81 IV 296
64. Urteil des Kassationshofes vom 2. Dezembcr 1955 i. S. Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft gegen Bruggmann.
Regeste (de):
- Art. 45 Abs. 2
, 49 Abs. 2
MFV.
- Im Bereiche von Sicherheitslinien dürfen Motorfahrzeuge jedenfalls dann nicht aufgestellt werden, wenn andern dadurch verunmöglicht würde, ungehindert rechts der Linie zu fahren.
- Wann ist das Fahrzeug "aufgestellt"?
Regeste (fr):
- Art. 45 al. 2, 49 al. 2 RA.
- Un conducteur ne peut arrêter son véhicule à moteur dans les endroits où il existe des lignes de démarcation, en tout cas lorsque les autres usagers sont de ce fait empêchés de circuler librement à droite de la ligne.
- Quand un véhicule est-il "arrêté"?
Regesto (it):
- Art. 45 cp. 2, 49 cp. 2 RLA.
- Dove sono tracciate linee di sicurezza un autoveicolo non può in ogni modo essere fatto sostare se ciò impedisce ad altri utenti della strada di circolare liberamente a destra della linea.
- Quando un veicolo è "fatto sostare"?
Sachverhalt ab Seite 296
BGE 81 IV 296 S. 296
A.- Josef Bruggmann führte am 30. März 1954 kurz nach 17 Uhr einen Lastwagen mit Anhänger auf der gut ausgebauten und stark befahrenen Überlandstrasse von Pratteln Richtung Liestal. Auf der Strassenkuppe vor der Hülftensenke hielt er an und liess den Lastenzug drei bis vier Minuten am rechten Strassenrande stehen. Die Mitte der Strasse ist dort durch eine Sicherheitslinie und anschliessend daran in beiden Richtungen durch eine Leitlinie gekennzeichnet, da die Kuppe die Sicht auf entgegenkommende Strassenbenützer beeinträchtigt.
B.- Mit Strafbefehl vom 4. August 1954 büsste die Überweisungsbehörde des Kantons Basel-Landschaft Bruggmann wegen Übertretung des Art. 49

BGE 81 IV 296 S. 297
aus, der stehende Lastenzug habe auf der gut ausgebauten Überlandstrasse den Verkehr nicht erheblich behindert, da er von beiden Seiten auf grössere Entfernung gut sichtbar gewesen sei. Die Auffassung der Staatsanwaltschaft, dass im Bereiche einer Sicherheitslinie überhaupt nicht stationiert werden dürfe, gehe zu weit. Nach dem Kreisschreiben des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements vom 28. März solle wegen Überfahrens solcher Linien allein keine Strafanzeige erfolgen. Tatsächlich werde beispielsweise im Dorfe Itingen das Überfahren der Sicherheitslinien polizeilich toleriert, obschon dadurch der Verkehr dauernd erheblich gefährdet werde. Auch hätten im vorliegenden Falle der verzeigende Polizist und der ihn begleitende Polizeikommandant anhalten und den Führer auf das angeblich vorschriftswidrige Stationieren aufmerksam machen und ihn zum sofortigen Weiterfahren veranlassen sollen. Dass sie es nicht taten, beweise, dass sie selber den Verkehr nicht als erheblich gefährdet angesehen hätten.
C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts sei wegen Verletzung von Art. 49 Abs. 2



D.- Bruggmann beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen.
Erwägungen
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. Nach Art. 49 Abs. 2

BGE 81 IV 296 S. 298
dass die Unfallgefahr eine konkrete sei oder dass das aufgestellte Motorfahrzeug tatsächlich jemanden in unzumutbarer Weise an der Fortsetzung seines Weges hindere. Art. 49 Abs. 2

2. Nach ständiger Rechtsprechung des Kassationshofes darf an Sicherheitslinien vom Gebote des Rechtsfahrens nur aus zwingenden Gründen abgewichen werden, z.B. wenn ein anderes Fahrzeug wegen einer Panne die rechte Fahrbahn versperrt (BGE 79 IV 84und dort erwähnte Urteile). Hievon geht auch das Kreisschreiben des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements an die Kantonsregierungen vom 28. März 1939 aus. Die Vorinstanz verkennt das, wenn sie glaubt, das Departement habe Strafanzeige wegen Überfahrens von Sicherheitslinien als nicht erwünscht bezeichnet. Die Meinungsäusserung, dass wegen Überfahrens allein keine Strafanzeige eingereicht werden solle, bezieht sich auf den Fall, dass die Linie "nach den gegebenen Strassenverhältnissen nicht als Sicherheitslinie im Sinne von Art. 45 Abs. 2


