S. 1 / Nr. 1 Strafgesetzbuch (d)

BGE 78 IV 1

1. Urteil des Kassationshofes vom 25. Januar 1952 i. S. Staatsanwaltschaft des
Kantons Aargau gegen Müri.


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Regeste:
Art. 17 Ziff. 3
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 17 - Wer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um ein eigenes oder das Rechtsgut einer anderen Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu retten, handelt rechtmässig, wenn er dadurch höherwertige Interessen wahrt.
StGB. Ob und inwieweit die Strafe noch zu voll. strecken sei,
hat der Richter erst zu entscheiden, wenn die zuständige Behörde die
Verwahrung, Behandlung oder Versorgung endgültig aufgehoben hat.
Art. 17 ch. 3 CP. Le juge ne décide si et dans quelle mesure la peine doit
encore être exécutée qu'après que l'autorité compétente a mis fin à
l'internement, au traitement ou à l'hospitalisation.
Art. 17 cifra 3 CP. Il giudice decide se e in quale misura la pena sia ancora
da eseguire soltanto dopo che l'autorità competente ha ordinato la cessazione
dell'internamento, della cura o del ricovero.

A. - Am 26. September 1950 verurteilte das Kriminalgericht des Kantons Aargau
den siebzigjährigen Samuel Müri wegen wiederholter Unzucht mit einem Kinde zu
zwei Jahren Gefängnis, rechnete ihm 188 Tage Untersuchungshaft auf die Strafe
an und wies den vermindert zurechnungsfähigen und gemeingefährlichen
Verurteilten gemäss Art. 14
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 14 - Wer handelt, wie es das Gesetz gebietet oder erlaubt, verhält sich rechtmässig, auch wenn die Tat nach diesem oder einem andern Gesetz mit Strafe bedroht ist.
StGB zwecks Verwahrung in eine Pflegeanstalt ein.
Die Einweisung wurde am 28. September 1950 vollzogen.
Ende Mai 1951 ersuchte Müri um Entlassung. Die Justizdirektion des Kantons
Aargau als Vollzugsbehörde war bereit, sie bedingt zu bewilligen, wollte die
Verfügung aber erst treffen, wenn gemäss Art. 17 Ziff. 3
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 17 - Wer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um ein eigenes oder das Rechtsgut einer anderen Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu retten, handelt rechtmässig, wenn er dadurch höherwertige Interessen wahrt.
StGB entschieden sei,
ob und inwieweit die Strafe noch vollstreckt werde. Sie wandte sich zu diesem
Zwecke an das Kriminalgericht.
Dieses erliess dem Verurteilten am 27. September 1951 die Strafe.

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B. - Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau führt gegen diesen Entscheid
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, er sei aufzuheben und das
Kriminalgericht anzuweisen, über die Vollstreckung erst zu entscheiden, wenn
die Justizdirektion die Verwahrung endgültig aufgehoben haben werde.
C. - Das Kriminalgericht beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. Es legt
eine Verfügung der Justizdirektion vom 16. November 1951 bei, durch die Müri
unter Ansetzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt aus der Pflegeanstalt
entlassen worden ist.
Müri hat die Beschwerde innert der ihm gesetzten Frist, die am 18. Dezember
1951 abgelaufen ist, nicht beantwortet. Auf sein Schreiben vom 4. Januar 1952,
das verspätet ist, kann nicht eingetreten werden.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.- Gemäss Art. 17 Ziff. 2 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 17 - Wer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um ein eigenes oder das Rechtsgut einer anderen Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu retten, handelt rechtmässig, wenn er dadurch höherwertige Interessen wahrt.
StGB hebt die zuständige Behörde die nach
Art. 14 oder 15 angeordnete Verwahrung, Behandlung oder Versorgung auf, sobald
ihr Grund weggefallen ist. Durch Bundesgesetz vom 5. Oktober 1950, in Kraft
seit 5. Januar 1951, ist diese Bestimmung in Absatz 2 dahin ergänzt worden,
dass die zuständige Behörde, wenn der Grund der Massnahme nicht vollständig
weggefallen ist, jedoch eine probeweise Entlassung gerechtfertigt erscheint,
den Eingewiesenen entlassen und ihn unter Schutzaufsicht stellen oder ihm
Weisungen über sein Verhalten erteilen kann. Handelt der Entlassene dann
ungeachtet förmlicher Mahnung einer ihm erteilten Weisung zuwider oder
entzieht er sich beharrlich der Schutzaufsicht, so kann die Behörde ihn in die
Heil- oder Pflegeanstalt zurückversetzen. Die Schutzaufsicht und die Weisungen
werden aufgehoben, sobald sie nicht mehr nötig sind. Der frühere Absatz 2 von
Art. 17 Ziff. 2 ist durch die Revision zur Ziffer 3 geworden. Sie bestimmt,
dass er Richter entscheide, ob und inwieweit die Strafe

