S. 111 / Nr. 19 Staatsverträge (d)

BGE 76 I 111

19. Urteil vom 7. Juni 1950 i. S. Wolfe gegen Frei und Mitbeteiligte und
Obergericht des Kantons Thurgau.

Regeste:
Stellung des Ausländers in der Schweiz. Unentgeltliche Prozessführung.
Steht der bundesrechtliche, aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV folgende Anspruch auf unentgeltliche
Prozessführung auch dem im Ausland wohnhaften Ausländer zu? (Erw. 2).
Nach Art. 1 des Staatsvertrages zwischen der Schweiz und den Vereinigten
Staaten von Nordamerika von 1850/55 hat der (in der Schweiz oder im Ausland
wohnhafte) Amerikaner in den Kantonen grundsätzlich Anspruch auf gleiche
Behandlung wie Schweizerbürger anderer Kantone, weshalb ihm auch der
bundesrechtliche Armenrechtsanspruch zusteht (Erw. 3).
Situation de l'étranger en Suisse. Assistance judiciaire gratuite.
Le droit à l'assistance judiciaire gratuite, dérivant de l'art. 4 Cst.,
appartient-il aussi à l'étranger domicilié à l'étranger? (consid. 2).
D'après l'art. 1 er du traité entre la Suisse et les Etats-Unis de l'Amérique
du Nord de 1850/1855, le citoyen américain (domicilié en Suisse 011 à
l'étranger) a le droit d'être traité dans un canton de la même manière que les
Confédérés d'autres cantons. C'est pourquoi il doit bénéficier aussi de
l'assistance judiciaire gratuite de droit fédéral (consid. 3).
Situazione dello straniero in Isvizzera. Assistenza giudiziaria gratuita.
Il diritto all'assistenza giudiziaria gratuita derivante dall'art. 4 CF spetta
anche allo straniero domiciliato all'estero? (consid. 2).
Giusta l'art. 1 del trattato del 1850/1855 tra la Svizzera e gli Stati Uniti
dell'America del Nord, il cittadino americano (domiciliato in Isvizzera o
all'estero) ha il diritto di essere trattato in un Cantone nello stesso modo
che i Confederati d'altri Cantoni deve quindi beneficiare anche
dell'assistenza giudiziaria gratuita garantita dal diritto federale (consid.
3).


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A. - Der deutsche Staatsangehörige Sally Wolfe wohnte von 1935 bis zu seinem
am 7. September 1946 erfolgten Tode in Zihlschlacht (Kt. Thurgau) und war dort
wegen Geisteskrankheit bevormundet. Seine Erben, die Ehefrau Ida Wolfe und der
Sohn John E. Wolfe, waren im Jahre 1 940 nach New York ausgewandert und
amerikanische Bürger geworden. Am 7. Oktober 1940 leiteten sie beim
Bezirksgericht Weinfelden gegen Alfred Frei, Vormund des verstorbenen Sally
Wolfe, gegen die Mitglieder der Vormundschaftsbehörde Zihlschlacht und der
Aufsichtsbehörde sowie gegen die Munizipalgemeinde Zihlschlacht eine
Verantwortlichkeitsklage auf Bezahlung von Fr. 133805.90 ein mit der
Begründung, die Beklagten seien nach Vormundschaftsrecht verantwortlich für
den Verlust, der im Mündelvermögen deshalb eingetreten sei, weil es
ausschliesslich in französischen Staatspapieren angelegt worden sei und sich
infolge der verschiedenen Abwertungen der französischen Währung von Fr.
139547.90 im November 1936 auf Fr. 4228.65 im November 1946 vermindert habe.
Als die Beklagten hierauf verlangten, die Kläger seien gemäss § 97 thurg. ZPO
zur Leistung einer Prozesskaution von Fr. 10000. zu verhalten, kamen die
Kläger um Bewilligung der (nach § 104 ZPO von jeder Kautionspflicht
befreienden) unentgeltlichen Prozessführung ein. Die Beklagten machten
demgegenüber geltend, der Prozess sei aussichtslos, die Kläger seien nicht
bedürftig und sie hätten als in Amerika wohnende Amerikaner keinen Anspruch
auf unentgeltliche Prozessführung. Das Bezirksgericht Weinfelden und das
Obergericht des Kantons Thurgau, dieses durch Beschluss vom 20. Dezember 1949,
wiesen das Gesuch um Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung ab und
auferlegten den Klägern eine Prozesskaution von Fr. 5000. das Obergericht mit
folgender Begründung:
Nach § 103 Abs. 4 ZPO hätten Ausländer auf unentgeltliche Prozessführung nur
Anspruch, wenn ihnen dieses

