S. 133 / Nr. 32 Strassenverkehr (d)

BGE 79 IV 133

32. Urteil des Kassationshofes vom 16. Oktober 1953 i. S. Zumbach gegen
StaatsanwaItschaft des Kantons Aargau.

Regeste:
Art. 49 Abs. 1 Satz 3 MFV, Art. 20
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 20 - Besteht ernsthafter Anlass, an der Schuldfähigkeit des Täters zu zweifeln, so ordnet die Untersuchungsbehörde oder das Gericht die sachverständige Begutachtung durch einen Sachverständigen an.
StGB.
1. Begriff des «Aussteigens» (Erw. 1).
2. Wann darf auf der dem Verkehr zugewendeten Seite ausgestiegen werden? (Erw.
2).
3. Zureichende Gründe zu einem Rechtsirrtum verneint (Erw. 3).

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Art. 49 al. 1 3e phrase RA, art. 20 CP.
1. Que faut-il entendre par «descendre»? (consid. 1).
2. Quand peut-on descendre du côté route? (consid. 2).
3. Erreur de droit, pas de raisons suffisantes (consid. 3).
Art. 49 cp. 1 terza frate RLA. art. 20 CP.
1. «Scendere» dal veicolo. Nozione (consid. 1).
2. Quando si può scendere dal lato della strada? (consid. 2).
3. Errore di diritto; mancanza di ragioni sufficienti (consid. 3).

A. - Hans Zumbach führte am 19. April 1952 um 12.25 Uhr einen linksgesteuerten
Personenwagen in Begleitung des rechts neben ihm sitzenden dreissigjährigen
Othmar Müller und einer weiteren, sich hinten im Wagen befindenden Person vom
Bahnhof Aarau durch die Bahnhofstrasse stadteinwärts. Bei der Allgemeinen
Aargauischen Ersparniskasse hielt er am Fussgängersteig auf der rechten Seite
der Fahrbahn an und öffnete langsam die linke Türe des Wagens 20 bis 30 cm
weit. um durch einen Blick nach rückwärts festzustellen, ob er ungehindert
nach der Strasse hin aussteigen könne. Ein von hinten kommender Radfahrer, den
er kurz vorher überholt hatte, erblickte die sich öffnende Türe, wich
überrascht nach links aus und geriet dadurch in die Fahrbahn eines
Motorradfahrers, der ihn überholen wollte. Radfahrer und Motorradfahrer
stiessen zusammen und wurden erheblich verletzt. Der Führer eines gegen den
Bahnhof fahrenden Motorwagens musste kräftig bremsen und nach rechts
schwenken, damit sein Fahrzeug mit den beiden nicht zusammenstosse.
B. - Das Bezirksgericht Aarau verurteilte Zumbach am 3. Dezember 1952 wegen
Übertretung des Art. 49
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 20 - Besteht ernsthafter Anlass, an der Schuldfähigkeit des Täters zu zweifeln, so ordnet die Untersuchungsbehörde oder das Gericht die sachverständige Begutachtung durch einen Sachverständigen an.
Abs. MFV zu Fr. 10.- Busse und verfügte, dass das
Urteil im Strafregister zu löschen sei, wenn sich der Gebüsste während eines
Jahres bewähre. Es nahm an, er habe zwar unter den obwaltenden Umständen nach
links aussteigen dürfen, hätte sich aber darauf sorgfältiger vorbereiten
sollen (Beobachtung durch das geöffnete Seitenfenster und durch das
Rückfenster).
Eine Beschwerde, die Zumbach gegen dieses Urteil führte, wurde vom Obergericht
des Kantons Aargau am

