S. 249 / Nr. 53 Strassenverkehr (d)

BGE 76 IV 249

53. Urteil des Kassationshofes vom 20. Oktober 1950 i. S. Oswald gegen
Justizdirektion des Kantons Appenzell-A. Rh.


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Regeste:
1. Art. 61 und 46 MFV. Begriffe der Strassenbahn und des Überholens (Erw. 1
und 2).
2. Art. 25 Abs. 1 MFG. Pflichten des Motorfahrzeugführers beim Vorbeifahren an
einer auf eigenem Körper haltenden Bahn, deren Fahrgäste die Strasse als Ein-
und Aussteigeperron benützen (Erw. 3).
3. Art. 269 Abs. 1 BStP. Hat der Kassationshof bundesrechtliche Vorfragen zu
überprüfen, die sich der kantonalen Behörde bei Anwendung kantonalen
Prozessrechts (Beweiswürdigung) stellen? (Erw. 4).
1. Art. 61 et 46 RA. Notions du train circulant sur route et du dépassement
(consid. 1 et 2).
2. Art. 25 al. 1 LA. Devoirs du conducteur d'un véhicule à moteur qui dépasse
un train arrêté sur son propre domaine, la route servant de quai aux voyageurs
(consid. 3).
3. Art. 269 al. 1 PPF. La Cour de cassation doit-elle revoir les questions
préjudicielles de droit fédéral qui se posent à l'autorité cantonale lors de
l'appréciation des preuves? (consid. 4).
1. Art. 61 e 46 RLA. Concetto della ferrovia su strada e dell'oltre-passare
(consid. 1 e 2).
2. Art. 25 cp. 1 LA. Doveri del conducente di un autoveicolo che oltrepassa un
treno fermo sul proprio tracciato, la strada servendo di marciapiede per i
viaggiatori (consid. 3).
3. Art. 269 cp. 1 PPF. La Corte di cassazione deve riesaminare le questioni
pregiudiziali di diritto federale che si pongono all'autorità cantonale
nell'applicazione del diritto processuale cantonale (apprezzamento delle
prove)? (consid. 4).

A. - Oswald führte am 15. Januar 1950 bei Nacht und dichtem Nebel auf der
Fahrt von Teufen gegen St. Gallen ein Personenautomobil an einem bei der
Haltestelle Sternen stehenden Zug der elektrischen Bahn St.
Gallen-Gais-Appenzell vorbei. Die Bahn verläuft auf weite Strecken der Strasse
entlang. Bei der Haltstelle Sternen befindet sich der

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Bahnkörper, in der Richtung gegen St. Gallen gesehen, rechts der Strasse, die
Billetausgabe dagegen links derselben. Da die Trittbretter über den
beschotterten Bahnkörper hinaus reichen, steigen die Fahrgäste unmittelbar vom
Zug auf die Strasse aus und von der Strasse in den Zug ein. Als Oswald
durchfuhr, bestiegen sehr viele Leute den Zug.
B. - Am 4. Mai 1950 verurteilte das appenzell-ausserrhodische Bezirksgericht
Mittelland Oswald wegen Übertretung von Art. 61 Abs. 3 und Art. 46 Abs. 3 MFV
zu Fr. 10.- Busse. Es stellte fest, die Behauptung des Beschuldigten, langsam
gefahren zu sein, stehe im Widerspruch zum bahnpolizeilichen Rapport, in dem
nicht nur von einer schnellen, sondern von einer rücksichtslosen Fahrweise die
Rede sei. Es ging von der Auffassung aus, Oswald hätte der haltenden Bahn, die
eine Strassenbahn sei, nur im Schrittempo vorfahren dürfen und hätte in
vorsichtiger Fahrt auf die ein- und die aussteigenden Fahrgäste des Zuges
Rücksicht nehmen sollen.
C. - Oswald führt Nichtigkeitsbeschwerde mit den Anträgen, das Urteil sei
aufzuheben und die Sache zur Freisprechung des Beschwerdeführers, eventuell zu
ergänzender Untersuchung, an das Bezirksgericht zurückzuweisen.
D. - Die Justizdirektion des Kantons Appenzell-Ausserrhoden beantragt, auf die
Nichtigkeitsbeschwerde sei nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.- Art. 61 MFV regelt das Verhalten der Motorfahrzeuge gegenüber den
Strassenbahnen. Strassenbahn ist ein an Schienen gebundenes Verkehrsmittel
immer dort, wo es die Strasse als Verkehrsweg benutzt. Diese Voraussetzung
kann sowohl auf Bahnen zutreffen, die dem Verkehr auf kurze Strecken innerhalb
einer Stadt oder grösseren Ortschaft dienen, als auch auf solche, die den
Fernverkehr von Ortschaft zu Ortschaft besorgen und nur streckenweise auf der
Strasse, streckenweise dagegen neben derselben oder quer durch das Gelände auf
eigenem Körper fahren. Der französische Text der Verordnung nennt denn auch
sowohl die «tramways» als auch die «chemins de fer

