80 I 1
1. Auszug aus dem Urteil vom 27. Januar 1954 i.S. Z. gegen M. und Kantonsgericht von Graubünden.
Regeste (de):
- Kantonales Zivilprozessrecht. Willkür.
- Gelten die allgemeinen Vorschriften über die Editionspflicht auch für die Vorlegung amtlicher Akten?
Regeste (fr):
- Procédure civile cantonale. Arbitraire.
- Les dispositions générales de la loi relatives à l'obligation de produire des pièces sont-elles aussi applicables lorsqu'il s'agit de pièces officielles?
Regesto (it):
- Procedura civile cantonale. Arbitrio.
- Le disposizioni generali della legge relative all'obbligo di produrre degli atti sono applicabili anche quando si tratta di atti ufficiali?
Sachverhalt ab Seite 1
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A.- Die Beschwerdeführerin Anny Z. gebar am 22. Dezember 1950 ein uneheliches Kind. Da ihr eigenartiges Verhalten vor und nach der Geburt auf eine Geistesstörung zu deuten schien, wurde sie von der Vormundschaftsbehörde Oberengadin zur Untersuchung in die kantonale Heil- und Pflegeanstalt Waldhaus eingewiesen. Deren Direktor erstattete der Vormundschaftsbehörde Ende Februar 1951 ein Gutachten über ihren Geisteszustand, auf Grund dessen von der Bevormundung abgesehen wurde. Am 27. Juni 1951 erhoben Anny Z. und ihr Kind beim Bezirksgericht Maloja Vaterschaftsklage gegen M. Dieser
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anerkannte den Geschlechtsverkehr in der kritischen Zeit, erhob aber die Einreden des Mehrverkehrs und des unzüchtigen Lebenswandels und verlangte u.a. die Edition aller Akten der Vormundschaftsbehörde. Das Bezirksgericht ordnete diese Edition an, worauf die Vormundschaftsbehörde alle ihre Akten einreichte mit Ausnahme des Gutachtens. Als der Beklagte auf dessen Edition beharrte, die Vormundschaftsbehörde aber bestritt, dass sie zur Vorlage ihrer Akten verhalten werden könne, kam das Bezirksgericht auf seinen Beschluss zurück und verzichtete auf die Edition des Gutachtens. Am 16. Januar 1953 hiess es die Vaterschaftsklage gut und verurteilte M. zu Vermögensleistungen an Mutter und Kind. M. appellierte gegen dieses Urteil an das Kantonsgericht und wiederholte sein Begehren um Edition des Gutachtens, aus dem sich ohne Zweifel der behauptete Mehrverkehr und unzüchtige Lebenswandel der Mutter zur Zeit der Empfängnis ergeben werde. Darauf stellte das Kantonsgericht durch Beiurteil vom 16./17. Juli 1953 fest, dass die Vormundschaftsbehörde verpflichtet sei, das über Anny Z. eingeholte psychiatrische Gutachten zu edieren. Die Begründung dieses Entscheids lässt sich wie folgt zusammenfassen: Gemäss Art. 173



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Gebots sei sogar strafbar (Art. 320


B.- Gegen diesen Entscheid haben Anny Z. und ihr Kind rechtzeitig staatsrechtliche Beschwerde erhoben mit dem Antrag, ihn wegen Verletzung von Art. 4

Erwägungen
in Erwägung:
Der angefochtene Entscheid leitet die Pflicht der Vormundschaftsbehörde zur Edition des Gutachtens aus den in der ZPO enthaltenen Bestimmungen über den Urkundenbeweis (Art. 169 ff.) ab. Diese Bestimmungen kennen, von den "offenbar zwecklosen" Editionen abgesehen (Art. 174), keine Ausnahmen von der Pflicht Dritter zur Herausgabe und Vorlage von Urkunden an die Gerichte. Trotzdem anerkennt das Kantonsgericht, dass die Editionspflicht dann zu verneinen sei, wenn sich die Urkunde auf Tatsachen beziehe, über welche ihr Inhaber als Zeuge die Aussage verweigern könnte. Das ist zweifellos richtig. Dagegen ist die Auffassung, dass die Editionspflicht nur beim Vorliegen einer der in Art. 183

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und Lehre übereinstimmend annehmen, nicht die allgemeinen zivilprozessualen Vorschriften über die Editionspflicht, sondern andere Regeln, und zwar selbst dann, wenn eine ausdrückliche Bestimmung in diesem Sinne fehlt (nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 23. April 1945 i.S. Ortsgemeinde Bilten; GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht I S. 297). Das folgt insbesondere auch aus dem in allen Kantonen geltenden Grundsatz der Gewaltentrennung. Da nach diesem die Gerichte und die Verwaltungsbehörden einander gleichgeordnet sind, muss angenommen werden, dass die Gerichte mangels besonderer gesetzlicher Vorschriften nicht befugt sind, den Verwaltungsbehörden die Vorlegung ihrer Akten zu befehlen, sondern dass diese, sofern sie um Edition ersucht werden, selber darüber zu entscheiden haben, ob das Interesse an der Geheimhaltung ihrer Akten oder dasjenige an der Wahrheitsermittlung durch die Gerichte überwiegt (GULDENER a.a.O.). Neuere Zivilprozessordnungen tragen dem dadurch Rechnung, dass sie entweder das Verwaltungsrecht vorbehalten (Art. 51 Abs. 4

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Vorbehalt des Weiterzugs an den Kleinen Rat entscheidet. Diese Verordnung betrifft freilich nur die staatlichen (kantonalen) vom Kleinen Rat oder vom Kantonsgericht gewählten Funktionäre, während die Mitglieder der hier in Frage stehenden Vormundschaftsbehörde Funktionäre der Kreise sind und vom Kreisgericht gewählt werden (Art. 55

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Editionspflicht der vormundschaftlichen Behörden im Zivilprozess annimmt, erweist sich damit als unhaltbar und verstösst gegen Art. 4
