81 II 408
63. Urteil der II. Zivilabteilung vom 22. September 1955 i. S. Grieder gegen Fässler.
Regeste (de):
- Ehescheidung, Bedürftigkeitsrente (Art. 152
ZGB).
- Unter welchen Voraussetzungen ist einem schuldlosen, geistig nicht normalen Ehegatten ein Unterhaltsbeitrag nicht oder nur für beschränkte Zeit zu gewähren, obwohl mit dauernder Bedürftigkeit zu rechnen ist und der andere Ehegatte einen Beitrag dauernd zu leisten vermöchte?
Regeste (fr):
- Divorce, dénûment (art. 152 CC).
- Dans quelles conditions y a-t-il lieu de ne pas allouer ou d'allouer seulement pour une période limitée une pension alimentaire à un époux innocent, qui n'est pas normal au point de vue mental, bien qu'il faille compter avec un état durable de dénûment et que l'autre conjoint soit en mesure de payer une pension sans restriction dans le temps?
Regesto (it):
- Divorzio, pensione alimentare per il coniuge che si trovi in grave ristrettezza (art. 152 CC).
- In quali condizioni non dev'essere accordata o dev'essere accordata soltanto per un periodo limitato la pensione alimentare al coniuge innocente, affetto da infermità mentale, quantunque si debba contare con uno stato durevole di grave ristrettezza e l'altro coniuge sia in grado di pagare la pensione senza limitazione nel tempo?
Sachverhalt ab Seite 409
BGE 81 II 408 S. 409
Am 29. April 1955 hat das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft die am 17. März 1949 geschlossene, kinderlos gebliebene Ehe der Parteien auf Klage des Ehemanns gemäss Art. 142
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BGE 81 II 408 S. 410
Verwandten ein ihren Unterhalt sichernder Arbeitsplatz gefunden werden könne. Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die Berufung an das Bundesgericht erklärt mit dem Antrag, der Unterhaltsbeitrag sei ihr ohne zeitliche Begrenzung zuzusprechen. Der Kläger beantragt, auf die Berufung sei nicht einzutreten; eventuell sei sie abzuweisen.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Der Kläger ist der Meinung, auf die Berufung sei nicht einzutreten, weil der kantonale Richter seinen Entscheid über den streitigen Rentenanspruch auf Grund des ihm durch Art. 152
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SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 4 - Wo das Gesetz das Gericht auf sein Ermessen oder auf die Würdigung der Umstände oder auf wichtige Gründe verweist, hat es seine Entscheidung nach Recht und Billigkeit zu treffen. |
2. Art. 152
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BGE 81 II 408 S. 411
in seiner Person liegen, eine richtige eheliche Gemeinschaft nie zustandegekommen ist. Das ist im wesentlichen der Sinn des Entscheides BGE 67 II Nr. 2. Zwar wurde dort zunächst damit argumentiert, dass die Geisteskrankheit, welche die Erwerbsfähigkeit der damaligen Beklagten beeinträchtigte, schon vor Abschluss der Ehe bestanden habe und dass daher eine allfällige Bedürftigkeit der Beklagten nicht "durch die Scheidung" (bezw. Ungültigerklärung) der Ehe verursacht worden sei. Auch eine Frau, die von jeher nur vermindert erwerbsfähig war und deshalb ihren Lebensunterhalt nicht (voll) zu verdienen vermag, gerät jedoch, wenn sie nicht über sonstige Mittel verfügt, bei Auflösung der Ehe durch Scheidung oder Ungültigerklärung infolge dieses Ereignisses in Bedürftigkeit, weil sie damit eben den ehelichen Unterhaltsanspruch verliert. Man kann daher nicht wohl sagen, dass in einem solchen Falle die in Frage stehende gesetzliche Voraussetzung des Anspruchs auf einen Unterhaltsbeitrag nicht gegeben sei. Das Bundesgericht hat sich im erwähnten Urteil denn auch nicht mit diesem Argument begnügt, sondern hervorgehoben, dass die Geisteskrankheit der Beklagten, die schon bei Abschluss der Ehe in gleicher Schwere bestanden hatte, eine wirkliche Ehegemeinschaft von Anfang an verunmöglicht habe, und seine Entscheidung schliesslich mit der Erwägung begründet: "Zur Gründung einer ehelichen Gemeinschaft trug die Beklagte so wenig bei, dass es nicht zu rechtfertigen ist, den Ehemann zu Unterhaltsleistungen auf Grund von Art. 152
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BGE 81 II 408 S. 412
Im vorliegenden Falle kann dahingestellt bleiben, ob mit hinreichender Sicherheit erwartet werden dürfe, dass die Beklagte nach Ablauf der Zeit, für welche ihr ein Unterhaltsbeitrag zugesprochen wurde, in der Lage sein werde, ihren vollen Lebensunterhalt zu verdienen; denn der angefochtene Entscheid wäre auch dann gerechtfertigt, wenn man diese Frage verneinen wollte. Der die Erwerbsfähigkeit der Beklagten beeinträchtigende Schwachsinn ist nicht erst im Verlauf einer vorerst normal verlaufenen Ehe eingetreten, sondern bestand nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz schon bei Abschluss der Ehe in einem Masse, dass fragwürdig ist, ob die Beklagte die zur Eheschliessung erforderliche Urteilsfähigkeit besass. Die Vorinstanz erklärt, eine eheliche Gemeinschaft, die über das rein äusserliche Zusammenleben hinaus gegangen wäre, habe zwischen den Parteien "überhaupt nie" bestanden. Der vorliegende Tatbestand zeigt also Ähnlichkeit mit dem in BGE 67 II Nr. 2 beurteilten Falle. Dort beeinträchtigte aber die schon bei der Eheschliessung bestehende geistige Störung der Beklagten die ehelichen Beziehungen in noch stärkerem Masse als im vorliegenden Falle, und ausserdem standen hier neben dem Schwachsinn der Beklagten auch die eigenen geistigen Mängel des Klägers der Begründung einer wahren Ehegemeinschaft im Wege. Der heutigen Beklagten jeglichen Unterhaltsbeitrag zu verweigern, hätte unter diesen Umständen ihr gegenüber eine unbillige Härte bedeutet. Dagegen erscheint eine zeitliche Beschränkung der Beitragspflicht des Klägers als gerechtfertigt. Mit der Begrenzung auf vier Jahre hat die Vorinstanz von dem ihr zustehenden Ermessen nicht in bundesrechtswidriger Weise Gebrauch gemacht.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und Dispositiv 2 des Urteils des Obergerichtes des Kantons Basel-Landschaft vom 29. April 1955 bestätigt.