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Recht durch die Bundesgesetzgebung oder durch Staatsverträge oder
Gegenrechtserklärungen eingeräumt sei. Die Kläger beriefen sich auf Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV
und auf den Schweizerisch-amerikanischen Staatsvertrag von 1850/55, der in
Art. 1 Ausführungen über den freien Zutritt der beidseitigen Staatsangehörigen
zu den Gerichten enthalte. In BGE 60 I 220 ff. werde angenommen, dass dieser
Staatsvertrag eine Kautionspflicht bei fehlendem Wohnsitz in der Schweiz nicht
ausschliesse. Entscheidend für diese Auslegung sei gewesen, dass
Schweizerische Urteile in den Vereinigten Staaten nicht vollstreckt werden
können. Urteilsvollstreckung, vor allem in Bezug auf die Kosten, und
Kautionspflicht ständen in untrennbarem Zusammenhang. Dass die
free-access-Klausel des Staatsvertrages auch für amerikanische Bürger mit
Wohnsitz in Amerika gelte, habe das Bundesgericht im erwähnten Entscheid
bejaht. Dagegen sei umstritten, ob die Klausel auch in Bezug auf das
Armenrecht die Gleichstellung mit Schweizerischen Staatsangehörigen bedeute.
Entscheidend sei wiederum, ob Schweizerische Kostenentscheide am Wohnsitz der
Kläger, im Staate New York, vollstreckt werden können, denn nur dann könne von
wirklicher Gleichbehandlung der beidseitigen Staatsangehörigen gesprochen
werden. Das sei aber nach einer Auskunft der eidg. Justizabteilung vom 24.
November 1949 nicht der Fall. Die Verweigerung des Armenrechts gegenüber einem
in den Vereinigten Staaten wohnenden Bürger dieses Landes stelle freilich eine
Rechtsverweigerung dar, jedoch keine einseitige, da auf der andern Seite als
ebensolche Rechtsverweigerung die Unmöglichkeit der Vollstreckung des
Schweizerischen Kostenspruchs im Heimat Staat des Klägers stehe. Unter diesen
Umständen verstosse die Verweigerung des Armenrechts im vorliegenden Falle
weder gegen Bundesrecht noch gegen das kantonale Prozessrecht. «Der
Vollständigkeit halber» werde festgestellt, dass die übrigen Voraussetzungen
des Armenrechts nach Auffassung des Obergerichts erfüllt seien: die

