemeinen Sicherheitspolizei; denn das Fremdenpolizeirecht des Bundes dient der Abwehr der Überfremdung und der Vermeidung einer Störung des Arbeitsmarktes einerseits (vgl. Botschaft des Bundesrates vom 8. März 1948 über die Abänderung und Ergänzung des ANAG; BBl 1948 I 1293), dem Schutze des Gaststaates und der darin geltenden Ordnung (vgl. Art. 10 Abs. 1
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
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BGE 98 Ib 85 S. 90
zu befassen; sie hat die Frage, ob ein Fall schwer wiege, nach fremdenpolizeilichen Gesichtspunkten zu beantworten. Dabei hat sie die Bedeutung des verletzten Rechtsgutes innerhalb der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung des Gastlandes einerseits, die Umstände der Tat sowie die persönlichen Verhältnisse des zu Klagen Anlass gebenden Ausländers anderseits in Betracht zu ziehen. d) Die Verurteilung des Beschwerdeführers mit Entscheid des Bezirksgerichtes Uster vom 21. Oktober 1970 wegen Unzucht mit einem Mädchen im Sinne von Art. 191 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 191 - Wer eine urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person zum Beischlaf, zu einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung missbraucht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 191 - Wer eine urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person zum Beischlaf, zu einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung missbraucht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 191 - Wer eine urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person zum Beischlaf, zu einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung missbraucht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
3. a) Ob dem Ausländer bei Vorliegen schwerer Klagen die Aufenthaltsbewilligung gemäss Art. 9
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SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 191 - Wer eine urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person zum Beischlaf, zu einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung missbraucht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
BGE 98 Ib 85 S. 91
erwähnten Richtlinien finden beim Widerruf einer Aufenthaltsbewilligung analoge Anwendung (BGE 93 I 10 Erw. 4). b) Der Beschwerdeführer wurde der Unzucht mit einem Kinde unter 16 Jahren im Sinne von Art. 191 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 191 - Wer eine urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person zum Beischlaf, zu einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung missbraucht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 191 - Wer eine urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person zum Beischlaf, zu einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung missbraucht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
In subjektiver Hinsicht ist zu seinem Verhalten festzustellen, dass er sich bewusst war, mit seinem Vorgehen die Rechtsordnung zu verletzen. Es kann ihm einzig zugute gehalten werden, dass er nach den Feststellungen des Strafgerichtes in der irrigen Vorstellung handelte, das 13-jährige Mädchen sei mindestens 16 Jahre alt. Er hat die Unzuchtshandlungen für das Kind überraschend, ohne von ihm in Versuchung geführt worden zu sein, begangen. Dass das Mädchen vorerst keinen Widerstand leistete und sich erst zur Wehr setzte, als der Beschwerdeführer zudringlicher wurde, vermag ihn nicht wesentlich zu entlasten.
Unter fremdenpolizeilichen Gesichtspunkten stellt dieses Verhalten des Beschwerdeführers als Ganzes eine schwerwiegende Verletzung der Rechtsordnung dar. Daran ändert nichts, dass das strafrechtlich relevante Verschulden vom Bezirksgericht Uster als leicht bezeichnet wurde (vgl. vorne Erw. 2 c). Zu berücksichtigen ist ferner, dass der Beschwerdeführer am 12. Dezember 1971 sein Auto ohne Führerausweis gelenkt hat und wegen Nichtbeherrschen des Fahrzeuges beim Überholen eines andern Personenwagens eine Kollision verursachte. Er ist deswegen mit Strafverfügung des Statthalteramtes Uster mit Fr. 120.-- gebüsst worden.
Schliesslich fällt für die Frage des Widerrufes der Aufenthaltsbewilligung ins Gewicht, dass der junge und ledige Beschwerdeführer sich erst seit Mitte 1969 in der Schweiz aufhält und für ihn die Rückkehr nach Italien keine besondere Härte bedeutet. c) Bei der Würdigung der eben erwähnten Umstände ist die Vorinstanz zum Schluss gekommen, das Interesse der Schweiz
BGE 98 Ib 85 S. 92
von dem Beschwerdeführer als unerwünschtem Ausländer befreit zu werden, sei entscheidend. Mit ihrem Entscheid hält sie sich im Rahmen des ihr zustehenden Ermessens und hat somit Bundesrecht nicht verletzt.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen.