S. 205 / Nr. 40 Familienrecht (d)

BGE 77 II 205

40. Urteil der Il. Zivilabteilung vom 5. Juli 1951 i. S. Sigwald gegen
Sigwald.

Regeste:
Ehescheidung, Art. 142 Abs. 2 ZGB: Schuldhafte und objektive
Zerrüttungsfaktoren. «Falsche Partnerwahl» entlastet die Parteien nicht von
der Verantwortung für Verletzung der aus der Ehe folgenden Pflichten.
Divorce, art. 142 al. 2 cc: Causes de désunion imputables à faute à l'un ou
l'autre des conjoints et causes de désunion indépendantes de toute faute. Le
fait d'avoir mal choisi son conjoint n'excuse pas la violation des devoirs
découlant du mariage.
Divorzio, art. 142, cp. 2 CC: Cause di turbazione imputabili a colpa dell'uno
o dell'altro coniuge e cause di turbazione indipendenti da ogni colpa. L'aver
fatto ma cattiva scelta del proprio coniuge non scusa la violazione dei doveri
derivanti dal matrimonio.

Der 51-jährige, verwitwete Kläger heiratete im März 1948 die um 19 Jahre
jüngere, bereits einmal geschiedene und einmal verwitwete Beklagte, die aus
ihrer zweiten Ehe einen zweijährigen Knaben hatte. Schon nach dreimonatiger
Ehe, am 17. Juni 1948, verliess die Frau die eheliche Gemeinschaft und kehrte
trotz richterlicher Aufforderung nicht mehr zurück. In der Folge wurde das
Getrenntleben bewilligt. Am 5. Februar 1949 kam der Knabe Thomas Christian zur
Welt; die Mutter brachte ihn wenige Tage nach der Geburt in einem Kinderheim
unter.
Im Juli 1949 klagte der Mann auf Scheidung der Ehe wegen tiefer Zerrüttung aus
Verschulden der Beklagten und Zuteilung des Kindes an ihn. Die Beklagte
beantragte Abweisung der Klage und Widerklageweise Scheidung gemäss Art. 142
ZGB aus Verschulden des Mannes und Verurteilung

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desselben zu monatlichen Unterhaltsbeiträgen von Fr. 450.- gemäss Art. 152
ZGB.
Das Zivilgericht sprach die Scheidung aus Verschulden beider Parteien aus,
auferlegte beiden eine Wartefrist von zwei Jahren, teilte das Kind dem Vater
zu und wies das Unterhaltsbegehren der Widerklägerin ab. Das Zivilgericht
führte aus, die Frau habe die Ehe ohne Zuneigung und ohne den Wunsch nach
intimen Beziehungen nur zu ihrer materiellen Sicherung gesucht und keine
Kinder mehr gewollt, während für den Mann der Wille zu diesen Eheinhalten ein
wesentliches Motiv zur Heirat gewesen sei im Bewusstsein der Konfliktslage
habe jeder Teil gehofft, dann in der Ehe mit seinem Willen durchzudringen.
Nach der Heirat sei der Konflikt bald ausgebrochen. In der unbegründeten
Weigerung der Beklagten, den Wunsch des Klägers nach Kindern zu erfüllen,
müsse ein schweres Verschulden erblickt werden ferner habe sie den Kläger ohne
Grund verlassen, durch Ablehnung jedes Aussöhnungsversuchs die Rettung der Ehe
verunmöglicht und nach der Geburt des Knaben ihre Mutterpflichten völlig
vernachlässigt. Dem Kläger müsse zum Vorwurf gemacht werden, dass er die Frau
gegen ihren Willen geschwängert und in der Folge durch Aufgabe seiner guten
Stelle sich in die Unmöglichkeit versetzt habe, für den Unterhalt der Frau
aufzukommen; die weitem gegen ihn erhobenen Vorwürfe - ungebührliche sexuelle
Anforderungen, Alkoholismus - seien unbewiesen geblieben.
Das Appellationsgericht würdigte den Tatbestand insofern abweichend, als es zu
einer Entlastung beider Parteien gelangte. Der Kläger habe die Beklagte nicht
gegen ihren Willen geschwängert; diese habe zwar eine Schwangerschaft nicht
gewünscht, sie aber in Kauf genommen. Bei der Stellenaufgabe des Klägers
handle es sich um eine «Kurzschlusshandlung», für die er nicht voll
verantwortlich gemacht werden könne. Anderseits könne im unvermittelten
Abbruch der ehelichen Gemeinschaft seitens der Beklagten keine schuldhafte
Verfehlung erblickt werden,