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Bedürftigkeit der Kläger sei hinreichend dargetan: auch könne der eingeleitete
Prozess nicht als offenbar aussichtslos oder mutwillig bezeichnet werden.
B. - Gegen diesen Entscheid haben Ida und John E. Wolfe recht zeitig
staatsrechtliche Beschwerde erhoben mit dem Antrag, es sei ihnen die
unentgeltliche Prozessführung zu bewilligen. Zur Begründung wird vorgebracht
Der Anspruch auf unentgeltliche Prozessführung bestehe unabhängig von der
kantonalen Gesetzgebung schon kraft Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV (BGE 60 I 179, 58 I 285). Auf
Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV aber könne sieh auch der Ausländer berufen (BGE 41 I 148/49, 40 I
15
/16, 51 I 102). So habe das Bundesgericht denn auch auf Grund von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV
einem nach Amerika ausgewanderten Schweizer das Armenrecht bewilligt (BGE 58 I
285
), ebenso grundsätzlich auch einem Russen (BGE 55 I 289). Somit hätten auch
die Beschwerdeführer einen bundesrechtlichen Anspruch auf Bewilligung der
unentgeltlichen Prozessführung. Diesen Anspruch hätten sie als in Amerika
wohnende Amerikaner zudem auch nach dem Schweizerisch-amerikanischen
Staatsvertrag von 1850/55, denn der den Amerikanern in Art. 1 zugesicherte
freie Zugang zu den Schweizerischen Gerichten schliesse auch das Armenrecht
ein. In den Vereinigten Staaten werde Ausländern die unentgeltliche
Prozessführung durchwegs gewährt, sodass Gegenseitigkeit bestehe. Das eidg.
Justiz- und Polizeidepartement habe am 27. Oktober 1948 bestätigt, dass die
Gesetze des Staates New York hinsichtlich der Gewährung der unentgeltlichen
Prozessführung keinerlei Unterscheidung machten nach der Staatsangehörigkeit
oder dem Wohnsitzland des Gesuchstellers. Dass Schweizerische Urteile in den
Vereinigten Staaten nicht vollstreckt würden, treffe nicht zu; nach einem
Aufsatz von Nussbaum in Bd. 1947 der Columbia Law Review sei im Jahre 1935,
also nach dem Entscheid BGE 60 I 220 ff., ein Urteil des bernischen
Handelsgerichts in New York vollstreckt worden. Die unentgeltliche
Prozessführung werde übrigens der bedürftigen Partei um

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ihrer selbst willen gewährt eine Garantie für die Gegenpartei, dass sie im
Falle des Obsiegens für ihre Unkosten gedeckt werde, sei eine contradietio in
adjecto.
C. - Das Obergericht des Kantons Thurgau beantragt die Abweisung der
Beschwerde und verweist auf den angefochtenen Entscheid.
Die Beschwerdebeklagten, Alfred Frei und Mitbeteiligte, beantragen gleichfalls
die Abweisung der Beschwerde. Sie machen geltend, dass der
Schweizerisch-amerikanische Staatsvertrag nur anwendbar sei auf Angehörige des
einen Staates, die im andern wohnen; ferner bestreiten sie, dass der freie
Zugang zu den Gerichten auch Anspruch auf das Armenrecht gebe. Übrigens seien
die (vom Bundesgericht frei überprüfbaren) Voraussetzungen für die Bewilligung
des Armenrechts nicht erfüllt denn die Bedürftigkeit der Beschwerdeführer sei,
da nicht durch ein amtliches Zeugnis bestätigt, nicht erwiesen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Auf Grund des thurgauischen Rechtes selber können die Beschwerdeführer die
unentgeltliche Prozessführung nicht beanspruchen, denn nach § 103 Abs. 4
thurg. ZPO können - von hier nicht in Betracht fallenden
Gegenrechtserklärungen des Kantons Thurgau mit ausländischen Staaten abgesehen
- die Ausländer das Armenrecht nur verlangen, wenn ihnen das Recht darauf
bereits von Bundesrechts wegen oder auf Grund eines Staatsvertrages zusteht.
2.- Nach der ständigen, in BGE 57 I 343 ff. ausführlich begründeten
Rechtsprechung des Bundesgerichts ergibt sich schon aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV, dem hier
jedem Bürger gewährleisteten staatlichen Rechtsschutz, dass eine bedürftige
Partei in einem für sie nicht aussichtslosen Zivilprozess verlangen kann, dass
der Richter sein Tätigwerden nicht von der vorhergehenden Erlegung oder
Sicherstellung von Kosten abhängig macht (vgl. auch BGE 61 I 101 und 69 I 159
sowie die in diesen Urteilen angeführten

