S. 241 / Nr. 43 Staatsverträge (d)

BGE 79 I 241

43. Urteil vom 18. November 1953 i. S. Ciprian gegen Ciprian und Obergericht
des Kantons Aargau.


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Regeste:
Abkommen zwischen der Schweiz. Eidgenossenschaft und dem Deutschen Reich über
die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Urteile vom 2.
November 1929.
Dass ein Urteil betreffend die Zuteilung der elterlichen Gewalt bei Änderung
der tatsächlichen Verhältnisse abgeändert werden kann, steht der Vollstreckung
nicht entgegen.
Convention entre la Confédération suisse et le Reich allemand relative à la
reconnaissance et à l'exécution de décisions judiciaires, du 2 novembre 1929.
Un jugement réglant l'attribution de la puissance paternelle peut être
exécuté, bien qu'il soit susceptible d'être modifié en cas de changement dans
les circonstances de fait.
Convenzione 2 novembre 1929 tra la Confederazione svizzera e il Reich
germanico circa il riconoscimento e l'esecuzione delle decisioni giudiziarie.
Una sentenza di attribuzione della patria potestà può essere eseguita,
quantunque sia suscettibile di modifica in caso di cambia. mento delle
circostanze di fatto.

A. - Mit Beschluss vom 8. April 1952 hat das Amtsgericht Mannheim
(Vormundschaftsgericht) das Personensorgerecht (d. h. die elterliche Gewalt)
über das minderjährige Kind Jürgen der Parteien auf die Mutter des Kindes Frau
Ingeborg geb. Seidel übertragen. Im August 1953 gab die Mutter das Kind für
drei Wochen Ferienaufenthalt dem Beschwerdeführer. Dieser behielt das Kind
auch nach Ablauf dieser Zeit zurück. Auf Verlangen der Mutter wies das
Amtsgericht Kempten mit Beschluss vom 25. September 1953 den Beschwerdeführer
an, den Knaben der Mutter herauszugeben. Der Beschwerdeführer war jedoch
inzwischen in die Schweiz übergesiedelt, wo er als Angestellter der Firma
Brown Boveri in Baden tätig ist, und hatte das Kind mit sich genommen. Im
Oktober 1953 verlangte die Beschwerdegegnerin vom Obergericht des

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Kantons Aargau die Vollstreckbarerklärung des Beschlusses des Amtsgerichtes
Mannheim vom 8. April 1952. Sie legte den Beschluss sowie eine Erklärung des
Amtsgerichtes Mannheim vom 12. Oktober 1953 zu den Akten, wonach eine
Rechtskraftbescheinigung für den Beschluss nicht erteilt werden könne, da nach
§ 4 Abs. VI des deutschen Ehegesetzes vom 20. Februar 1946 das
Vormundschaftsgericht die Regelung jederzeit ändern könne, wenn es dies im
Interesse des Wohles des Kindes als angezeigt halte, dass aber eine Änderung
des Beschlusses bisher weder verlangt noch angeordnet worden sei.
Das Obergericht erklärte den Beschluss des Amtsgerichtes vom 8. April 1952 mit
Entscheid vom 19. Oktober 1953 für vollstreckbar, im wesentlichen mit der
Begründung: Die Voraussetzungen des Abkommens zwischen der Schweiz.
Eidgenossenschaft und dem Deutschen Reich über die gerichtliche Anerkennung
und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen und Schiedssprüchen vom 2.
November 1929 seien erfüllt. Aus der Erklärung des Amtsgerichtes vom 12.
Oktober 1953 gehe hervor, dass der Beschluss unangefochten geblieben, d. h.
formell in Rechtskraft erwachsen und seither nicht abgeändert worden sei. Die
Bescheinigung komme somit einer Rechtskraftbescheinigung im Sinne der Art. 3
und 7 des Abkommens gleich.
B. - Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 22. Oktober 1953 beantragt Josef
Ciprian, den Beschluss des Obergerichtes aufzuheben und die
Vollstreckbarerklärung zu verweigern. Der Entscheid verletze die Bestimmungen
des Abkommens mit dem Deutschen Reich. Danach bedürfe es für die
Vollstreckbarerklärung eines rechtskräftigen Entscheides. Ob diese
Voraussetzung gegeben sei, entscheide sich nach dein Recht des Staates des
urteilenden Gerichtes. Aus der Erklärung des Amtsgerichtes vom 12. Oktober
1953 ergebe sich aber, dass die getroffene Regelung der Personenfürsorge
jederzeit abgeändert und daher eine Rechtskraftbescheinigung nicht

