BGE 77 II 97
20. Urteil der Il. Zivilabteilung vom 14. Juni 1951 i. S. BIättler und Waller
gegen Waller.
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Regeste:
Urteilsfähigkeit (Art. 16
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 16 - Urteilsfähig im Sinne dieses Gesetzes ist jede Person, der nicht wegen ihres Kindesalters, infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln. |
eine Person, die wegen ihres Geisteszustandes dem Versuch einer
Willensbeeinflussung nicht in normaler Weise Widerstand leisten kann, als
urteilsunfähig anzusehen?
Discernement (art. 16 CC). Notion. A quelles conditions une per. sonne qui
n'est pas en mesure de s'opposer de façon normale à une tentative d'influer
sur sa volonté du fait de son état mental, doit être considérée comme
incapable de discernement?
Discernimento (art. 16 CC). Nozione. A quali condizioni una persona che, a
motivo del suo stato mentale, non è in grado di opporsi in modo normale al
tentativo d'influire sulla sua volontà dev'essere considerata come incapace di
discernimento?
A. - Der wegen Schwachsinus entmündigte Meinrad Waller unterhielt mit Hedwig
Blättler im Sommer und Herbst 1947 intime Beziehungen und verkehrte im Januar
1948 nochmals mit ihr. Als ihm Hedwig Blättler im März 1948 eröffnete, dass
sie von ihm schwanger sei, erwiderte Waller, wenn das Kind von ihm sei, müsse
man möglichst bald heiraten. Am 14. März 1948 sandte er Hedwig Blättler einen
von seinem Bruder aufgesetzten Brief, worin er nochmals den Wunsch äusserte,
möglichst bald zu heiraten.
Am 10. Juli 1948 gebar Hedwig Blättler in einem Entbindungsheim den Knaben
Peter. Tags darauf besuchte Waller, der zufällig in jener Gegend war, die
Familie Blättler. Auf Einladung von Mutter Blättler begab er sich mit dieser
in das Entbindungsheim. Dort erklärte er sich bereit, für die Kosten der
Geburt aufzukommen. Nachdem Mutter Blättler ihm erklärt hatte, die Geburt
müsse angezeigt werden, ging er mit ihr auf das Zivilstandsamt und
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sagte, er sei der Vater des Kindes Peter und wolle Hedwig Blättler heiraten;
er anerkenne das Kind mit Standesfolge und spreche die Anerkennung aus freiem
Willen aus. Am 12. Juli erschien er mit dem inzwischen beschafften
Heimatschein nochmals auf dem Zivilstandsamt und unterzeichnete vor dem
Zivilstandsbeamten und dein Gemeindeschreiber die Anerkennungsurkunde.
B. - Am 8 Februar 1949 reichte Waller gegen Hedwig Blättler und Peter Bruno
Waller Klage ein mit dem Begehren, es sei gerichtlich festzustellen dass die
Anerkennung vom 12. Juli 1948 nichtig sei. Das Kantonsgericht Zug wies die
Klage ab. Das Obergericht des Kantons Zug hat dagegen am 3. Oktober 1950 die
Kindesanerkennung für nichtig erklärt mit der Begründung, der Kläger sei mit
Bezug auf diese Rechtshandlung nicht urteilsfähig gewesen; zwar sei er
imstande gewesen, den biologischen Zusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr
und Schwangerschaft zu erfassen und die Verpflichtung zu erkennen, irgendwie
für das von ihm gezeugte Kind zu sorgen dagegen habe seine Intelligenz nicht
hingereicht,«um die unterschiedlich belastenden Fürsorgemöglichkeiten zu
erkennen, welche die Rechtsordnung zur Verfügung stellt. Ebensowenig vermochte
er die unterschiedlichen Voraussetzungen und Wirkungen einer Vaterschaftsklage
zu ermessen, je nachdem die letztere auf Standesfolge oder blosse
Unterhaltsbeiträge geht. Diesem Ungenügen hätte nur eine sorgfältige
Aufklärung seitens einer rechtskundigen Person abhelfen können. Dass eine
solche stattgefunden habe, ist von der beklagten Partei nicht einmal behauptet
worden. Jedenfalls könnte jene Erklärung des Begriffes Standesfolge, welche
der Zivilstandsbeamte dem Kläger gegeben haben will, nicht als genügende
Instruktion betrachtet werden».