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gegen den verurteilten vermindert Zurechnungsfähigen noch zu vollstrecken sei.
2.- Bei unbedingter Entlassung aus der Verwahrung, Behandlung oder Versorgung
ist klar, dass der Richter den Entscheid über die Vollstreckung der Strafe
erst nach der Entlassung treffen kann; denn erst in diesem Zeitpunkt weiss er,
ob die Massnahme Erfolg gehabt hat, wie hart sie für den Verurteilten gewesen
ist und ob der Erfolg allenfalls durch Vollzug der Strafe wieder in Frage
gestellt würde. Folgerichtig stand schon in der alten Fassung der Absatz über
den Vollzug der Strafe am Schlusse des Art. 17, im Anschluss an die Bestimmung
über die Aufhebung der Massnahme.
Die Neuregelung, wie sie durch die Revision getroffen worden ist, beschlägt
ausschliesslich die Massnahme. Daran, dass die richterliche Entscheidung über
die Vollstreckung der Strafe nicht vor der endgültigen Entlassung Platz zu
greifen habe, wollte nichts geändert werden. Es sollte «die Möglichkeit
geschaffen werden, die Verwahrung oder Versorgung versuchsweise und unter
Auferlegung gewisser Bedingungen zu mildern» (Botschaft des Bundesrates vom
20. Juni 1949, BBl 1949 i 1272), es sollte «ein Übergangsstadium vor der
gänzlichen Aufhebung der Massnahme» (StenBull. 1950 NR S. 180), eine
Zwischenstufe für Fälle eingeschaltet werden, «wo eine weitere
Aufrechterhaltung der Internierung an sich nicht mehr nötig ist, anderseits
aber wenn der Unsicherheit der Prognose eine endgültige Entlassung auch nicht
das Richtige wäre» (StenBull. StR 1949 56 A). Davon, dass durch die
Einschaltung dieses Zwischenstadiums auch die Entscheidung über die
Strafvollstreckung berührt werde, ist nirgends die Rede. Der Bundesrat sagt in
seiner Botschaft a.a.O. nach der Besprechung des neuen Abs. 2 von Ziff. 2
gegenteils ausdrücklich: «Hinsichtlich der vermindert Zurechnungsfähigen
bleibt die Vorschrift bestehen, dass der Richter schliesslich zu entscheiden
hat, ob und wieweit die Strafe noch zu vollstrecken sei (Ziff. 3 der neuen
Fassung).»

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3.- Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Sache selbst. Der Richter
weiss über die Punkte, die für den Entscheid über den Vollzug der Strafe den
Ausschlag geben, erst Bescheid, wenn der Eingewiesene endgültig entlassen ist.
Wenn der Eingewiesene bedingt entlassen wird, so geschieht das gerade deshalb,
weil der Erfolg der Massnahme noch unsicher ist und diese im Falle der
Nichtbewährung des Entlassenen fortgesetzt werden muss. Kann nicht einmal die
für den Vollzug der Massnahme zuständige Behörde eine sichere Prognose
stellen, so hat auch der Richter keine sichere Grundlage, um schon nach
bedingter Entlassung des Eingewiesenen entscheiden zu können, ob und inwieweit
sich der Vollzug der Strafe noch rechtfertige.
Die Auffassung des Kriminalgerichts, dass es psychologisch verfehlt sei, den
Verurteilten bedingt zu entlassen, um ihn allenfalls nachher der Strafe wegen
wieder zu verhaften, schlägt nicht durch. Wenn der Entlassene trotz der
Bewährung gegebenenfalls die Strafe noch verbüssen muss, ist das die Folge des
Gesetzes, das nicht zum vornherein die Massnahme als Ersatz für die Strafe
gelten lassen will, sondern es dem Richter anheimstellt, unter Umständen nach
Beendigung der Massnahme die Strafe doch noch ganz oder teilweise vollziehen
zu lassen. Der Verurteilte weiss von Anfang an, dass die Massnahme die Strafe
nicht notwendigerweise ersetzt. Bei der bedingten Aufhebung der Massnahme muss
er sich daher im klaren sein, dass die Bewährung mit Sicherheit nur das
endgültige Ende der Massnahme, nicht auch notwendigerweise Erlass der Strafe
bedeutet. Da der Gesetzgeber der Meinung gewesen ist, es gehe an, den
Verurteilten zu verwahren, zu behandeln oder zu versorgen und ihn nachher
trotz Erfolges der Massnahme unter Umständen noch die Strafe verbüssen zu
lassen, kann das Gesetz es auch nicht als grundsätzlich verfehlt ansehen, wenn
die Strafe trotz Bewährung nach bedingter Entlassung aus der Massnahme noch
vollzogen wird. Psychologisch falsch, ja