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weiteren Entscheide). Das Bundesgericht hat diesen unmittelbar aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV
folgenden Armenrechtsanspruch als selbstverständlich die Frage war überhaupt
nicht streitig) ohne weiteres auch einem im Ausland wohnenden Schweizer (BGE
58 I 288) sowie einem in der Schweiz wohnenden Ausländer (nicht veröffentlicht
es Urteil vom 5. Dezember 1946 i. S. Masraff) zuerkannt. Es liegt daher nahe,
ihn auch dein im Ausland wohnenden Ausländer zuzugestehen. Wie in BGE 41 I 148
/49 ausgeführt worden ist. erfordert schon das Wesen des modernen
Rechtsstaates die grundsätzliche Gleichstellung des Ausländers mit dem
Inländer auf dem Gebiete der Rechtspflege, weshalb selbst der im Ausland
wohnende Ausländer auf Grund von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV Anspruch auf Schutz vor formeller
Rechtsverweigerung und willkürlicher Rechtsprechung hat. Die Verweigerung des
Armenrechts ist aber, als Verweigerung des staatlichen Rechtsschutzes, eine
formelle Rechtsverweigerung. Nicht zu verkennen ist allerdings. dass es sieh
dabei um eine Rechtsverweigerung besonderer Art handelt, denn die Bewilligung
der unentgeltlichen Prozessführung stellt zwar keine Armenunterstützung dar
(auf welche der Ausländer in der Schweiz aus dem Gesichtspunkt der
Rechtsgleichheit keinen Anspruch hat nicht veröffentlichtes Urteil des
Bundesgerichts vom 24. November 1941 i. S. Masraff), nähert sieh aber, wie
schon die Bezeichnung Armenrecht» zeigt, doch einer solchen und wurde denn vom
Bundesgericht auch schon als "Akt besonderer Fürsorge" bezeichnet (BGE 16 S.
331). Auch ist zuzugeben, dass die Gewährung des Armenrechts an im Ausland
wohnende Ausländer jedenfalls dann zu einer mit Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV nicht ganz im
Einklang stehenden Bevorzugung des Ausländers führt, wenn Schweizerische
Kostenurteile in seinem Wohnsitzstaat nicht vollstreckt werden. Ob und unter
welchen Voraussetzungen im Ausland wohnhafte Ausländer unmittelbar aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.

BV Anspruch auf Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung haben, braucht
jedoch nicht entschieden zu werden, da im

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vorliegenden Falle die Beschwerdeführer die Gleichstellung mit in der Schweiz
wohnenden Schweizern, wie die nachfolgenden Erwägungen ergeben, schon auf
Grund des Schweizerisch-amerikanischen Staatsvertrages von 1850/55 verlangen
können.
3.- Die Beschwerdebeklagten wenden ein, dass die in Art. 1 des Staatsvertrages
gewährleistete Gleichbehandlung nur den im einen Staate niedergelassenen
Angehörigen des andern Staates zugesichert werde, in der Schweiz also von in
Amerika wohnenden Amerikanern nicht beansprucht werden könne. Ein solcher
Vorbehalt ist indessen, wie bereits in BGE 60 I 225 ausgeführt wurde, dem
Staatsvertrag nicht zu entnehmen, bestimmt doch dieser in Abs. 1 des Art. 1
ganz allgemein, dass die Bürger der Vereinigten Staaten und der Schweiz in
beiden Ländern auf dem Fusse gegenseitiger Gleichheit zu behandeln sind. Es
besteht kein Bedenken, die im erwähnten Urteil schliesslich offen gelassene
Frage, ob der Staatsvertrag auch auf die nicht im andern Lande
niedergelassenen Angehörigen des einen Landes anwendbar sei, zu bejahen.
Die Beschwerdeführer leiten den Anspruch auf Bewilligung der unentgeltlichen
Prozessführung in der Schweiz aus Art. 1 Abs. 2 des Staatsvertrages, dem dort
gewährleisteten freien Zutritt zu den Gerichten ab. Ob diese in zahlreichen
Staatsverträgen enthaltene Zusicherung des «libre accès aux tribunaux» die
Gewährung des Armenrechts einschliesst, ist umstritten. Die Frage wird bejaht
von SCHURTER-FRITZSCHE, Zivilprozessrecht des Bundes, S. 592/93; LEUCH, Nr. 2
zu Art. 77bis
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
bern. ZPO WEISS, Traité de droit international privé, 2. Aufl.
Bd. 5 S. 573 ff.; KÖSTLER, Freies Gericht und Sicherheitsleistung für
Prozesskosten, Juristische Wochenschrift 1930 II S. 1804; RIEZLER,
Internationales Zivilprozessrecht, S. 442; anderer Ansicht sind HARTMANN,
Stellung der Ausländer im Schweiz. Bundesstaatsrecht, ZSR N. F. Bd. 26 S.
157/58; SCHNITZER, Handbuch des IPR, S. 642; NUSSBAUM, IPR S. 404 ff.; CLUZEL,
Rép. du