C. - Gegen dieses Urteil haben die Beklagten die Berufung an das Bundesgericht
erklärt mit dem Antrag auf Abweisung der Klage.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Die streitige Anerkennung ist wegen Urteilsunfähigkeit des Klägers
nichtig, wenn er infolge der bei ihm festgestellten Geistesschwäche die
Fähigkeit nicht besass, in dieser Angelegenheit vernunftgemäss zu handeln.
Diese Fähigkeit kann dem Kläger nicht schon deswegen abgesprochen werden, weil
er mangels Aufklärung durch eine rechtskundige Person nicht wusste, dass er
das von ihm gezeugte Kind nicht im Sinne von Art. 303
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 303 - 1 Über die religiöse Erziehung verfügen die Eltern. |
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1 | Über die religiöse Erziehung verfügen die Eltern. |
2 | Ein Vertrag, der diese Befugnis beschränkt, ist ungültig. |
3 | Hat ein Kind das 16. Altersjahr zurückgelegt, so entscheidet es selbständig über sein religiöses Bekenntnis. |
brauchte, sondern sich damit hätte begnügen können, die Leistung von
Unterhaltsbeiträgen zu versprechen. Die Urteilsfähigkeit setzt nicht das
Vorhandensein der positiven Kenntnisse voraus, die nötig sind, um in einer
bestimmten Angelegenheit vernünftig handeln zu können, sondern es kommt in
dieser Hinsicht nur darauf an, ob die betreffende Person imstande ist, sich
die nötigen Kenntnisse anzueignen, und ob sie gegebenenfalls zu erkennen
vermag, dass sie vor einer Frage steht, die sie nicht von sich aus, sondern
nur mit Hilfe des Rates von Sachverständigen beurteilen kann. Wenn die
Vorinstanz erklärt, dem Unvermögen des Klägers zur richtigen Einschätzung der
Lage hätte nur durch sorgfältige Aufklärung abgeholfen werden können, so ist
daraus wohl zu schliessen, dass sie dem Kläger die Fähigkeit zutraut, die
Erklärungen eines Sachkundigen zu verstehen und mit ihrer Hilfe das nötige
Wissen zu erwerben. Ob sich diese Annahme mit den übrigen Feststellungen über
die geistigen Fähigkeiten des Klägers vertrage, und ob der Kläger habe
erkennen können, dass er sich hätte beraten lassen sollen, bevor er die
Anerkennung aussprach, lässt sich nicht ohne weiteres mit Sicherheit
entscheiden, kann jedoch dahingestellt bleiben, weil die Urteilsfähigkeit des
Klägers auf jeden Fall aus einem andern Grunde verneint werden muss.
2.- Zur Urteilsfähigkeit gehört nicht nur die Fähigkeit, über die Tragweite
und Opportunität des in Frage stehenden Aktes ein vernünftiges Urteil zu
bilden, sondern
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auch die Fähigkeit, gemäss dieser Einsicht zu handeln und namentlich dem
Versuch einer Willensbeeinflussung in normaler Weise Widerstand zu leisten
(BGE 55 11 229). Der Mangel dieser letzten Fähigkeit hat freilich nicht in
allen Fällen die gleiche Folge wie die Unfähigkeit zur richtigen Beurteilung
der Lage und die durch die Übermacht der Triebe und Affekte bedingte
Unfähigkeit, gemäss einer richtigen Erkenntnis zu handeln. Wer wegen seines
Geisteszustandes in Angelegenheiten der in Frage stehenden Art kein
vernünftiges Urteil bilden oder seine Triebe und Affekte nicht beherrschen
kann, ist in dieser Hinsicht ohne weiteres als urteilsunfähig im Sinne von
Art. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 1 - 1 Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält. |
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1 | Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält. |
2 | Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll das Gericht4 nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die es als Gesetzgeber aufstellen würde. |
3 | Es folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung. |
Versuch einer Willensbeeinflussung in normaler Weise zu widerstehen, ist mit
Bezug auf die fragliche Handlung nur dann als urteilsunfähig zu betrachten,
wenn wirklich ein Einfluss auf ihn ausgeübt worden ist, weil sich eben der
Mangel an Widerstandskraft nur in diesem Falle auswirken konnte. Mehr als der
Nachweis dieses Mangels und einer Beeinflussung ist aber nicht erforderlich,
um den Schluss zu rechtfertigen, dass die betreffende Person hinsichtlich der
fraglichen Handlung urteilsunfähig sei. Es braucht namentlich nicht dargetan
zu werden, dass zur Beeinflussung unzulässige Mittel verwendet werden, und es
spielt keine Rolle, ob die Handlung, zu der die beeinflusste Person bestimmt
werden sollte, vom Standpunkt dieser Person aus vernünftig war oder nicht.