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routiers». Eine Bahn wird aber nicht schon dadurch schlechthin zur
Strassenbahn, dass sie irgendwo auf der Strasse fährt; sie ist es nur gerade
auf der Strecke, wo diese Voraussetzung zutrifft, während dort, wo sie auf
eigenem Körper verläuft, Art. 61 MFV nicht gilt. Das ergibt sich daraus, dass
die Vorschriften dieses Artikels auf Verhältnisse zugeschnitten sind, wo Bahn
und Motorfahrzeuge sich auf dem gleichen Verkehrsweg (Strasse) bewegen. Dort
wo die Bahn auf eigenem Körper neben der Strasse oder durch das Gelände fährt,
passen sie nicht, ja würde ihre Anwendung sinnlos, so wenn Abs. 1 von der
Freigabe des Geleises beim Herannahen der Strassenbahn spricht, Abs. 2 vom
Ausweichen auf die vom Schienenfahrzeug nicht beanspruchte Strassenseite, Abs.
3 vom Rechts- oder Linksüberholen, Abs. 4 von Schutzinseln, Schutzzonen und
vom Gradausfahren bei freiem Geleise, Abs. 5 vom Aufschliessen an fahrende und
haltende Strassenbahnen. Zur Strassenbahn wird ein Verkehrsmittel auch nicht
schon dadurch, dass es mit der Strasse, ohne sie als Verkehrsweg zu benützen,
irgendwie in Berührung kommt, z. B. indem es sie überquert oder indem es sie
als Aussteigeperron benützt. Es ist auch gar nicht nötig, wegen solcher
Verhältnisse Art. 61 MFV anzuwenden. Wo sich die Interessen des
Motorfahrzeugverkehrs und des Bahnverkehrs an solchen Berührungspunkten
widerstreiten, schafft schon die allgemeine Bestimmung des Art. 25 Abs. 1 MFG
Ordnung. Dass diese Bestimmung dem Motorfahrzeugführer gebietet, unter anderem
auch auf den Bahnverkehr Rücksicht zu nehmen, ergibt sich schon daraus, dass
sie das Verhalten an Bahnübergängen ausdrücklich erwähnt. Es ist also nicht
so, dass der Motorfahrzeugführer mangels zutreffender besonderer Bestimmungen
auf die Interessen der Bahn überhaupt nicht Rücksicht zu nehmen hätte. Art. 61
MFV ist denn auch blosse Ausführungsbestimmung zu den Vorschriften des
Motorfahrzeuggesetzes, insbesondere des Art. 25 Abs. 1 MFG. Fahrgäste der
Bahn, die auf die Strasse aussteigen oder von dieser aus den Zug besteigen,

