BGE 78 IV 38
12. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 8. Februar 1952 i. S.
Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen gegen S.
Regeste:
Art. 192
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 192 |
Betrieb vorsteht.
Art. 192 CP. L'interdiction d'attenter à la pudeur d'un apprenti vise toute
personne à qui il est subordonné dans l'entreprise.
Art. 192 CP. Il divieto di commettere degli atti di libidine con un
apprendista vale nei confronti di tutte le persone cui egli è subordinato
nell'impresa.
A. - Frau S. betrieb in Davos ein Photogeschäft. Anfangs 1948 kauften die
Eheleute S. am gleichen Orte auch das Photogeschäft M. Sie betrieben es
zunächst unter der Firma der Angestellten N. weiter. S. beaufsichtigte die
Geschäftsführung, besorgte die Buchhaltung und Korrespondenz, regelte die
Lohnfragen, verkehrte mit den Steuerbebörden und verfügte neben seiner Ehefrau
über das Postscheckkonto. Im Januar 1949 kündigte S. der Angestellten N. und
teilte ihr mit, dass er das Geschäft für sich übernommen habe. Später erklärte
er diese Übernahme als blosse Fiktion. Im April 1949 liess er das Geschäft im
Handelsregister löschen, weil es nicht mehr einen Umsatz von Fr. 25000.-
aufweise.
Mit Vertrag vom 7. Mai 1949 stellte Frau S. die am 7. Mai 1930 geborene M.
Sch. Im Photogeschäft M. als Lehrtochter an. Im November 1949 begab sich M. S.
auf Anordnung der Eheleute S. für zwei bis drei Wochen nach Schaffhausen, um
dort Unterricht in Optik zu nehmen. Sie wohnte während dieses Aufenthaltes bei
den Eheleuten S. S., der auch sonst ein lockeres Leben führte und mit
zahlreichen
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anderen Frauen Beziehungen unterhielt, stellte der Lehrtochter nach und
belästigte sie mit unsittlichen Reden und Zumutungen.
Als sie eines Abends in Abwesenheit der Frau S. spät heimkehrte, empfing S.,
der nur mit dem Pyjama bekleidet war, sie im Korridor, umarmte sie und drückte
sie heftig an sich, in der Absicht, sie zur geschlechtlichen Hingabe zu
veranlassen. M. Sch. wehrte sich und zog die Knie hoch, worauf S. von ihr
abliess.
B. - Wegen dieses Vorfalles erhob die Staatsanwaltschaft des Kantons
Schaffhausen gegen S. unter anderem Anklage wegen unvollendeten Versuchs der
Unzucht mit einer unmündigen Pflegebefohlenen von mehr als sechzehn Jahren im
Sinne von Art. 192 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 192 |
Das Kantonsgericht von Schaffhausen würdigte den Fall als unvollendeten
Versuch der Unzucht mit einer Pflegebefohlenen (Art. 192 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 192 |
verurteilte S. zu einer bedingt aufgeschobenen Gefängnisstrafe von 21 Tagen,
auf die es ihm achtzehn Tage Untersuchungshaft anrechnete.
Auf Berufung des Verurteilten hin sprach das Obergericht des Kantons
Schaffhausen S. am 2. November 1951 frei.
C. - Gegen dieses Urteil führt die Staatsanwaltschaft Nichtigkeitsbeschwerde
gemäss Art. 268 ff
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 192 |
Angeklagten an das Obergericht zurückzuweisen.
Aus den Erwägungen:
Nach Art. 192 ist strafbar unter anderem, wer mit seinem unmündigen, aber mehr
als sechzehn Jahre alten Lehrling den Beischlaf vollzieht oder eine andere
unzüchtige Handlung vornimmt. Das Verbot der Unzucht mit dem Lehrling trifft
nicht nur den Lehrmeister im zivilrechtlichen Sinne, in dessen Namen der
Lehrvertrag abgeschlossen ist, sondern jeden, der im Betriebe dem Lehrling
vorsteht. Art. 192 will verhüten, dass die lehrherrliche Gewalt ausgenützt
werde, um den Lehrling geschlechtlich zu
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missbrauchen. Wer diese Gewalt neben dem eigentlichen Lehrmeister mitausübt,
hat sich geschlechtlicher Beziehungen zu dem ihm unterstellten und von ihm
abhängigen Schutzbefohlenen zu enthalten. Andernfalls bestünde der Schutz in
Betrieben einer juristischen Person überhaupt nicht, ebensowenig in grossen
Unternehmen, in denen der Geschäftsinhaber kaum jemals persönlich mit dem
Lehrling in Berührung kommt, dieser aber umsomehr die Weisungen der
Werkmeister und Abteilungsvorsteher entgegenzunehmen hat. In solchen
Verhältnissen ist aber der Lehrling den Gefahren, denen Art. 192 begegnen
will, in gleicher Weise ausgesetzt wie in der Werkstatt oder im Büro eines
Handwerkers, kleinen Kaufmanns und dgl. Diese Auslegung widerspricht dem in
BGE 71 IV 192 veröffentlichten Urteil nicht. Der Beschwerdegegner irrt, wenn
er geltend macht, dort sei das Bundesgericht für einschränkende Auslegung der
Qualifikationsgründe eingetreten. Strafnormen sind weder allgemein
einschränkend noch allgemein ausdehnend, sondern stets nach ihrem wahren Sinne
auszulegen (BGE 71 IV 148, 72 IV 103).