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7. Juli 1953 abgewiesen, weil der Beschwerdeführer nicht aus blosser
Bequemlichkeit habe nach links aussteigen dürfen und zudem sich vor dem Öffnen
der Türe nicht mit der nötigen Sorgfalt vergewissert habe, ob jede Gefährdung
anderer ausgeschlossen sei. Indem er die Türe ein wenig geöffnet habe, habe er
bereits das Gefahrenmoment geschaffen, das zu vermeiden Art. 49 Abs. 1 MFV
bezwecke.
C. - Zumbach führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des
Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zur Freisprechung des
Beschwerdeführers zurückzuweisen. Er macht geltend, Art. 49 Abs. 1 Satz 3 MFV
sei eine blosse Sollvorschrift, lasse also dem Insassen des Wagens ein
gewisses Ermessen. Die verschiedene Beurteilung durch Bezirksgericht und
Obergericht zeige, dass man in guten Treuen verschiedener Meinung habe sein
können, ob das Aussteigen nach links zulässig sei. Man könne deshalb dem
Beschwerdeführer nicht zum Verschulden anrechnen, dass er sich entschlossen
habe, links auszusteigen. Praktisch finde sich kaum ein Führer, der aus einem
linksgesteuerten Wagen zu einer kurzfristigen Besorgung rechts aussteige und
zu diesem Zwecke dem neben ihm sitzenden Begleiter befehle, den Wagen zu
verlassen. Auch habe der Beschwerdeführer vor und bei dein Öffnen der Türe die
nötige Sorgfalt angewendet.
Der Kassationshofes zieht in Erwägung:
1.- Gemäss Art. 49 Abs. 1 Satz 3 MFV hat «das Aussteigen aus dem Fahrzeug,
wenn möglich, auf der dem Verkehr abgewendeten Seite zu erfolgen».
Diese Bestimmung will nicht ausschliesslich den Aussteigenden davor bewahren,
dass er durch den Verkehr gefährdet werde, sondern auch, und zwar in erster
Linie, verhüten, dass er den Verkehr gefährde oder störe. Das zu tun,
verbietet ihm übrigens auch Art. 237
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 237 - 1. Wer vorsätzlich den öffentlichen Verkehr, namentlich den Verkehr auf der Strasse, auf dem Wasser, in der Luft oder auf der Schiene hindert, stört oder gefährdet und dadurch wissentlich Leib und Leben von Menschen oder fremdes Eigentum in Gefahr bringt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
1    Wer vorsätzlich den öffentlichen Verkehr, namentlich den Verkehr auf der Strasse, auf dem Wasser, in der Luft oder auf der Schiene hindert, stört oder gefährdet und dadurch wissentlich Leib und Leben von Menschen oder fremdes Eigentum in Gefahr bringt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
2    Handelt der Täter fahrlässig, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe.
StGB. Daher ist unter dem «Aussteigen»
nicht erst das Verlassen des Fahrzeuges zu verstehen. sondern schon das Öffnen
der

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Türe; schon durch dieses kann der Verkehr gefährdet oder gestört werden,
insbesondere wenn andere Strassenbenützer, wie im vorliegenden Falle der
Radfahrer, überrascht und damit zu plötzlichem Ausweichen veranlasst werden
oder ihnen das Ausweichen überhaupt nicht mehr gelingt.
Indem der Beschwerdeführer die dem Verkehr zugewendete Türe um 20 bis 30 cm
öffnete, wenn auch ohne das Fahrzeug zu verlassen, stieg er somit im Sinne des
Art. 49 Abs. 1 Satz 3 MFV aus und vollendete er die ihm zur Last gelegte
Übertretung, wenn eine solche überhaupt vorliegt; er beging nicht einen
blossen Versuch, der gemäss Art. 65 Abs. 3 MFG in Verbindung mit Art. 334
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 334 - Wird in Bundesvorschriften auf Bestimmungen verwiesen, die durch dieses Gesetz geändert oder aufgehoben werden, so sind diese Verweisungen auf die entsprechenden Bestimmungen dieses Gesetzes zu beziehen.
und
104
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 104 - Die Bestimmungen des Ersten Teils gelten mit den nachfolgenden Änderungen auch für die Übertretungen.
StGB nicht Strafe nach sich zöge.
2.- Art. 49 Abs. 1 Satz 3 MFV verbietet das Aussteigen nach der dem Verkehr
zugewendeten Seite nicht schlechthin, sondern verlangt bloss, dass «wenn
möglich» nach der anderen Seite hin ausgestiegen werde. Möglich ist das
Aussteigen nach der dem Verkehr abgewendeten Seite, wenn nicht die örtlichen
Verhältnisse, z.B. eine am Strassenrand stehende Mauer oder ein Abgrund, oder
die Beschaffenheit oder Beladung des Wagens es geradezu unmöglich oder doch so
schwer machen, dass dem Aussteigenden die Überwindung der Schwierigkeiten
nicht zugemutet werden kann. Die Sicherheit des Verkehrs geht blosser
Bequemlichkeit der Insassen des Fahrzeuges vor.
Unmöglich war im vorliegenden Falle das Aussteigen nach der dem Verkehr
abgewendeten Seite hin nicht. Der Beschwerdeführer hatte lediglich den rechts
neben ihm sitzenden Othmar Müller aufzufordern, das Fahrzeug nach rechts zu
verlassen und damit den Weg nach dieser Seite freizugeben. Diese Einladung und
ihre Befolgung durch Müller, der dreissig Jahre alt und mit keinen Gebrechen
behaftet war, konnte den beiden auch zugemutet werden. Indem der
Beschwerdeführer bewusst und gewollt die linke Türe öffnete, übertrat er daher
vorsätzlich Art. 49 Abs. 1 Satz 3 MFV, gleichgültig ob er vor und bei Begehung
der