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sind übrigens insofern Strassenbenützer, «Publikum», wie Art. 25 Abs. 1 MFG
sagt, und geniessen schon aus diesem Grunde den Schutz des Gesetzes.
Der Beschwerdeführer ist daher zu Unrecht nach Art. 61 Abs. 3 MFV verurteilt
worden. Die Bahn St. Gallen-Gais-Appenzell verkehrt bei der Haltstelle Sternen
nicht auf der Strasse, sondern die Schienen sind auf einem neben der Strasse
verlaufenden besonderen Körper angebracht, der von den Strassenfahrzeugen
nicht benützt wird. Dass die Trittbretter der Wagen auf die Strasse hinaus
ragen, ist unerheblich, wie auch nichts darauf ankommt, ob, wie die
Justizdirektion behauptet, der Bahnkörper vom strassenseitigen Schienenkopf an
auf das Niveau der Strasse ausgeebnet ist.
2.- Ebensowenig ist Art. 46 MFV anwendbar, auf den Art. 61 Abs. 3 MFV
ergänzend verweist. Das Überholen im Sinne des Art. 46 besteht wie dasjenige
des Art. 61 Abs. 3 darin, dass ein Fahrzeug die ihm zukommende rechte
Strassenseite ganz oder teilweise verlässt, um einem andern, das sich vor ihm
auf der gleichen Fahrbahn befindet, vorzufahren und hernach wieder nach rechts
einzubiegen. Überholt werden kann nach dem Wesen dieses Verkehrsvorganges nur
ein Fahrzeug, das sich auf der Strasse befindet, nicht auch eines, das neben
derselben steht oder fährt, wie das bei der Bahn St. Gallen-Gais-Appenzell an
der Haltestelle Sternen zutrifft.
3.- Art. 25 Abs. 1 MFG gebietet dem Führer, die Geschwindigkeit seines
Fahrzeuges den gegebenen Strassen- und Verkehrsverhältnissen anzupassen,
überall da, wo das Fahrzeug Anlass zu Verkehrsstörung, Belästigung des
Publikums oder Unfällen bieten könnte, den Lauf zu mässigen oder nötigenfalls
anzuhalten. Darnach muss unter Verhältnissen, wie sie bei der Haltestelle
Sternen vorliegen, im Schrittempo gefahren oder je nach Umständen sogar
angehalten werden, denn die Verhältnisse sind gleich oder ähnlich wie im Falle
des Art. 61 Abs. 3 Satz 2 MFV: der Motorfahrzeugführer muss darauf gefasst
sein, dass Leute,

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deren Aufmerksamkeit vorwiegend auf die Bahn gerichtet ist, die Strasse
betreten.
4.- Das Bezirksgericht umschreibt die Geschwindigkeit, mit welcher der
Beschwerdeführer bei der Haltstelle Sternen vorbeigefahren ist, weder
ziffernmässig noch sonstwie mit greifbaren Angaben, und den Schluss, es seien
Fahrgäste gefährdet worden, zieht es lediglich aus der Feststellung, dass er
rücksichtslos durchgefahren sei. Das ist recht dürftig. Allein es ist nicht
so, dass es das Durchfahren nur deshalb als rücksichtslos bezeichnen würde,
weil der Beschwerdeführer nicht angehalten bat. Ob der Bahnpolizei-Rapport mit
der Wendung, der Automobilist sei «in rücksichtsloser Weise durchgefahren),
sagen wollte, die Rücksichtslosigkeit bestehe darin, dass er überhaupt
durchgefahren sei statt anzuhalten, hat der Kassationshof nicht zu prüfen. Die
Vorinstanz hat den Rapport anders ausgelegt, nämlich dahin, dass der
Beschwerdeführer nicht nur schnell, sondern rücksichtslos schnell
durchgefahren sei. Der Kassationshof ist an diese tatsächliche Feststellung
gebunden (Art. 277bis Abs. 1 BStP). Sie kann im Beschwerdeverfahren nicht
angefochten werden (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP), weder mit der Rüge, der
Bahnkondukteur, auf dessen Meldung der Rapport beruht, sei nie persönlich
einvernommen worden, noch mit der Rüge, es sei nicht geprüft worden, ob der
Rapport wirklich bahnpolizeilichen Charakter habe. Ob der Kondukteur
persönlich einzuvernehmen war, hing vom kantonalen Prozessrecht ab, dessen
Anwendung der Kassationshof nicht zu überprüfen hat (Art. 269 Abs. 1 BStP). Ob
der Rapport bahn-polizeilichen Charakter hat, ist zwar eine bundesrechtliche
Vorfrage, die aber die Beweiswürdigung nicht notwendig beeinflusst; die
Vorinstanz konnte, ohne Bundesrecht zu verletzen, auf den Rapport auch
abstellen, wenn er nicht bahnpolizeilicher Natur ist. Daher unterliegt die
Entscheidung dieser Vorfrage ebenfalls nicht der Nichtigkeitsbeschwerde (BGE
72 IV 4773 IV 134 Erw. 3 und 4).
Ist demnach davon auszugehen, dass der

