S. 35 / Nr. 10 Strassenverkehr (d)

BGE 77 IV 35

10. Urteil des Kassationshofes vorn 23. Februar 1951 i. S. Leoni gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau.

Regeste:
Art. 117
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 117 - Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
StGB, Art. 20 Abs. 1,25 Abs. 1 MFG, Art. 40 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 117 - Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
MFV.
Geschwindigkeit beim Ueberholen von Kindern, Pflicht zu warnen.
Art. 117 CP, 20 al. 1, 25 al. 1 LA, 40 al. 1 RA. Vitesse du véhicule qui
dépasse des enfants; obligation d'avertir.
Art. 117 CP, art. 20 cp. 1, 25 cp. 1 LA e art. 40 cp. 1 RLA. Velocità del
veicolo che sorpassa dei bambini; obbligo di avvertire.

A. - Am 21. März 1950 führte Germaine Leoni einen Personenwagen auf der vom
Regen nassen 8 m breiten Strasse von Würenlos gegen Wettingen. Etwa um 16.30
Uhr näherte sie sich bei den ersten Häusern von Wettingen der

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in gleicher Richtung marschierenden Marie Fuchs, die mit sechs Kindern im
Alter von sechs bis acht Jahren von einem Spaziergang heimkehrte. Die Gruppe
ging dem rechten Rand der Strasse entlang, wobei Frau Fuchs drei Mädchen an
ihren Händen führte, während die drei Knaben mit Abständen von etwa 2 m
gestaffelt vor ihr hergingen. Germaine Leoni warnte ganz kurz und behielt,
obschon sie keine Reaktion der Fussgänger feststellte, ihre Geschwindigkeit
von 45 km Std. bei, um zu überholen. Plötzlich bemerkte sie aus 25,5 m
Entfernung, dass der achtjährige Peter Bruggisser gegen links lief, um die
Strasse zu überqueren. 13 in vom Knaben entfernt begann sie zu bremsen. Sie
stiess mit ihm zusammen. Das Fahrzeug, das sich in einer länglichen
Schleuderbewegung um etwa 180° drehte, kam erst rund 18 m nach dem
Zusammenstoss zum Stehen.
Am 20. April 1950 erlag Peter Bruggisser den erlittenen Verletzungen.
B. - Am 29. August 1950 verurteilte das Bezirksgericht Baden Germaine Leoni
wegen fahrlässiger Tötung (Art. 117
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StGB Art. 117 - Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
StGB) zu Fr. 80.- Busse.
Das Obergericht des Kantons Aargau wies am 22. Dezember 1950 die Beschwerde
der Verurteilten ab. Es warf der Beschwerdeführerin vor, sie habe durch
ungenügendes Warnen Art. 20 MFG verletzt; sie hätte so stark warnen sollen,
dass die Fussgänger das Zeichen hätten wahrnehmen können. Ferner sei sie in
Übertretung des Art. 25 Abs. 1 MFG zu schnell gefahren. Wenn sie die
Geschwindigkeit auf 30 km/Std. herabgesetzt hätte, hätte sie das Fahrzeug
innerhalb einer Strecke von 20-25 m anhalten und den Zusammenstoss vermeiden
können. Die ungenügende Warnung und die übersetzte Geschwindigkeit seien für
den Zusammenstoss und dessen Folgen kausal.
C. - Germaine Leoni führt gegen das Urteil des Obergerichts
Nichtigkeitsbeschwerde nach Art. 268 ff
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 117 - Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
. BStP mit dein Antrag, es sei
aufzuheben und die Beschwerdeführerin von Schuld und Strafe freizusprechen.
Sie macht geltend, sie hätte sich selbst dann nicht strafbar gemacht,

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wenn sie überhaupt nicht gewarnt hätte, denn sie habe beachtliche Gründe
gehabt, die Abgabe eines Signals zu unterlassen. Die Auffassung des
Obergerichts, dass bei Einhaltung einer Geschwindigkeit von 30 km/Std. der
Zusammenstoss vermieden worden wäre, beruhe auf einer unrichtigen
tatsächlichen Annahme, indem das Gericht davon ausgehe, das Fahrzeug habe nach
dem Zusammenstoss nur noch 18 m zurückgelegt, während die Strecke in
Wirklichkeit mindestens 22 m betragen habe. Übrigens habe die
Beschwerdeführerin nicht damit rechnen müssen, dass eines der Kinder über die
Strasse laufen könnte, ohne sich umzusehen. Der Unfall sei nicht voraussehbar
gewesen, weshalb die Beschwerdeführerin kein Verschulden treffe. Eine
Geschwindigkeit von 45 km Std. ausserorts müsse als ausgesprochen gering
bezeichnet werden.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.- Eine Geschwindigkeit von 45 km/Std. zum überholen einer am rechten Rande
gehenden Gruppe von Kindern im Alter von sechs bis acht Jahren, die von einer
erwachsenen Person begleitet sind, ist auf einer gut ausgebauten 8 m breiten
Strasse nicht übersetzt, wenn der Führer überzeugt sein darf, dass die Kinder
das Fahrzeug wahrgenommenen haben oder von der erwachsenen Person auf es
aufmerksam gemacht worden sind. Unter solchen Umständen braucht nicht damit
gerechnet zu werden, dass ein Kind unversehens vor das Fahrzeug laufe. Die
erwähnte Geschwindigkeit ist aber dann übersetzt, wenn der Führer daran
zweifeln muss, dass alle Kinder über die Annäherung des Fahrzeuges
unterrichtet seien. Es kommt bei der allgemein bekannten Sorglosigkeit der
Kinder immer wieder vor, dass ein Kind, selbst wenn es scheinbar einem
bestimmten Ziele zustrebt und von Erwachsenen begleitet ist, die es
beaufsichtigen, plötzlich seine Richtung ändert, insbesondere über die Strasse
läuft, ohne sich umzusehen. Der Motorfahrzeugführer ist daher verpflichtet,
entweder seine Geschwindigkeit so herabzusetzen, dass er