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Tat den Verkehr sorgfältig oder in ungenügender Weise beobachtete.
3.- Art. 20
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 20 - Besteht ernsthafter Anlass, an der Schuldfähigkeit des Täters zu zweifeln, so ordnet die Untersuchungsbehörde oder das Gericht die sachverständige Begutachtung durch einen Sachverständigen an.
StGB kommt dem Beschwerdeführer nicht zugute. Sollte er sich über
den Sinn des Art. 49 Abs. 1 Satz 3 MFV geirrt haben, so hatte er dazu
jedenfalls keinen zureichenden Grund; er hätte sich sagen sollen, dass die
Sicherheit des Verkehrs seiner persönlichen Bequemlichkeit und jener des
Müller vorgehe und er daher nach rechts auszusteigen habe.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 79 IV 133
Datum : 01. Januar 1953
Publiziert : 16. Oktober 1953
Quelle : Bundesgericht
Status : 79 IV 133
Sachgebiet : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Gegenstand : Art. 49 Abs. 1 Satz 3 MFV, Art. 20 StGB.1. Begriff des «Aussteigens» (Erw. 1).2. Wann darf auf der...


Gesetzesregister
MFV: 49
StGB: 20 
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 20 - Besteht ernsthafter Anlass, an der Schuldfähigkeit des Täters zu zweifeln, so ordnet die Untersuchungsbehörde oder das Gericht die sachverständige Begutachtung durch einen Sachverständigen an.
104 
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 104 - Die Bestimmungen des Ersten Teils gelten mit den nachfolgenden Änderungen auch für die Übertretungen.
237 
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 237 - 1. Wer vorsätzlich den öffentlichen Verkehr, namentlich den Verkehr auf der Strasse, auf dem Wasser, in der Luft oder auf der Schiene hindert, stört oder gefährdet und dadurch wissentlich Leib und Leben von Menschen oder fremdes Eigentum in Gefahr bringt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
1    Wer vorsätzlich den öffentlichen Verkehr, namentlich den Verkehr auf der Strasse, auf dem Wasser, in der Luft oder auf der Schiene hindert, stört oder gefährdet und dadurch wissentlich Leib und Leben von Menschen oder fremdes Eigentum in Gefahr bringt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
2    Handelt der Täter fahrlässig, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe.
334
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 334 - Wird in Bundesvorschriften auf Bestimmungen verwiesen, die durch dieses Gesetz geändert oder aufgehoben werden, so sind diese Verweisungen auf die entsprechenden Bestimmungen dieses Gesetzes zu beziehen.
BGE Register
79-IV-133
Stichwortregister
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