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Beschwerdeführer mit rücksichtsloser Geschwindigkeit an der Haltestelle
Sternen vorbeigefahren ist, so hat er Art. 25 Abs. 1 MFG übertreten. Unter der
rücksichtslosen Geschwindigkeit kann nur eine solche gemeint sein, die auf die
in die Bahn einsteigenden Leute überhaupt nicht Rücksicht nahm; der
Beschwerdeführer ist so schnell gefahren, wie wenn überhaupt kein Publikum da
gewesen wäre. Das war auf alle Fälle unzulässig, wenn man berücksichtigt, dass
Nacht und dichter Nebel herrschte und nach dem Rapport, den die Vorinstanz im
vollen Umfange für glaubwürdig hält, «sehr viele Fahrgäste im Begriffe waren,
in den Zug einzusteigen. Ob die Haltstelle durch Signale gekennzeichnet ist
oder nicht, spielt keine Rolle, wie auch dahingestellt bleiben kann, ob von
Teufen her die Sicht bis kurz vor der Haltstelle durch Biegungen der Strasse
verdeckt ist, wie der Beschwerdeführer behauptet. Der Führer eines
Motorfahrzeuges hat so zu fahren, dass er auch dort, wo eine Biegung die Sicht
verdeckt, vor einem allenfalls auftauchenden Hindernis rechtzeitig die Fahrt
verlangsamen oder anhalten kann. Dass der Beschwerdeführer, wenn er diesen
Grundsatz befolgte, den haltenden Zug und das Publikum nicht rechtzeitig sehen
konnte, um seine Fahrt genügend verlangsamen zu können, behauptet er nicht,
wie er auch nicht geltend macht, er habe beim Anblick der Haltstelle den
Versuch unternommen, die Fahrt zu verlangsamen, er sei ihm aber der
Verhältnisse wegen missglückt.
5.- Aus der ausserrhodischen Strafprozessordnung ergibt sich nicht, dass die
Vorinstanz aus prozessualen Gründen an Stelle der Art. 61 und 46 MFV nicht
Art. 25 Abs. 1 MFG anwenden dürfte, und die veränderte rechtliche Würdigung
würde sie auch nicht veranlassen, die Busse von Fr. 10.- herabzusetzen,
umsoweniger als der angedrohte Strafrahmen (Art. 58 Abs. 1 MFG) der gleiche
bleibt. Die Nichtigkeitsbeschwerde ist daher abzuweisen.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 76 IV 249
Datum : 01. Januar 1949
Publiziert : 20. Oktober 1950
Quelle : Bundesgericht
Status : 76 IV 249
Sachgebiet : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Gegenstand : 1. Art. 61 und 46 MFV. Begriffe der Strassenbahn und des Überholens (Erw. 1 und 2).2. Art. 25 Abs...


Gesetzesregister
BStP: 269  273  277bis
MFV: 46  61
BGE Register
76-IV-249
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
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