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jede aus einer unbedachten Bewegung des Kindes entstehende Gefahr bannen kann
(Art. 25 Abs. 1 MFG), oder die Kinder rechtzeitig und so deutlich zu warnen,
dass sie seine Annäherung wahrnehmen, ehe sie sich der Gefahr aussetzen (Art.
20 MFG). Der Fall liegt anders als der in BGE 75 IV 186 veröffentlichte, wo
die Kinder auf dem Fussgängersteig, also auf einem auch für Kinder deutlich
erkennbar von der Strasse abgegrenzten Raume standen und ruhig miteinander
sprachen, sodass nichts vermuten liess, es könnte eines von ihnen plötzlich
auf die Strasse laufen, ohne sich umzusehen. Auch Art. 40 Abs. 1
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MFV enthebt
den Führer, der die Geschwindigkeit nicht herabsetzen will, nicht der Pflicht,
in Verhältnissen wie den vorliegenden einer Gefährdung der Kinder durch
Gebrauch der Warnvorrichtung vorzubeugen, zumal dann nicht, wenn er sich, wie
hier, ausserorts befindet (BGE 75 IV 31) und daher nicht zu befürchten
braucht, er belästige jemanden durch Lärm. Art. 40 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 117 - Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
MFV verbietet nur
den grundlosen und den übermässigen gebrauch der Warnvorrichtung. Warnt der
Führer, um eine Gefahr abzuwenden, mit der er rechnen muss, so handelt er
nicht «grundlos», und wenn er dabei nicht lauter und nicht länger warnt, als
dass er überzeugt sein darf, die Kinder hätten ihn gehört, so ist der Gebrauch
der Warnvorrichtung nicht «übermässig «.
2.- Die Beschwerdeführerin hat weder die Geschwindigkeit so gemässigt, dass
sie die aus unbedachten Bewegungen der Kinder entstehende Gefahr hätte bannen
können, noch hat sie die Kinder genügend gewarnt. Nach ihrer eigenen Aussage
vor Bezirksgericht gab sie nur ein ganz kurze. Signal. Dass die Fussgänger
daraufhin irgend ein Verhalten an den Tag gelegt hätten, aus dem sie hätte
schliessen dürfen, das Warnzeichen sei gehört worden, behauptet sie selber
nicht. Insbesondere haben weder die Kinder noch Marie Fuchs sich umgedreht
oder dein Rande der Strasse genähert, und zu erkennen zu geben, dass sie das
Fahrzeug wahrgenommen hätten. Die Beschwerdeführerin hätte

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daher nochmals und stärker warnen oder die Geschwindigkeit herabsetzen sollen.
Dadurch hätte sie den Zusammenstoss und damit den Tod des Knaben Bruggisser
verhütet. Dass insbesondere die Herabsetzung der Geschwindigkeit auf 30
km/Std. genügt hätte, um rechtzeitig vor dem Knaben anhalten zu können, ist
von der Vorinstanz verbindlich festgestellt; auf die Bestreitung der
Beschwerdeführerin ist nicht einzutreten (Art. 277bis Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 117 - Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
, Art. 273 Abs. 1
lit. b
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 117 - Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
BStP). Germaine Leoni ist zu Recht wegen fahrlässiger Tötung verurteilt
worden.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 77 IV 35
Datum : 01. Januar 1951
Publiziert : 23. Februar 1951
Quelle : Bundesgericht
Status : 77 IV 35
Sachgebiet : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Gegenstand : Art. 117 StGB, Art. 20 Abs. 1,25 Abs. 1 MFG, Art. 40 Abs. 1 MFV. Geschwindigkeit beim Ueberholen...


Gesetzesregister
BStP: 268  273  277bis
MFV: 40
StGB: 117
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 117 - Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
BGE Register
75-IV-185 • 75-IV-26 • 77-IV-35
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
verurteilter • kassationshof • erwachsener • aargau • ausserorts • warnsignal • fahrzeugführer • alarm • vermutung • bremse • verhalten • busse • treffen • wille • ehe • innerhalb • tag • spaziergang • wiese • tod
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