S. 33 / Nr. 11 Strafgesetzbuch (d)

BGE 78 IV 33

11. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 28. April 1952 i. S. Graf
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich.

Regeste:
Art. 188
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 188 - Wer mit einer minderjährigen Person von mindestens 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
StGB
a) Begriff der unzüchtigen Handlung. Verhältnis zu Art. 205
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 188 - Wer mit einer minderjährigen Person von mindestens 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
StGB (Erw. 1).
b) Art. 188 trifft auch zu, wenn der Täter das Opfer bloss durch Verblüffung
und schrecken, ohne ausserdem Gewalt anzuwenden, zum Widerstand vollständig
unfähig macht (Erw. 2).
Art. 188 CP
a) Notion de l'attentat à la pudeur. Relation avec l'art. 205 CP (consid. 1).

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b) L'art. 188 s'applique aussi lorsque l'auteur, sans user de violence, met la
victime, par la surprise et la frayeur, complètement hors d'état de résister
(consid. 2).
Art. 188 CP.
a) Nozione dell'atto di libidine. Relezione con l'art. 205 CP (consid. 1).
b) L'art. 188 è applicabile anche quando l'autore, senza usare violenza,
riduce la vittima, con la sorpresa e la paura, in uno stato d'impossibilità a
resistere (consid. 2).

A. - Am 21. August 1951 holte der Radfahrer Friedrich Graf kurz vor 5 Uhr bei
Dunkelheit auf der Eichstrasse in Glattbrugg die Radfahrerin Frau T. ein,
nachdem er, um sich ihr zu nähern, seinen ordentlichen Weg durch die
Schaffhauserstrasse verlassen hatte. Frau T. vermutete im Radfahrer einen
Nebenarbeiter und grüsste ihn. Statt den Gruss zu erwidern, griff Graf der
ahnungslosen Frau mit der rechten Hand unter der Pelerine und über dem Rock in
die Gegend des Geschlechtsteils. Gleichzeitig steuerte er sein Fahrrad derart
nach rechts, dass Frau T. gegen den Strassenrand abgedrängt und schliesslich
gezwungen wurde, abzusteigen. In diesem Augenblick, als die erschreckte und
verblüffte Frau ihr Fahrrad mit beiden Händen an der Lenkstange hielt, griff
Graf ihr ein zweites Mal in die Gegend des Geschlechtsteils, diesmal unter den
Rock, aber über den Hosen. Frau T. war unfähig, Widerstand zu leisten. Sie
rief eine Drittperson um Hilfe, worauf Graf sich davonmachte.
B. - Das Bezirksgericht Bülach verurteilte Graf wegen Nötigung zu einer
unzüchtigen Handlung (Art. 188
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 188 - Wer mit einer minderjährigen Person von mindestens 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
StGB) zu einem Monat Gefängnis, unter Gewährung
des bedingten Strafvollzuges.
Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte am 1. Februar 1952 dieses Urteil
im Schuld- und im Strafpunkte. Es führte aus, die Tat sei entgegen der
Auffassung des Angeklagten nicht bloss eine unzüchtige Belästigung im Sinne
des Art. 205
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 188 - Wer mit einer minderjährigen Person von mindestens 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
StGB. Graf habe durch sein überfallartiges Verhalten Frau T.
dermassen erschreckt und überrascht das sie sich nicht zur Wehr setzen konnte.

