S. 104 / Nr. 14 Rechtsgleichheit {Rechtsverweigerung} (d)

BGE 78 I 104

14. Auszug aus dem Urteil vom 30. April 1952 i. S. Lempen und Konsorten gegen
Gemeinde Nidau und Regierungsrat des Kantons Bern.

Regeste:
1. Staatsrechtliche Beschwerde: Legitimation zur Beschwerde gegen einen einer
einfachen Gesellschaft gegenüber ergangenen Entscheid.
2. Kantonales Verwaltungsverfahren: Eine Rekursinstanz mit freier
Überprüfungsbefugnis darf den Entscheid der ersten Instanz auch aus einem von
dieser verworfenen Grunde bestätigen.

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1. Recours de droit public Qualité pour attaquer une décision rendue contre
une société simple.
2. Procédure administrative cantonale Une autorité de recours qui a pouvoir de
libre examen peut confirmer une décision de première instance par un motif que
l'autorité inférieure a rejeté comme non fondé.
1. Ricorso di diritto pubblico. Veste per impugnare una decisione resa contro
una società semplice.
2. Procedura amministrativa cantonale: Un'autorità di ricorso che ha la
competenza di esaminare liberamente una decisione della prima istanza può
confermarla per un motivo da questa dichiarato infondato.

Aus dem Tatbestand:
A. - Die einfache Gesellschaft «Neue Bernstrasse», bestehend aus Dr. Lempen,
Taini, Bezzola und Bünzli, ersuchte im Juni 1951 um die Bewilligung zum Bau
von fünf Baublöcken von je drei zusammengebauten Mehrfamilienhäusern mit vier
Geschossen im Gebiet der «Weidteile in Nidau. Der Gemeinderat erhob
Einsprache, unter anderm mit der Begründung, dass der vom Regierungsrat des
Kantons Bern am 4. November 1947 genehmigte Alignementsplan für dieses Gebiet
nur zwei- und dreigeschossige Gebäude vorsehe und dass auch die Zufahrt en zu
den Bauten fehlten.
Der Stellvertreter des Regierungsstatthalters von Nidau hiess die Einsprache
wegen ungenügender Zufahrten gut, im übrigen wies er sie ab, hinsichtlich der
Bauhöhe deshalb, weil die im Alignementsplan angemerkten Zonen für die
Geschosshöhe nicht als verbindliche Bauvorschriften gelten könnten.
Die Baugesellschaft «Neue Bernstrasse» erhob gegen diesen Entscheid Rekurs an
den Regierungsrat gemäss §§13 und 14 des Baudekretes mit dem Antrag auf
Erteilung der nachgesuchten Baubewilligung. Der Regierungsrat wies den Rekurs
am 14. Dezember 1951 ab mit der Begründung: Ob das Bauvorhaben auch noch
andere Vorschriften des öffentlichen Rechts verletze, könne dahingestellt
bleiben, da es jedenfalls mit seinen viergeschossigen Häusern im Widerspruch
stehe zu den seit 4.

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November 1947 rechtskräftigen Zonenvorschrift en des Alignementsplanes für den
Umlegungskreis «Aalmatten-Weidteile». Die in der Legende dieses Planes
enthaltenen baupolizeilichen Vorschrift en über die Geschosszahl seien für die
vom Plan erfassten Gebiete allgemein verbindlich und massgebend, da der
Alignementsplan gemäss den Bestimmungen des Alignementsgesetzes aufgestellt,
vom Regierungsrat genehmigt worden und rechtlich einem Baureglement
gleichzustellen sei.
B. - Mit der vorliegenden staatsrechtlichen Beschwerde beantragt die aus Dr.
Lempen, Taini, Bezzola und Bünzli bestehende Gesellschaft «Neue Bernstrasse»,
diesen Entscheid des bernischen Regierungsrates wegen Willkür aufzuheben und
den Regierungsrat anzuweisen, den Beschwerdeführern die Bau bewilligung zu
erteilen. Zur Begründung wird unter anderm geltend gemacht:
Da der Gemeinderat von Nidau nicht rekurriert habe, sei der Entscheid des
Regierungsstatthalters rechtskräftig geworden mit Ausnahme des von den
Beschwerdeführern angefochtenen Teils, des Entscheids über den Weganschluss.
Nur diese Frage habe daher Gegenstand des Verfahrens beim Regierungsrat bilden
können. Dieser habe willkürlich gehandelt, wenn er den zweifellos
rechtskräftig gewordenen erstinstanzlichen Entscheid über die Geschosszahl zum
Gegenstand seiner ablehnenden Entscheidung gemacht habe.
Das Bundesgericht hat die Beschwerde abgewiesen.
Aus den Erwägungen:
1.- Nach Art. 88 OG steht das Recht zur staatsrechtlichen Beschwerde «Bürgern
(Privaten) und Korporationen» zu. Beschwerdefähig sind somit nur
Einzelpersonen und Personenvereinigungen mit eigener juristischer
Persönlichkeit. Da die einfache Gesellschaft keine juristische Person ist, so
ist die Gesellschaft «Neue Bernstrasse»zur staatsrechtlichen Beschwerde nicht
befugt. Dagegen kann die vorliegende Eingabe als Beschwerde der darin

