S. 155 / Nr. 29 Obligationenrecht (d)

BGE 78 II 155

29. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 25. März 1952 i. S.
Associaziun de producents de latgiras Mustér gegen Bigliel.

Regeste:
Art. 916
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 916 - Alle mit der Verwaltung, Geschäftsführung, Revision oder Liquidation befassten Personen sind der Genossenschaft für den Schaden verantwortlich, den sie ihr durch absichtliche oder fahrlässige Verletzung der ihnen obliegenden Pflichten verursachen.
OR.
Grundsätzliches zur Entlastung der Verwaltung im Genossenschaftsrecht;
Bedeutung der Rechnungsabnahme ohne ausdrückliche Entlastungserklärung
Tragweite eines Entlastungsbeschlusses.
Art. 916 Co.
Principes relatifs à la décharge de l'administration dans les sociétés
coopératives portée de l'acceptation des comptes, sans déclaration formelle de
décharge étendue d'une décision de décharge.
Art. 916 CO.
Principi sul discarico all'amministrazione nelle società cooperative;
significato dell'approvazione dei conti senza dichiarazione formale di scarico
portata d'una decisione di discarico.

Die Entlastung der Verwaltung richtet sich im Genossenschaftsrecht, abgesehen
von ihm eigenen Besonderheiten, nach den nämlichen Grundsätzen wie im
Aktienrecht. Vorliegend ist die Décharge nicht ausdrücklich erteilt worden.
Sie sei aber, findet das Kantonsgericht mit Hinweis auf Literatur und
Rechtsprechung, bei vorbehaltloser Genehmigung der Jahresrechnung im Zweifel
zu vermuten. Indessen wurde mit dem zitierten BGE 34 II 502 eine solche
allgemeingültige Vermutung nicht aufgestellt. Vielmehr war dort die
Entlastungerklärt (vgl. a.a.O. S. 500) und streitig gewesen, ob damit eine
reglementswidrige Kreditbewilligung genehmigt worden sei. Dagegen sagt BGE 14
S. 704, dass «in der Regel» die vorbehaltlose Genehmigung von Geschäftsbericht
und Rechnung durch die Generalversammlung die Genehmigung der Geschäftsführung
der Verwaltungsorgane einschliesse, jedoch mit der wesentlichen Einschränkung:
«insoweit als dieselbe

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aus den der Generalversammlung gemachten Vorlagen ersichtlich ist».
Rechnungsabnahme und Entlastung sind, ungeachtet ihres inneren Zusammenhanges,
zwei verschiedene Dinge. Die Genehmigung von Jahresrechnung und Bilanz hindert
nicht eine Verweigerung der Entlastung, den Aufschub des Beschlusses darüber
oder den Vorbehalt von Schadenersatzausprüchen. Der Entlastungsbeschluss ist
(einseitiges) Rechtsgeschäft, als solches der Beschränkung, der Bedingung und
allgemein der Auslegung fähig. Eine Frage der Auslegung ist es auch, ob ein
Beschluss über Rechnungsabnahme zugleich die Entlastung mit sich bringe (vgl.
z. B. PARSIUS-CRÜGER, Genossenschaftsgesetz, 12. Aufl., zu § 48 Anm. 5). Dabei
ist zu bedenken, dass der Rechnungsgenehmigung in der Genossenschaft eine
weniger gewichtige Bedeutung zukommen muss als in der kapitalistisch
aufgezogenen Aktiengesellschaft das schon mit Rücksicht auf die oft geringe
geschäftliche Erfahrung der Mitglieder namentlich kleiner Genossenschaften,
die nur auf Selbsthilfe ausgehen und keinen Gewinn suchen.
Ist ein Entlastungsbeschluss - ausdrücklich oder in Form der
Rechnungsgenehmigung - gefasst, so unterliegt er im Genossenschafts- wie im
Aktienrecht nicht bloss der Anfechtung wegen Irrtums (BGE 65 II 14 ff.) und
wegen absichtlicher Täuschung, sondern er trägt überhaupt nicht weiter, als
der Generalversammlung ersichtlich war. Die Déchargeerteilung deckt die aus
den unterbreiteten Vorlagen erkennbare Geschäftsführung der Verwaltungsorgane,
nicht Geschehnisse, welche der Generalversammlung nicht zur Kenntnis gebracht
sind. In derartigen Belangen bleiben Verantwortlichkeit und
Schadenersatzansprüche gemäss Art. 916
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 916 - Alle mit der Verwaltung, Geschäftsführung, Revision oder Liquidation befassten Personen sind der Genossenschaft für den Schaden verantwortlich, den sie ihr durch absichtliche oder fahrlässige Verletzung der ihnen obliegenden Pflichten verursachen.
OR trotz gewährter Entlastung bestehen
(vgl. BGE 14 S. 704, 65 II 10 und 12 ferner für das deutsche Recht die bei
PARSIUS-CRÜGER a.a.O. in Anm. 8 zu § 34 angeführte Rechtsprechung des
Reichsgericht es, sowie MEYER, Genossenschaftsgesetz, Bd. II der Beck'schen
Kurzkommentare, zu § 34 N. 5).
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 78 II 155
Datum : 01. Januar 1952
Publiziert : 25. März 1952
Quelle : Bundesgericht
Status : 78 II 155
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Art. 916 OR.Grundsätzliches zur Entlastung der Verwaltung im Genossenschaftsrecht; Bedeutung der...


Gesetzesregister
OR: 916
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 916 - Alle mit der Verwaltung, Geschäftsführung, Revision oder Liquidation befassten Personen sind der Genossenschaft für den Schaden verantwortlich, den sie ihr durch absichtliche oder fahrlässige Verletzung der ihnen obliegenden Pflichten verursachen.
BGE Register
34-II-493 • 65-II-2 • 78-II-155
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
entlastungsbeschluss • genossenschaft • vermutung • aktiengesellschaft • vorbehalt • entscheid • irrtum • einseitiges rechtsgeschäft • kenntnis • selbsthilfe • literatur • gewicht • kantonsgericht • frage • zweifel • bedingung • absichtliche täuschung