Hat der Begriff des Lehrlings in Art. 192 den erwähnten Sinn, so war M. Sch.
Lehrling des Beschwerdegegners, obschon zivilrechtlich nicht dieser, sondern
seine Ehefrau die Pflichten aus dem Lehrvertrag zu erfüllen hatte, der von ihr
unterzeichnet worden war. Der Beschwerdegegner übte neben seiner Ehefrau im
Geschäft die lehrherrliche Gewalt aus. Nach den vom Obergericht übernommenen
und daher für den Kassationshof verbindlichen Feststellungen des
Kantonsgerichts hatte der Beschwerdegegner schon die Geschäftsführung der
Angestellten N. überwacht. Er besorgte die Buchhaltung und Korrespondenz,
verkehrte mit den Steuer- und den Handelsregisterbehörden, verfügte über das
Postcheckkonto, besprach mit seiner Frau die Anstellung von Lehrtöchtern und
regelt e die Lohnfragen. So musste M. Sch., als sie im August 1949 eine
Lohnerhöhung verlangte, mit dem Beschwerdegegner in Schaffhausen darüber
verhandeln. Der Beschwerdegegner
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war in massgebender Weise an der Geschäftsführung und damit auch an der
Ausübung der lehrherrlichen Gewalt beteiligt. Trifft Art. 192 schon aus diesem
Grunde zu, so kann dahingestellt bleiben, ob M. Sch. «Lehrling» des
Beschwerdegegners auch schon deshalb war, weil sie während des Schaffhauser
Aufenthaltes vom November 1949 mit ihm in der Hausgemeinschaft lebte, deren
Haupt er war (Art. 331
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 331 - 1 Haben Personen, die in gemeinsamem Haushalte leben, nach Vorschrift des Gesetzes oder nach Vereinbarung oder Herkommen ein Familienhaupt, so steht diesem die Hausgewalt zu. |
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1 | Haben Personen, die in gemeinsamem Haushalte leben, nach Vorschrift des Gesetzes oder nach Vereinbarung oder Herkommen ein Familienhaupt, so steht diesem die Hausgewalt zu. |
2 | Die Hausgewalt erstreckt sich auf alle Personen, die als Verwandte467 und Verschwägerte oder auf Grund eines Vertragsverhältnisses als Arbeitnehmer oder in ähnlicher Stellung in dem gemeinsamen Haushalte leben.468 |
Auch subjektiv steht der Annahme eines Lehrverhältnisses zwischen M. Sch. und
dem Beschwerdegegner nichts im Wege. Irrtum über den Sachverhalt (Art. 19
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 19 - 1 War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht strafbar. |
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1 | War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht strafbar. |
2 | War der Täter zur Zeit der Tat nur teilweise fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so mildert das Gericht die Strafe. |
3 | Es können indessen Massnahmen nach den Artikeln 59-61, 63, 64, 67, 67b und 67e getroffen werden.15 |
4 | Konnte der Täter die Schuldunfähigkeit oder die Verminderung der Schuldfähigkeit vermeiden und dabei die in diesem Zustand begangene Tat voraussehen, so sind die Absätze 1-3 nicht anwendbar. |
StGB), wie er ihn behauptet, bestand nicht, denn es liegt nichts dafür vor,
dass der Beschwerdegegner die Funktionen im Geschäft, die ihm lehrherrliche
Gewalt verschafften, unbewusst oder mit getrübtem Bewusstsein ausgeübt habe.
Dass sie rechtlich genügten, M. Sch. Im Sinne des Art. 192
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 192 |
«Lehrling» zu machen, brauchte er nicht zu wissen.