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mit Namen genannten vier Gesellschafter angesehen und entgegengenommen werden,
die als Einzelpersonen zur Beschwerde berechtigt sind und sie denn auch durch
den Beschwerdeantrag für sich zu führen erklären (BGE 71 I 183 /84, nicht
veröffentlichtes Urteil vom 12. September 1946 i. S. Romwerk-Konsortium S. 10
f.).
2.- Die Beschwerdeführer werfen dem Regierungsrat als Willkür in erster Linie
eine Verletzung der Rechtskraft eines Teils des erstinstanzlichen Entscheids
vor. Diese Rüge geht, wie der Regierungsrat in der Beschwerdeantwort mit Recht
bemerkt, vollständig fehl. Da die Beschwerdeführer gemäss § 13 des Dekretes
vom 13. März 1900 betreffend das Verfahren zur Erlangung von Baubewilligungen
Rekurs erhoben hatten gegen den Entscheid des Regierungsstatthalters, hatte an
dessen Stelle der Regierungsrat zu entscheiden, ob die Einsprache des
Gemeinderat es gegen das Baugesuch begründet sei. Dafür, dass der
Regierungsrat dabei nur die von den Beschwerdeführern angefochtene Erwägung
des erstinstanzlichen Entscheids hätte überprüfen dürfen, fehlt jeder
Anhaltspunkt; die Beschwerdeführer können keine Bestimmung des bernischen
Rechtes nennen, ans der sich eine solche Beschränkung der Überprüfungsbefugnis
ergäbe. Da das genannte Dekret und das Verwaltungsrechtspflegegesetz vom 31.
Oktober 1909 nichts Abweichendes über den Umfang der Weiterziehung an eine
obere Instanz bestimmen, stand dem Regierungsrat, wie ohne jede Willkür
angenommen werden darf, gleich einem Appellationsgericht freie Überprüfung zu,
und er konnte daher die Einsprache der Gemeinde gegen das Baugesuch gutheissen
und den Rekurs der Beschwerdeführer abweisen aus einem Grunde, den der
Regierungsstatthalter verworfen hatte (vgl. LEUCH N. 1 zu Art. 333
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 333 Neuer Entscheid in der Sache - 1 Heisst das Gericht das Revisionsgesuch gut, so hebt es seinen früheren Entscheid auf und entscheidet neu.
1    Heisst das Gericht das Revisionsgesuch gut, so hebt es seinen früheren Entscheid auf und entscheidet neu.
2    Im neuen Entscheid entscheidet es auch über die Kosten des früheren Verfahrens.
3    Es eröffnet seinen Entscheid mit einer schriftlichen Begründung.
bern. ZPO
S. 276, GÖTZINGER, Rechtsmittel, ZSR NF Bd. 49 S. 241 f.). Von Willkür kann
umso weniger die Rede sein, als die Befugnis, einen Entscheid aus andern als
den von ihm angenommenen Gründen zu schützen, sogar von Kassationsinstanzen in

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Anspruch genommen wird, die den Entscheid nicht frei, sondern nur auf das
Vorliegen der dagegen geltend gemachten Nichtigkeitsgründe zu überprüfen haben
(vgl. BGE 77 I 46 Erw. 3). Die Annahme der Beschwerdeführer, die Erwägung des
Regierungsstatthalters über die Einsprache der Gemeinde wegen der Geschosszahl
sei rechtskräftig geworden, weil die Gemeinde den Entscheid nicht weiterzog,
ist irrtümlich, denn die Gemeinde hatte als obsiegende Partei keinen Anlass
zum Rekurs und wäre dazu bloss zur Anfechtung der Entscheidungsgründe
überhaupt nicht befugt gewesen (LEUCH a.a.O. S. 276 unten). Die
Entscheidungsgründe nehmen auch, von Ausnahmen abgesehen (vgl. BGE 71 II 284,
HEUSLER, Zivilprozess S. 171 f.), an der Rechtskraft nicht Teil (GULDENER,
Zivilprozessrecht Bd. i. S. 254 f.) Motive eines weitergezogenen Entscheids
als rechtskräftig zu betrachten, ist unmöglich.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 78 I 104
Datum : 01. Januar 1952
Publiziert : 30. April 1952
Quelle : Bundesgericht
Status : 78 I 104
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 1. Staatsrechtliche Beschwerde: Legitimation zur Beschwerde gegen einen einer einfachen...


Gesetzesregister
OG: 88
ZPO: 333
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 333 Neuer Entscheid in der Sache - 1 Heisst das Gericht das Revisionsgesuch gut, so hebt es seinen früheren Entscheid auf und entscheidet neu.
1    Heisst das Gericht das Revisionsgesuch gut, so hebt es seinen früheren Entscheid auf und entscheidet neu.
2    Im neuen Entscheid entscheidet es auch über die Kosten des früheren Verfahrens.
3    Es eröffnet seinen Entscheid mit einer schriftlichen Begründung.
BGE Register
71-I-179 • 71-II-282 • 77-I-42 • 78-I-104
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regierungsrat • gemeinde • staatsrechtliche beschwerde • gemeinderat • einfache gesellschaft • rechtsmittel • baubewilligung • weiler • zufahrt • wiese • entscheid • zivilprozess • bewilligung oder genehmigung • juristische person • baute und anlage • willkürverbot • begründung des entscheids • rechtskraft • erste instanz • frage
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