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weil unabgeklärt sei, ob der Kläger sie nicht zu diesem Schritt provoziert
habe, wie sie behaupte. Der Wunsch der Frau nach Unterbrechung der
Schwangerschaft sei offenbar auf ihre Angst in Erinnerung an ihre lange
Krankheit nach ihrer ersten Geburt zurückzuführen. Ihre Interesselosigkeit
gegenüber dem Kinde könne in Ansehung seiner Unerwünschtheit und des
Platzmangels bei ihren Eltern als infantiler Trotz und neurotische Reaktion
gedeutet werden und verschuldensmässig nicht stark ins Gewicht fallen. Alles
in allem trete das feststellbare Verschulden der Parteien gegenüber dem
objektiven Zerrüttungsmoment der falschen Partnerwahl so stark zurück, dass
die Ehe in Gutheissung beider Klagen wegen objektiver Momente geschieden
werden müsse, woraus folge, dass kein Eheverbot aufzuerlegen und die Beklagte
aus Art. 152 ZGB anspruchsberechtigt sei. In diesem Sinne hat die Vorinstanz
entschieden und der Beklagten eine monatliche Bedürftigkeitsrente von Fr.
100.- zugesprochen.
Mit der vorliegenden Berufung beantragt der Kläger, die Scheidung sei auf sein
alleiniges Begehren aus vorwiegendem Verschulden der Beklagten auszusprechen,
der Unterhaltsbeitrag zu streichen und ihm eine Genugtuungs- und
Entschädigungssumme zuzusprechen.
Mit Anschlussberufung verlangt die Beklagte Erhöhung ihrer Bedürftigkeitsrente
auf Fr. 450.-.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Nach den Feststellungen der Vorinstanzen steht ausser Zweifel, dass die Ehe
der Parteien von allem Anfang an den Keim zu den nach kurzer Zeit zu Tage
getretenen Schwierigkeiten in sich trug in Gestalt der Verschiedenheit der
Charaktere und namentlich der Zwecke, die sie mit der Heirat verfolgten. Aber
die Schlussfolgerung, dass sie besser einander nicht geheiratet hätten,
berechtigt keineswegs dazu, die ganze folgende Fehlentwicklung auf das Konto
der «falschen Partnerwahl» als objektiven Zerrüttungsgrundes zu setzen und in
Ansehung dieses der Heirat

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vorausgegangenen Hauptirrtums die Parteien im wesentlichen der subjektiven
Verantwortung für ihr nachheriges, unter die für die eheliche Gemeinschaft
geltenden Verpflichtungen fallendes Verhalten zu entbinden (vgl. Urteil vom 5.
Juli 1951 i. S. Schmid, BGE 77 II 201). Dies geht im vorliegenden Fall
umsoweniger an, als die Parteien die Ehe in bestandenem Alter, im Besitze der
Erfahrungen einer bzw. zweier früherer Ehen, zudem nach mehrmonatigem intimem
Zusammenleben und in Kenntnis der sie trennenden Eheziele eingingen. Wenn es
in ihrer Ehe schon in den ersten Monaten zu schweren Differenzen kam, so nicht
weil die Eheleute auch bei gutem Willen sich nicht hätten zusammenfinden
können, sondern weil es an diesem guten Willen offensichtlich gänzlich fehlte.
Diesen Willen zur Ermöglichung des Zusammenlebens und zum Gedeihen der
Gemeinschaft aufzubringen, sich Mühe zu geben, sind die Eheleute kraft der Ehe
verpflichtet (BGE 72 II 402, 74 II 66). Dass die Parteien dies nicht taten,
sondern jeder starr und unnachgiebig seinen Zweck verfolgte, darin liegt
beider Verschulden. Die einzelnen ihnen vorzuwerfenden Handlungen sind der
Ausfluss dieses Mangels an gutem Willen und der rechthaberischen, egoistischen
Einstellung des einen Ehegatten gegen den andern.
Der Wunsch der Frau, in der Ehe Sicherung ihrer materiellen Existenz zu
finden, ist als Heiratsmotiv durchaus legitim, darf aber nicht so
ausschliesslich sein, dass er ein gedeihliches Eheleben zum vornherein in
Frage stellt, und es muss ihm namentlich als Korrelat ihre Bereitschaft
entsprechen, als Gegenleistung die Pflichten zu erfüllen, die mit der Ehe für
die Frau verbunden sind. Wenn die Beklagte in der Frage der Nachkommenschaft
zum Schein nachgab, aber an ihrer Mentalreservation festhielt, so hat sie
bereits durch diese Täuschung sich schwer gegen Sinn und Geist der Ehe
verfehlt. Die entsprechende Einstellung beim Manne ist nicht entschuldbar,
aber insofern weniger gravierend, als sein Verlangen nach intimem ehelichem
Verkehr und Kindern immerhin nach Natur, Sitte und