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Wenn er auch beim ersten Griff den Schrecken und die Bestürzung der Frau T.
noch nicht realisiert haben sollte, habe er nachher die durch Überraschung
hervorgerufene Wehrlosigkeit der Angegriffenen unbedingt wahrnehmen müssen,
die er dann zum zweiten Griff ausgenützt habe.
C. - Graf führt Nichtigkeitsbeschwerde nach Art. 268 ff
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 188 - Wer mit einer minderjährigen Person von mindestens 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
. BStP mit den
Anträgen, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zur
Freisprechung, eventuell zur milderen Beurteilung, an die Vorinstanz
zurückzuweisen.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.- Art. 187
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StGB Art. 187 - 1. Wer mit einem Kind unter 16 Jahren eine sexuelle Handlung vornimmt,
1    Wer mit einem Kind unter 16 Jahren eine sexuelle Handlung vornimmt,
2    Die Handlung ist nicht strafbar, wenn der Altersunterschied zwischen den Beteiligten nicht mehr als drei Jahre beträgt.
3    Hat der Täter zur Zeit der Tat oder der ersten Tathandlung das 20. Altersjahr noch nicht zurückgelegt und liegen besondere Umstände vor, so kann die zuständige Behörde von der Strafverfolgung, der Überweisung an das Gericht oder der Bestrafung absehen.266
4    Handelte der Täter in der irrigen Vorstellung, das Kind sei mindestens 16 Jahre alt, hätte er jedoch bei pflichtgemässer Vorsicht den Irrtum vermeiden können, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe.
5    ...267
6    ...268
StGB richtet sich gegen die Erzwingung des ausserehelichen
Beischlafs (Notzucht), und Art. 188
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StGB Art. 188 - Wer mit einer minderjährigen Person von mindestens 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
StGB droht Zuchthaus bis zu fünf Jahren
oder Gefängnis dem an, der eine Person mit Gewalt oder durch schwere Drohung,
oder nachdem er sie auf andere Weise zum Widerstand unfähig gemacht hat, zur
Duldung oder zur Vornahme einer andern unzüchtigen Handlung zwingt.
Der Begriff der «andern unzüchtigen Handlung» wird auch in Art. 189 Abs. 2,
190 Abs. 2, 191 Ziff. 2, 192 Ziff. 2 und 193 Abs. 2 dem Beischlaf
gegenübergestellt. Das Bundesgericht hat ihn stets dahin ausgelegt, dass eine
Handlung dann unzüchtig sei, wenn sie den geschlechtlichen Anstand verletzt,
indem sie in nicht leicht zu nehmender Weise gegen das Sittlichkeitsgefühl
verstösst (RStrS 1944 Nr. 244; BGE 70 IV 209, 71 IV 95, 76 IV 276). Diese
Voraussetzung ist hier erfüllt. Es verstösst in nicht leicht zu nehmender
Weise gegen das Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlichen Dingen, einer Frau
sowohl über als namentlich auch unter dem Rock in die Gegend des
Geschlechtsteils zu langen, um sie geschlechtlich zu reizen und zur Hingabe zu
veranlassen. Der Beschwerdeführer lässt denn auch selber ausführen, es bestehe
kein Zweifel, dass seine Handlung unzüchtig war. Er irrt, wenn er glaubt, sie
falle trotzdem nicht unter Art. 188
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 188 - Wer mit einer minderjährigen Person von mindestens 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
, sondern unter die mildere Bestimmung des
Art. 205
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StGB Art. 188 - Wer mit einer minderjährigen Person von mindestens 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
StGB, weil

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Art. 188 wie Art. 187 und Art. 189 ff. nur auf schwere Fälle anwendbar seien.
Nicht im Grad der Unzüchtigkeit liegt die Schwere der in den Art. 187 ff.
umschriebenen Handlungen, sondern darin, dass sie sich gegen die
geschlechtliche Freiheit und Ehre, gegen das Selbstbestimmungsrecht des Opfers
in geschlechtlichen Dingen, richten. Insbesondere ist auch Art. 188 nicht
deshalb unter diese Bestimmungen aufgenommen worden, weil er ein besonderes
Mass von Unzüchtigkeit der Handlung voraussetzte, sondern weil der Täter das
Opfer zur Duldung oder Vornahme der Handlung zwingt. Der Strafrahmen reicht
bis auf drei Tage Gefängnis hinunter, erlaubt also durchaus, auch
geringfügigen Fällen Rechnung zu tragen. Dass anderseits Art. 195 schärfere
Strafe androht, wenn erschwerende Umstände vorliegen, lässt ebenfalls den
Schluss nicht zu, dass die Art. 187 ff. nur für Fälle besonders schwerer
Unzüchtigkeit gälten. Die hohe Strafdrohung des Art. 195 erklärt sich aus den
in dieser Bestimmung umschriebenen erschwerenden Merkmalen: Tod des Opfers,
schwere Schädigung der Gesundheit des Opfers, Grausamkeit des Täters. Dass
Art. 205 nicht lediglich für Unzüchtigkeiten geringerer Schwere gelten will,
dem Art. 188 die Ahndung gröberer Verletzung des geschlechtlichen Anstandes
überlassend, ergibt sich aus der Umschreibung des Tatbestandes. Unter Art. 205
fallen in unzüchtiger Absicht vorgenommene Belästigungen nur dann, wenn sie
sich nicht als Verbrechen oder Vergehen nach Art. 187 ff. auszeichnen, z. B.
unzüchtige Berührungen, die nicht unter Anwendung von Gewalt oder schwerer
Drohung, oder indem der Täter das Opfer auf andere Weise zum Widerstand
unfähig macht, erzwungen werden, oder Handlungen, die objektiv nicht unzüchtig
sind, aber von Täter in Verfolgung einer unzüchtigen Absicht vorgenommen
werden.
2.- Im Gegensatz zum Bezirksgericht, das eine Gewaltanwendung im Sinne des
Art. 188 darin erblickte, dass der Beschwerdeführer durch die Art, wie er sein
Fahrrad