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erteilt werden könne. Der Vollstreckbarerklärung stehe auch entgegen, dass der
Beschluss vom 8. April nur die Übertragung der Personenfürsorge als solche
ordne, vom Beschwerdeführer dagegen nicht ein bestimmtes Tun oder Unterlassen
fordere. Es bedürfte eines besondern Herausgabetitels. Der Beschwerdeführer
habe zudem beim zuständigen deutschen Richter die Abänderung des Entscheides
verlangt, dessen Vollstreckung das Obergericht anordne. Das Obergericht habe
aber diese Tatsache unberücksichtigt gelassen.
C. - Das Obergericht des Kantons Aargau und die Beschwerdegegnerin beantragen
die Abweisung der Beschwerde.
Die Beschwerdegegnerin legt einen Beschluss des Amtsgerichtes Mannheim vom 20.
Oktober 1953 zu den Akten, mit dem dieses das Begehren des Beschwerdeführers,
bis zur Entscheidung seines Antrages auf Änderung des Beschlusses vom 8. April
1952 das Kind dem Vater zu belassen, abgelehnt hat.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Art. 3 des Abkommens verlangt für die Anerkennung des in einem der
Vertragsstaaten in einer nicht vermögensrechtlichen Streitigkeit ergangenen
Urteils eine rechtskräftige Entscheidung, Art. 7 als Voraussetzung für die
Vollstreckbarerklärung ebenfalls einen Ausweis -der Rechtskraft der
Entscheidung, die, soweit sie sich nicht schon aus der Ausfertigung ergibt,
durch öffentliche Urkunde darzutun ist. Rechtskräftig in diesem Sinne ist eine
Entscheidung, die für die Parteien endgültig, mit einem ordentlichen
Rechtsmittel nicht mehr anfechtbar ist. Dafür genügt zwar nicht, dass die
Entscheidung - ohne rechtskräftig geworden zu sein - vollstreckbar wäre. Denn
Vollstreckbarkeit ist nicht Rechtskraft. Sie kann ohne Rechtskraft und diese
ohne Vollstreckbarkeit gegeben sein. Der formellen Rechtskraft sind Urteile im
materiellen Sinne, seien es Sach- und Prozessurteile, fähig,

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nicht dagegen bloss prozessleitende Entscheide, die für solange, als der
Prozess nicht rechtskräftig erledigt ist, der Abänderungsmöglichkeit
unterliegen. Nicht notwendig für die Vollstreckbarerklärung ist die materielle
Rechtskraft des Urteils, die Verbindlichkeit für spätere Prozesse der durch
die formelle Rechtskraft betroffenen Personen. Eine Rechtskraftbescheinigung
im Sinne von Art. 7 des Abkommens kann sich denn auch immer nur auf die
formelle Rechtskraft beziehen, d. h. der Feststellung dienen, dass die
Eröffnung oder Zustellung des Urteils erfolgt ist, ein Rechtsmittel dagegen
nicht eingelegt oder das eingelegt e zurückgenommen oder als unzulässig
verworfen wurde.
2.- Der Beschluss des Amtsgerichtes (Vormundschaftsgerichtes) von Mannheim vom
8. April 1952 ist kein bloss prozessleitender Beschluss, sondern eine
Entscheidung im materiellen Sinne. Gemäss der Erklärung des Amtsgerichtes vom
12. Oktober 1953 ist er in formelle Rechtskraft erwachsen, d. h. mangels
Anfechtung mit einem ordentlichen Rechtsmittel für die Parteien verbindlich
geworden. Dass er in der Folge wieder abgeändert werden kann, wenn das
Vormundschaftsgericht dies im Interesse des Kindes als angezeigt erachtet,
vermag hieran nichts zu ändern. Solange die für den Entscheid über das Gesuch
massgebenden Tatsachen sich nicht verändern, kommt eine Änderung des
Beschlusses nicht in Frage. Eine solche würde vielmehr voraussetzen, dass die
Tatsachen sich in einem neuen Lichte darstellen, so dass das Kindesinteresse
eine Änderung als geboten erscheinen liesse (PALANDT, Bürgerliches Gesetzbuch
8. Auflage zu § 74 des Ehegesetzes Note 6). Das Begehren, mit dem eine
Abänderung verlangt wird, stellt weder ein ordentliches Rechtsmittel noch
überhaupt ein Rechtsmittel im eigentlichen Sinne dar, sondern ein Gesuch um
neue Überprüfung auf Grund eines veränderten Sachverhaltes. Solange ein
derartiges Gesuch nicht anhängig gemacht oder solange über ein angebrachtes
Gesuch nicht

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entschieden ist (sei es auch nur im Sinne einer provisorischen Massnahme für
die Dauer des Verfahrens), bleibt das ergangene Urteil für die Parteien
verbindlich, d. h. formell rechtskräftig. Dass es sich hier so verhält, geht
hervor aus der Bescheinigung des Amtsgerichtes vom 12. Oktober 1953, wonach
der Beschluss vom 8. April 1952 bis zum Zeitpunkt der Ausstellung des
Zeugnisses nicht abgeändert worden ist und ein Verfahren um Änderung des
Beschlusses auch nicht angebracht wurde...
3.- Die Entscheidung vom 8. April 1952 ist Gestaltungsurteil, und zwar in dem
Sinne, dass sie einen vorläufigen Rechtszustand schafft, der weiterer
Abwicklung, nämlich der Übergabe des Kindes an den fürsorgeberechtigten
Ehegatten bedarf. Die Entscheidung ist daher unmittelbar der Vollstreckung
fähig. Das in dieser Beziehung massgebende deutsche Recht kennt übrigens, wenn
der verpflichtete Elternteil das Kind nicht herausgibt, nur die Erzwingung der
Herausgabe durch Gewalt oder Ordnungsstrafe, nicht dagegen die Herausgabeklage
(PALANDT a.a.O. Note 6 a.E.).
Demnach erkennt das Bundesgericht..
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 79 I 241
Datum : 01. Januar 1953
Publiziert : 18. November 1953
Quelle : Bundesgericht
Status : 79 I 241
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : Abkommen zwischen der Schweiz. Eidgenossenschaft und dem Deutschen Reich über die gegenseitige...


BGE Register
79-I-241
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