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widersinnig, wäre es im Gegenteil, auf den Vollzug der Strafe in einem
Zeitpunkt endgültig zu verzichten, wo noch nicht feststeht, ob die bedingte
Entlassung nicht zu Enttäuschungen führen wird. Selbstverständlich wird der
Richter, wenn die Entlassung endgültig geworden ist, die Strafe nur vollziehen
lassen, wenn sie den Erfolg der Massnahme nicht wieder ernstlich gefährdet,
und er wird auch abwägen, ob und inwieweit der Vollzug sich mit der Billigkeit
noch verträgt. wenn seit dem Urteil verhältnismässig lange Zeit verstrichen
ist und der Verurteilte sich gut gehalten hat. Besteht unter diesen
Gesichtspunkten kein Anlass, ganz oder teilweise vom Vollzug der Strafe
abzusehen, und kann auch nicht gesagt werden, der Verurteilte sei schon durch
die Massnahme hart genug getroffen worden, so hat er die nach dem Masse seiner
Zurechnungsfähigkeit verdiente Strafe zu verbüssen.
Das Kriminalgericht meint ferner, es wäre unbefriedigend, wenn bei einem
allfälligen Widerruf der bedingten Entlassung, der einer Vollstreckung der
Strafe rufen würde, Massnahme und Strafvollzug konkurrierten. Auch diese
Erwägung hält nicht stand. Wenn sich der Verurteilte nach bedingter Entlassung
nicht bewährt, hat das zunächst keineswegs zur Folge, dass sofort der Vollzug
der Strafe angeordnet werden müsste, sondern der Verurteilte wird, wie Art. 17
Ziff. 2 Abs. 2 ausdrücklich bestimmt, in die Heil- oder Pflegeanstalt
zurückversetzt; die Massnahme nimmt ihren Fortgang, und die Lage ist gleich,
wie wenn der Eingewiesene nicht bedingt entlassen worden wäre. Die Frage des
Strafvollzuges kann sich erst später stellen, nämlich nur und erst dann, wenn
die zuständige Behörde die Massnahme gemäss Art. 17 Ziff. 2 Abs. 1
bedingungslos aufhebt. Mit der Massnahme konkurriert nur die Strafe für das
während der bedingten Entlassung allenfalls begangene neue Delikt, und zwar
nur dann, wenn nicht für dieses wiederum Verwahrung, Behandlung oder
Versorgung angeordnet wird. Diese

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Konkurrenz ist aber keine Besonderheit der durch die bedingte Entlassung
geschaffenen Lage; sie kann auch eintreten, wenn der Verurteilte in der Heil-
oder Pflegeanstalt oder nach Entweichung aus derselben eine neue strafbare
Handlung begeht. Eine sachgemässe Lösung wird sich finden lassen, wenn man
nicht überhaupt auch hier noch gelten lassen will, dass die Massnahme dem
Strafvollzug vorgeht und über diesen erst nach der endgültigen Entlassung zu
entscheiden ist.
4.- Der Entscheid des Kriminalgerichts, der schon bei der bedingten Entlassung
ergangen ist, ja bevor diese überhaupt verfügt war, muss deshalb aufgehoben
werden. Ob es beim Alter des Verurteilten je noch zum Strafvollzug kommen
wird, hat den Richter für heute nicht zu beschäftigen. Ebensowenig hat er zu
prüfen, ob es richtig war, dass die Justizdirektion dem Verurteilten eine
Probezeit angesetzt hat, obwohl Art. 17 Ziff. 2
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 17 - Wer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um ein eigenes oder das Rechtsgut einer anderen Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu retten, handelt rechtmässig, wenn er dadurch höherwertige Interessen wahrt.
StGB keine solche vorsieht.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Kriminalgerichts
des Kantons Aargau vom 27. September 1951 aufgehoben und die Vorinstanz
angewiesen, über die Vollstreckung der Strafe erst anlässlich der endgültigen
Aufhebung der Verwahrungsmassnahme zu entscheiden.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 78 IV 1
Datum : 01. Januar 1952
Publiziert : 25. Januar 1952
Quelle : Bundesgericht
Status : 78 IV 1
Sachgebiet : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Gegenstand : Art. 17 Ziff. 3 StGB. Ob und inwieweit die Strafe noch zu voll. strecken sei, hat der Richter erst...


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StGB: 14 
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 14 - Wer handelt, wie es das Gesetz gebietet oder erlaubt, verhält sich rechtmässig, auch wenn die Tat nach diesem oder einem andern Gesetz mit Strafe bedroht ist.
17
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
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78-IV-1
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