81 I 113
22. Urteil vom 4. Mai 1955 i.S. Kuppel gegen Strazzer und Obergericht des Kantons Aargau.
Regeste (de):
- Kantonales Prozessrecht. Rechtsverweigerung, rechtsungleiche Behandlung.
- Auslegung und Anwendung einer Vorschrift, wonach schriftliche Rechtsvorkehren entweder von der Partei selber verfasst oder von einem zugelassenen Anwalt unterschrieben sein müssen (§ 13 aarg. Advokatengesetz und § 51 aarg. ZPO).
Regeste (fr):
- Procédure cantonale. Déni de justice, inégalité de traitement.
- Interprétation et application d'une disposition selon laquelle les actes écrits de la procédure doivent soit être rédigés par la partie elle-même soit être signés par un avocat admis à pratiquer (§ 13 de la loi argovienne sur le barreau et § 51 du CPC argovien).
Regesto (it):
- Diritto processuale cantonale. Diniego di giustizia, disparità di trattamento.
- Interpretazione e applicazione d'una disposizione, secondo la quale gli allegati scritti debbono essere sia redatti dalla parte stessa, sia firmati da un avvocato ammesso a praticare (§ 13 della legge argoviese sull'esercizio dell avvocatura e § 51 del CPC argoviese).
Sachverhalt ab Seite 113
BGE 81 I 113 S. 113
A.- Die Beschwerdeführerin Ida Kuppel in Baden (AG) wurde auf Klage von Frau Strazzer durch Urteil des Bezirksgerichts Baden vom 16. Februar 1954 der üblen Nachrede schuldig erklärt und gebüsst. Als ihr dieses Urteil am 6. April 1954 unter Hinweis auf die 10-tägige Beschwerdefrist zugestellt wurde, sandte sie es gleichen Tages an Rechtsanwalt Dr. Heeb in Zürich, der sie in zwei damals vor Bezirksgericht Baden hängigen Prozessen
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vertrat und hiefür von der Anwaltskammer des aargauischen Obergerichts besondere Bewilligungen zum Handeln vor den aargauischen Gerichten erhalten hatte. Dr. Heeb lud die Beschwerdeführerin auf den 12. April zu einer Besprechung nach Zürich ein und setzte dort auf ihren Wunsch eine auf Freisprechung unter Kosten- und Entschädigungsfolge zielende Beschwerdeerklärung auf, die sie selber unterzeichnete und am 13. April beim Bezirksgericht Baden einreichte. Am 7. Mai ersuchte Dr. Heeb die Anwaltskommission des aargauischen Obergerichts um die Bewilligung, auch im Prozess gegen Frau Strazzer für die Beschwerdeführerin vor den aargauischen Gerichten zu handeln; sie wurde ihm am 8. Mai erteilt. Am 6. Oktober 1954 teilte die Beschwerdeführerin dem Obergericht auf Befragen mit, dass ihre gegen das Urteil des Bezirksgerichts Baden vom 16. Februar 1954 erhobene Beschwerde von Dr. Heeb verfasst worden sei. Darauf lehnte das Obergericht durch Entscheid vom 26. November 1954 das Eintreten auf die Beschwerde ab, im wesentlichen mit folgender Begründung: Nach § 13 des Advokatengesetzes vom 10. Dezember 1833 und § 51 ZPO seien nur solche schriftliche Vorträge bezw. Rechtsvorkehren "statthaft und gesetzlich eingelegt", die entweder von der Partei wirklich und persönlich verfasst oder von einem zugelassenen Anwalt unterschrieben seien. Die vorliegende Beschwerde sei, wie die Beschwerdeführerin zugebe, von Rechtsanwalt Dr. Heeb in Zürich verfasst worden. Dieser besitze aber weder eine allgemeine noch eine besondere Zulassungsbewilligung. Eine solche sei von ihm erst anfangs Mai, also nach Ablauf der Beschwerdefrist, eingeholt und erst am 18. Oktober 1954 verurkundet worden. Da die Beschwerde nicht von der Beschwerdeführerin persönlich verfasst worden sei, hätte sie von Dr. Heeb unterzeichnet sein müssen, und es hätte dieser noch innert der Beschwerdefrist zum mindesten das Gesuch um Erteilung der Zulassungsbewilligung stellen müssen (vgl. VJS 1933 S. 56 Nr. 12). Keine dieser beiden zwingenden Voraussetzungen sei
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erfüllt, weshalb die Beschwerde als ungültig zu verwerfen sei.