Seite: 118
droit international, Bd. 2 S. 89. Welche Auffassung den Vorzug verdient,
braucht jedoch nicht entschieden zu werden.
Die in Art. 1 Abs. 2 des Staatsvertrages enthaltene Aufzählung von Rechten,
die den Angehörigen des einen Staates im andern zustehen, ist keine
abschliessende, sondern führt nur damaliger Gepflogenheit entsprechend; vgl.
hiezu BBl 1868 III 434 - die hauptsächlichsten Anwendungsfälle des in Abs. 1
aufgestellten allgemeinen Grundsatzes der Gleichbehandlung auf (BBl 1850 III
731
/32). Dieser allgemeine Grundsatz gegenseitiger Gleichbehandlung aber
besagt nichts anderes, als dass die Amerikaner (Schweizer) in jedem Kanton
(Unionsstaates) wie die Angehörigen eines andern Kantons (Unionsstaates) zu
behandeln sind. Das ergibt sich sowohl aus der Entstehungsgeschichte des
Staatsvertrages wie auch aus dein Wortlaut von Art. 1. Der (im Entwurf etwas
anders lautende) Abs. 1 enthielt ursprünglich den Zusatz, dass «in der Schweiz
die Bürger der Vereinigten Staaten in jedem Kanton auf dem nämlichen Fusse und
unter den nämlichen Bedingungen aufgenommen und behandelt werden, wie
Schweizerbürger, die in einem an dem Kanton der Eidgenossenschaft ursprünglich
heimatberechtigt oder Angehörige desselben sind e, und das gleiche war für die
Schweizer in den Unionsstaaten vorgesehen (BBl 1850 III 731, 758). Dieser
Zusatz stiess indessen bei den amerikanischen Behörden, die eine weitergehende
Gleichstellung wünschten, auf Widerstand, während anderseits der Bundesrat
nicht bereit war, den Amerikanern in den Kantonen die Stellung der eigenen
Kantonsbürger einzuräumen (BBl 1855 S. 41 ff.). Die sich hieraus ergebenden
Schwierigkeiten wurden dadurch beseitigt, dass jener Zusatz weggelassen und
Abs. 1 des Art. 1 anders gefasst wurde. Dass damit am Grundsatz, dass der
Amerikaner in den Kantonen (mindestens) die Stellung eines Bürgers eines
andern Kantons einnehmen sollte, nichts geändert wurde, muss vor allem auch
aus Abs. 3 von Art. 1 geschlossen werden,