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Gesetz zum wesentlichen Inhalt der Ehe gehört, während die grundsätzliche
Weigerung der Beklagten ehewidrig war; selbst ein bezügliches Versprechen des
Mannes bei Eheschluss wäre als gegen die guten Sitten verstossend für ihn
unverbindlich gewesen. Dass die Angst vor den Beschwerden der Niederkunft das
Hauptmotiv der Ablehnung war, erscheint übrigens zweifelhaft angesichts der
Tatsache, dass die Beklagte, nachdem die Geburt ganz normal verlaufen war, das
drei Tage alte Kind in ein Heim gab und es während zwei Jahren ein einziges
Mal besuchte. Auch wenn, wie der Arzt übrigens nur vermutet, bei der
Einstellung der Beklagten infantile und neurotische Faktoren mitgespielt haben
mögen, so kann ein derart verantwortungsloses Verhalten einer Frau und Mutter
keinesfalls entschuldigt werden. Dazu kommt, dass die Beklagte den Mann schon
nach dreimonatiger Ehe wieder verlassen hat und trotz richterlichem Befehl
nicht zurückgekehrt ist. Wenn die Vorinstanz - abweichend vom Zivilgericht,
das von unberechtigtem Davonlaufen spricht - in diesem Verhalten keine
schuldhafte Verfehlung erblicken will, weil unabgeklärt sei, ob der Kläger die
Beklagte zu diesem Schritt provoziert habe, so verkennt sie die Beweislage;
solange die Beklagte nicht nachweist, dass sie zum Getrenntleben berechtigt
sei, ist diese Berechtigung zu verneinen und anzunehmen, dass sie den Mann
ohne rechtlichen Grund verlassen und die Rückkehr zu Unrecht verweigert hat.
Dann aber hat sie sich auch unter diesem Gesichtspunkt schwer schuldig
gemacht.
Dass anderseits auch den Kläger ein wesentliches Verschulden an der
endgültigen Zerrüttung trifft, kann keinem Zweifel unterliegen und wird
übrigens von ihm selber nicht bestritten, verlangt er doch mit der Berufung
nur Scheidung aus vorwiegendem, nicht etwa aus alleinigem Verschulden der
Beklagten. Auf Grund der tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanzen und der
vorstehenden Würdigung derselben ist dieser Antrag begründet, was zur Folge
hat, dass die Scheidung nur auf Begehren des Klägers

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auszusprechen, der Beklagten eine längere Wartefrist aufzuerlegen und ihr
Unterhaltsanspruch abzuweisen ist. Ebensowenig kann anderseits von einem
Schadenersatz- und Genugtuungsanspruch des Klägers die Rede sein. Die
Zuteilung des Knaben an den Vater ist unbestritten. Ein Begehren, dass die
Beklagte zu einem Unterhaltsbeitrag für das Kind verpflichtet werde, ist nicht
gestellt.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
In Gutheissung der Hauptberufung und Abweisung der Anschlussberufung wird das
angefochtene Urteil wie folgt abgeändert:
a) die Scheidung wird auf Begehren des Klägers in Anwendung von Art. 142 ZGB
ausgesprochen;
b) der Beklagten wird die Eingehung einer neuen Ehe für die Dauer von zwei
Jahren, dem Kläger für die Dauer eines Jahres untersagt;
c) das Begehren der Beklagten auf Zahlung eines Unterhaltsbeitrages wird
abgewiesen.
Im übrigen bleibt es beim angefochtenen Urteil.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 77 II 205
Datum : 01. Januar 1951
Publiziert : 05. Juli 1951
Quelle : Bundesgericht
Status : 77 II 205
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Ehescheidung, Art. 142 Abs. 2 ZGB: Schuldhafte und objektive Zerrüttungsfaktoren. «Falsche...


Gesetzesregister
ZGB: 142  152
BGE Register
72-II-402 • 74-II-65 • 77-II-200 • 77-II-205
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
beklagter • ehe • wille • mann • vorinstanz • weiler • dauer • eheliche gemeinschaft • zivilgericht • monat • tag • verhalten • frage • maler • mutter • vater • bundesgericht • getrenntleben • zweifel • abweisung
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