B.- Gegen diesen Nichteintretensentscheid hat Ida Kuppel rechtzeitig staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Sie beruft sich auf Art. 4
SR 101 Constitution fédérale de la Confédération suisse du 18 avril 1999 Cst. Art. 4 Langues nationales - Les langues nationales sont l'allemand, le français, l'italien et le romanche. |
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C.- Das Obergericht des Kantons Aargau hat auf die Einreichung von Gegenbemerkungen verzichtet.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1./ 2.- (Prozessuales).
3. Der vom Obergericht in erster Linie angerufene § 13 AdvG lautet: "Die Gerichtsbehörden werden darüber wachen, dass keine schriftlichen Vorträge angenommen werden, welche entweder nicht selbst von einer Partei wirklich und persönlich verfasst oder von einem zugelassenen Anwalte unterschrieben sind." Das Bundesgericht hat schon mehrfach entschieden, dass diese Bestimmung an sich nicht gegen Art. 4
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Die Annahme des Obergerichts, dass der Ausdruck "schriftliche Vorträge" in § 13 AdvG nach dieser neueren Gesetzesvorschrift auszulegen sei und dass der in § 51 ZPO enthaltene Begriff der "Rechtsvorkehr" auch blosse Beschwerdebegehren umfasse, lässt sich nicht als willkürlich bezeichnen. Es kann sich nur fragen, ob § 13 AdvG und § 51 ZPO in dieser Auslegung mit dem Grundsatz der Rechtsgleichheit oder mit der verfassungsmässigen Gewährleistung des rechtlichen Gehörs unvereinbar sind.
4. Wenn die §§ 13 AdvG und 51 ZPO im eben genannten Sinn streng ausgelegt werden, ist die von einem Anwalt verfasste Rechtsmittelerklärung nur gültig, wenn dieser zur Zeit ihrer Abfassung allgemein oder für den Einzelfall zum Handeln vor aargauischen Gerichten zugelassen war. Ob diese Auslegung, die den Beizug eines bisher im Kanton Aargau nicht zugelassenen Anwalts für die Erhebung eines kurzbefristeten Rechtsmittels erheblich erschwert, wenn nicht verunmöglicht, vor Art. 4
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einkomme. Die Gefahr, dass eine nicht geeignete Person unerkannter- und unerwünschterweise ihr verstecktes Handwerk betreibt, besteht auch dann nicht, wenn die Bewilligung erst später nachgesucht wird; erforderlich ist nur, dass sie im Zeitpunkt, wo der Verfasser der Beschwerde festgestellt und über deren Zulässigkeit entschieden wird, vorliegt. So verhält es sich aber hier. Die Anwaltskammer des Obergerichts hat Dr. Heeb die Zulassungsbewilligung für den vorliegenden Prozess am 8. Mai 1954 erteilt, und die Beschwerdeführerin hat, als sie ihn am 6. Oktober 1954 auf Befragen als Verfasser bezeichnete, gleichzeitig darauf hingewiesen, dass er eine Zulassungsbewilligung eingeholt habe, die denn auch am 18. Oktober 1954 eingereicht wurde. Bei dieser Sachlage ist aber aus dem Gesichtspunkt des Zwecks der §§ 13 AdvG und 51 ZPO kein vernünftiger Grund ersichtlich, der es gerechtfertigt hätte, am 26. November 1954 auf die Beschwerde nicht einzutreten. Sie gestützt auf diese Bestimmungen von der Hand zu weisen, obwohl feststand, dass der Anwalt, der sie verfasste, nicht nur die Zulassungsbedingungen erfüllte, sondern die Bewilligung zur Vertretung der Beschwerdeführerin gerade in dieser Streitsache schon längst besass, bedeutet einerseits einen übertriebenen Formalismus, der sich durch keine schutzwürdigen Interessen rechtfertigen lässt, und damit eine Rechtsverweigerung, anderseits eine rechtsungleiche Behandlung der Beschwerdeführerin im Verhältnis zu den Fällen, in denen nach der Praxis des Obergerichts eine nachträgliche Zulassungsbewilligung genügt.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird dahin gutgeheissen, dass das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 26. November 1954 aufgehoben wird.