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der als einzige Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz der Gleichbehandlung - von
den dem Staatsbürger vorbehaltenen politischen Rechten abgesehen - die nach
Art. 43 Abs. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 43 Aufgaben der Kantone - Die Kantone bestimmen, welche Aufgaben sie im Rahmen ihrer Zuständigkeiten erfüllen.
BV auch den Bürgern anderer Kantone grundsätzlich nicht
zukommende Teilnahme an den Gemeinde-, Korporations- und Stiftungsgütern
nennt. Dass der amerikanische Bürger in der Schweiz auf Grund von Art. 1 des
Staatsvertrages Anspruch auf die gleiche Behandlung wie die Schweizerbürger
anderer Kantone habe, ist denn auch vom Bundesgericht schon früher anerkannt
worden (BGE 2, 256; 23 I 396; im gleichen Sinne wird Art. 1 des
Staatsvertrages auch von NUSSBAUM, IPR S. 493/4 ausgelegt; vgl. ferner
BURCKHARDT, Bundesrecht Bd. IV Nr. 1860 und 1863). Von dieser Gleichstellung
der Amerikaner mit den Bürgern anderer Kantone ausgehend, hat das
Bundesgericht in BGE 23 I 490 ff., insbesondere Erw. 5, einem in Amerika
wohnenden Amerikaner die Berufung auf Art. 46 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 46 Umsetzung des Bundesrechts - 1 Die Kantone setzen das Bundesrecht nach Massgabe von Verfassung und Gesetz um.
1    Die Kantone setzen das Bundesrecht nach Massgabe von Verfassung und Gesetz um.
2    Bund und Kantone können miteinander vereinbaren, dass die Kantone bei der Umsetzung von Bundesrecht bestimmte Ziele erreichen und zu diesem Zweck Programme ausführen, die der Bund finanziell unterstützt.10
3    Der Bund belässt den Kantonen möglichst grosse Gestaltungsfreiheit und trägt den kantonalen Besonderheiten Rechnung.11
BV, das Verbot
interkantonaler Doppelbesteuerung, zugestanden und erklärt, dass er der
Steuerhoheit des betreffenden Kantons nur dann unterliegen würde, wenn ihr ein
in einem andern Kanton wohnhafter Schweizer unterläge (was in jenem Falle
nicht zutraf). Daraus würde ohne weiteres folgen, dass der in Amerika
wohnhafte Amerikaner, der in einem Schweizer Kanton einen Prozess führt, das
Armenrecht gleich dem in einem andern Kanton wohnhaften Schweizerbürger
unmittelbar auf Grund von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV verlangen kann. Nun gewährleistet aber
Art. 1 Abs. 1 des Staatsvertrages die Gleichbehandlung unter dem Vorbehalt,
dass diese «nicht mit verfassungsmässigen oder gesetzmässigen Bestimmungen
sowohl der beiden Konföderationen, als der einzelnen. Staaten der
kontrahierenden Teile in Widerspruch steht». Hieraus könnte für den
vorliegenden Fall geschlossen werden, dass die Beschwerdeführer, da eine
thurgauische Gesetzesbestimmung, nämlich § 103 Abs. 4 ZPO, dem Ausländer den
Anspruch auf unentgeltliche Prozessführung grundsätzlich

Seite: 120
abspricht, dieses auch auf Grund des Staatsvertrages nicht verlangen können.
Die Bedeutung des Vorbehaltes der einheimischen Gesetzgebung, auf den auch in
BGE 60 I 228 verwiesen wird, ist indessen unklar (vgl. hiezu BURCKHARDT,
Bundesrecht Bd. IV Nr. 1863/64). Keinesfalls kann der Vorbehalt den Sinn
haben, dass die Kantone befugt wären, auf dem Gesetzeswege jede beliebige
Schlechtstellung des amerikanischen Staatsbürgers einzuführen, da damit die im
Staatsvertrag gewährleistete Gleichbehandlung amerikanischer und
Schweizerischer Bürger weitgehend illusorisch würde (vgl. die dahingehenden
Befürchtungen der nationalrätlichen Kommission über die Bedeutung des
Vorbehalts für die Stellung der Schweizer in den amerikanischen Unionsstaaten,
BBl 1855 II 424 ff.). Die richtige Lösung dürfte darin zu finden ein, dass das
kantonale Gesetzesrecht die Amerikaner in der Schweiz nur insoweit schlechter
als die eigenen Kantonsbürger behandeln darf, als eine entsprechende
Schlechterstellung von Angehörigen anderer Kantone vor dem Bundesrecht Bestand
hätte. Geht man hievon aus, so erscheint das (allerdings auf einer andern
Auslegung von Art. 1 des Staatsvertrages beruhende) Urteil BGE 60 I 220 ff.,
wonach der Staatsvertrag den in Amerika wohnhaften Amerikaner nicht von der
Entrichtung einer Prozesskaution befreie, als richtig, denn Art. 60
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 60 Organisation, Ausbildung und Ausrüstung der Armee - 1 Die Militärgesetzgebung sowie Organisation, Ausbildung und Ausrüstung der Armee sind Sache des Bundes.
1    Die Militärgesetzgebung sowie Organisation, Ausbildung und Ausrüstung der Armee sind Sache des Bundes.
2    ...19
3    Der Bund kann militärische Einrichtungen der Kantone gegen angemessene Entschädigung übernehmen.
BV
verbietet den Kantonen nicht, ausserhalb des Kantons wohnende Schweizerbürger
zur Leistung einer Prozesskaution zu verpflichten (BURCKHARDT, Komm. zur BV S.
569 bei Anm. 4). Dagegen muss das Armenrecht auf Grund von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
und 60
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 60 Organisation, Ausbildung und Ausrüstung der Armee - 1 Die Militärgesetzgebung sowie Organisation, Ausbildung und Ausrüstung der Armee sind Sache des Bundes.
1    Die Militärgesetzgebung sowie Organisation, Ausbildung und Ausrüstung der Armee sind Sache des Bundes.
2    ...19
3    Der Bund kann militärische Einrichtungen der Kantone gegen angemessene Entschädigung übernehmen.
BV
den Angehörigen (Bürgern und Einwohnern) anderer Kantone unter den gleichen
Bedingungen und mit den gleichen Wirkungen wie den eigenen Angehörigen gewährt
werden und kann daher auch dem in Amerika wohnenden Amerikaner nicht
vorenthalten werden.
4.- Da das Obergericht den Beschwerdeführern das Armenrecht nicht deshalb
verweigern durfte, weil sie