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lenkte, Frau T. an den Strassenrand zu fahren und abzusteigen nötigte, lässt
das Obergericht diese Phase des Vorfalles dahingestellt bleiben und erklärt,
der Beschwerdeführer habe sich nach Ausführung des ersten Griffes über die
durch die Überraschung hervorgerufene Wehrlosigkeit der Frau T. klar sein
müssen und habe deren Verblüffung zum zweiten Griff ausgenützt. Die Vorinstanz
wirft somit dem Beschwerdeführer nicht vor, er habe Gewalt angewendet, sondern
nur, er habe die unzüchtige Handlung erzwungen, nachdem er Frau T. «auf andere
Weise zum Widerstand unfähig gemacht» hatte.
Diese Würdigung hält stand. Dass Frau T., vom Verhalten des Beschwerdeführers
überrascht, zum Widerstand unfähig war, hat schon das Bezirksgericht
festgestellt. Das Obergericht hat auf die tatsächlichen Ergebnisse des
erstinstanzlichen Urteils verwiesen und beigefügt, die Geschädigte sei durch
das unerwartet e Verhalten des Beschwerdeführers so erschrocken und überrascht
gewesen, dass sie sich nicht habe zur Wehr setzen können. Diese tatsächlichen
Feststellungen binden den Kassationshof. Die Behauptung des Beschwerdeführers,
Frau T. habe sich nach Ablauf der normalen Schrecksekunde sehr wohl zur Wehr
setzen und um Hilfe rufen können, ist nicht zu hören, wenn er damit sagen
will, sie hätte sich seiner Handlung erwehren können, weil diese sich erst
nach Ablauf der «Schrecksekunde» abgespielt habe (Art. 277 bis Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 188 - Wer mit einer minderjährigen Person von mindestens 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
, 273
Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 188 - Wer mit einer minderjährigen Person von mindestens 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
lit. b BStP). Der Kassationshof hat davon auszugehen, dass Frau T.
infolge Verblüffung und Schrecken vollständig unfähig war, der unzüchtigen
Handlung rechtzeitig Widerstand entgegenzusetzen. Das genügt zum objektiven
Tatbestand des Art. 188. Zu Unrecht schliesst der Beschwerdeführer aus BGE 70
IV 207
, die Ausnützung von Verblüffung und Schrecken genüge nicht, dem Täter
müsse ausserdem Gewaltanwendung vorgeworfen werden können. In dem dort
beurteilten Falle hatte der Täter den Rest von Widerstand, zu dem die
Angegriffene trotz Verblüffung und Schrecken

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noch fähig war, mit Gewalt überwunden; im vor liegenden Falle war das nicht
nötig, weil schon die Ausnützung der Überraschung genügte, die unzüchtige
Handlung zu erzwingen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 78 IV 33
Datum : 01. Januar 1952
Publiziert : 28. April 1952
Quelle : Bundesgericht
Status : 78 IV 33
Sachgebiet : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Gegenstand : Art. 188 StGBa) Begriff der unzüchtigen Handlung. Verhältnis zu Art. 205 StGB (Erw. 1).b) Art. 188...


Gesetzesregister
BStP: 268  273  277bis
StGB: 187 
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 187 - 1. Wer mit einem Kind unter 16 Jahren eine sexuelle Handlung vornimmt,
1    Wer mit einem Kind unter 16 Jahren eine sexuelle Handlung vornimmt,
2    Die Handlung ist nicht strafbar, wenn der Altersunterschied zwischen den Beteiligten nicht mehr als drei Jahre beträgt.
3    Hat der Täter zur Zeit der Tat oder der ersten Tathandlung das 20. Altersjahr noch nicht zurückgelegt und liegen besondere Umstände vor, so kann die zuständige Behörde von der Strafverfolgung, der Überweisung an das Gericht oder der Bestrafung absehen.266
4    Handelte der Täter in der irrigen Vorstellung, das Kind sei mindestens 16 Jahre alt, hätte er jedoch bei pflichtgemässer Vorsicht den Irrtum vermeiden können, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe.
5    ...267
6    ...268
188 
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 188 - Wer mit einer minderjährigen Person von mindestens 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
205
BGE Register
70-IV-205 • 70-IV-209 • 71-IV-94 • 76-IV-275 • 78-IV-33
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
opfer • geschlecht • weiler • kassationshof • verhalten • fahrrad • vorinstanz • duldung • wille • strafgesetzbuch • widerstand • sachverhalt • strafanstalt • monat • mass • bedingter strafvollzug • bundesgericht • uhr • verurteilter • maler • zweifel • ehre • tod • attentat • tag
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RStrS
1944 Nr.244