BGE 81 IV 296 S. 299
Darf der Führer eines Motorfahrzeuges ohne zwingenden Grund die Sicherheitslinie nicht überfahren, ja sich ihr nicht einmal so stark nähern, dass er entgegenkommende Strassenbenützer gefährden könnte (vgl. BGE 81 IV 172 f.), so versteht es sich, dass im Bereiche solcher Linien Fahrzeuge jedenfalls dann nicht aufgestellt werden dürfen, wenn der Raum zwischen dem Fahrzeug und der Linie zu eng ist, um anderen ungehindert die Beachtung des Art. 45 Abs. 2


BGE 81 IV 296 S. 300
anweist, die Strassenbahngeleise freizulassen (vgl.BGE 79 IV 79ff.). Auch dieser Zweck könnte durch Aufstellen von Fahrzeugen im Bereiche von Sicherheitslinien vereitelt werden, selbst wenn das aufgestellte Fahrzeug von weitem sichtbar ist.
3. Art. 49 Abs. 2

4. Aus dem angefochtenen Urteil und den Akten ergibt sich nicht, wie breit der Lastenzug und die Strasse auf der Kuppe vor der Hülftensenke sind. Indessen hat das Obergericht die Erklärung des Anzeigers, dass die Richtung Liestal fahrenden Wagen wegen des Lastenzuges gezwungen gewesen seien, die Sicherheitslinie zu überfahren, nicht widerlegt. Der Beschwerdegegner selber räumt ein, dass sie richtig sein könne. Er macht lediglich geltend, auf keinen Fall sei der gegen Liestal Fahrende gezwungen gewesen, die Linie so weit zu überfahren, dass dadurch der entgegenkommende Verkehr behindert oder gestört worden sei. Nach dem Gesagten kommt indessen darauf nichts an, womit auch der Schluss des Obergerichts, der Anzeiger und der ihn begleitende Polizeikommandant selbst hätten die Verkehrsgefährdung nicht für erheblich gehalten, ansonst sie den Beschwerdegegner sofort zur Weiterfahrt veranlasst hätten, gegenstandslos ist. Wie ausgeführt, ist sodann auch unerheblich, dass der Lastenzug von beiden Seiten auf ziemliche Entfernung sichtbar war. Des weitern steht fest und gibt auch der Beschwerdegegner zu, dass die auf der Kuppe angebrachte Linie durchgezogen ist. Sie ist also Sicherheitslinie im Sinne des Art. 45 Abs. 2

BGE 81 IV 296 S. 301
unterbrochene Leitlinie anschliesst, die den Strassenbenützer auf die Verhältnisse auf der Kuppe vorbereitet, ändert nichts. Entgegen der Annahme des Beschwerdegegners wird dadurch die Linie dort, wo sie durchgezogen ist - nach seinen Angaben auf etwa 80 m Länge - nicht ebenfalls zur Leitlinie. Auch hat der Beschwerdegegner den Lastenzug nicht nur angehalten, sondern im Sinne des Art. 49 Abs. 2


5. Der Beschwerdegegner bestreitet weder, dass er den Lastenzug mit Wissen und Willen auf der Kuppe vor der Hülftensenke aufgestellt, noch dass er von der dort liegenden Sicherheitslinie Kenntnis gehabt habe und sich bewusst gewesen sei, dass die Richtung Liestal sich bewegenden Fahrzeuge wegen des Lastenzuges genötigt waren, sie zu überfahren. Zum mindestens konnte er sich dieser Verhältnisse bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit und Überlegung bewusst sein. Der subjektive Tatbestand der Übertretung ist daher erfüllt, sei es in Form des Vorsatzes, sei es in Form von Fahrlässigkeit, die gemäss Art. 65 Abs. 1 MFG zur Anwendung des Gesetzes genügt.
Dispositiv
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil der Polizeikammer des Obergerichts des Kantons Basel-Landschaft vom 7. Juni 1955 aufgehoben und die Sache zur Bestrafung des Beschwerdegegners wegen Übertretung des Art. 49 Abs. 2