Nach der Natur der Sache kann ferner nicht immer ein strenger Beweis dafür
verlangt werden, dass eine Beeinflussung stattgefunden hat. Es muss unter
Umständen (besonders etwa, wenn es sich um letztwillige Verfügungen handelt)
genügen, wenn die Umstände es als höchst wahrscheinlich erscheinen lassen,
dass auf die betreffende Person ein Einfluss ausgeübt wurde. Dass der
Beeinflussungsversuch wirksam war, braucht nicht besonders nachgewiesen zu
werden, sondern ist zu vermuten, wenn einerseits die abnorme Beeinflussbarkeit
feststeht und anderseits davon auszugehen ist, dass eine Beeinflussung
versucht wurde.
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Der Kläger hat nun in seiner Klage ausdrücklich geltend gemacht, es habe ihm
«an der nötigen Urteilsfähigkeit gemangelt, um ... dem Zwang und den Drohungen
der Familie der Kindsmutter Widerstand zu leisten». Die von der
Vormundschaftsbehörde vorgelegten psychiatrischen Gutachten bezeichnen ihn in
der Tat als «übertrieben beeinflussbar», «sehr leicht beeinflussbar», «jeder
äussern Beeinflussung zugänglich». Diese - im angefochtenen Urteil zum Teil
wörtlich zitierten - Gutachten hat die Vorinstanz ihrem Urteil zugrunde
gelegt. Es darf daher als festgestellt gelten, dass der Kläger infolge seines
Schwachsinns in aussergewöhnlichem Masse beeinflussbar war. Er war also nicht
fähig, einem Beeinflussungsversuch in normaler Weise zu widerstehen.
Es lässt sich aber auch nicht bezweifeln, dass ein solcher Versuch wirklich
stattgefunden hat. Dass der Kläger bedroht oder gezwungen worden sei, ist zwar
nicht dargetan. Er stand aber bei der Kindesanerkennung offensichtlich unter
dem Einflusse von Mutter Blättler, die ihn am 11. Juli 1948 zum Besuch im
Entbindungsheim und hernach zur Anzeige der Geburt aufgefordert und auf das
Zivilstandsamt begleitet hatte. Mutter Blättler hat ihm damals nach ihren
eigenen Aussagen erklärt, er werde wohl wissen, was er zu tun habe; er müsse
das Kind auf der Kanzlei angeben er müsse die Sache in Ordnung bringen. Das
konnte nach den Umständen gar nichts anderes heissen, als dass er das Kind auf
dem Zivilstandsamte als das seine anmelden, d.h. eben anerkennen solle.
Der Umstand, dass der Kläger gegenüber Hedwig Blättler schon nach der
Mitteilung der Schwangerschaft Heiratsabsichten geäussert hatte, beweist
keineswegs, dass er sich aus eigenem Antriebe, unabhängig von den Ermahnungen
von Mutter Blättler, zur Anerkennung des Kindes entschlossen habe. Wenn er von
sich aus den Wunsch äusserte, Hedwig Blättler zu heiraten, so folgt daraus
noch nicht, dass er entschlossen gewesen sei, für ihr Kind auch in dem Falle
wie für ein eheliches zu sorgen, dass es nicht zur Heirat kommen sollte.
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Aus diesen Gründen muss angenommen werden, dass er mit Bezug auf die streitige
Anerkennung nicht urteilsfähig war. Sie ist daher nichtig.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichtes des Kantons Zug
vom 3. Oktober 1950 bestätigt.