Seite: 121
Amerikaner sind und in Amerika wohnen, ist der angefochtene Entscheid
aufzuheben. Dem weitergehenden Begehren der Beschwerdeführer um Bewilligung
der unentgeltlichen Prozessführung kann nicht entsprechen werden, weil die
(von hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen abgesehen) rein kassatorische
Natur der staatsrechtlichen Beschwerde positive Anordnungen des
Bundesgerichtes ausschliesst. Ebensowenig hat sich das Bundesgericht mit dem
von den Beschwerdebeklagten erhobenen Einwand zu befassen, dass die übrigen
Voraussetzungen des Armenrechts, insbesondere die Bedürftigkeit, nicht
vorlägen. Das Obergericht wird über die Bewilligung des Armenrechts an die
Beschwerdeführer neu zu befinden haben.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Beschluss des
Obergerichts des Kantons Thurgau vom 20. Dezember 1949 aufgehoben wird.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 76 I 111
Datum : 01. Januar 1949
Publiziert : 07. Juni 1950
Quelle : Bundesgericht
Status : 76 I 111
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : Stellung des Ausländers in der Schweiz. Unentgeltliche Prozessführung.Steht der bundesrechtliche...


Gesetzesregister
BV: 4 
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
43 
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 43 Aufgaben der Kantone - Die Kantone bestimmen, welche Aufgaben sie im Rahmen ihrer Zuständigkeiten erfüllen.
46 
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 46 Umsetzung des Bundesrechts - 1 Die Kantone setzen das Bundesrecht nach Massgabe von Verfassung und Gesetz um.
1    Die Kantone setzen das Bundesrecht nach Massgabe von Verfassung und Gesetz um.
2    Bund und Kantone können miteinander vereinbaren, dass die Kantone bei der Umsetzung von Bundesrecht bestimmte Ziele erreichen und zu diesem Zweck Programme ausführen, die der Bund finanziell unterstützt.10
3    Der Bund belässt den Kantonen möglichst grosse Gestaltungsfreiheit und trägt den kantonalen Besonderheiten Rechnung.11
60
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 60 Organisation, Ausbildung und Ausrüstung der Armee - 1 Die Militärgesetzgebung sowie Organisation, Ausbildung und Ausrüstung der Armee sind Sache des Bundes.
1    Die Militärgesetzgebung sowie Organisation, Ausbildung und Ausrüstung der Armee sind Sache des Bundes.
2    ...19
3    Der Bund kann militärische Einrichtungen der Kantone gegen angemessene Entschädigung übernehmen.
ZPO: 77bis
BGE Register
23-I-393 • 23-I-490 • 40-I-8 • 41-I-145 • 51-I-101 • 55-I-289 • 57-I-337 • 58-I-285 • 60-I-179 • 60-I-220 • 61-I-97 • 69-I-158 • 76-I-111
Weitere Urteile ab 2000
I_148/49
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
staatsvertrag • bundesgericht • amerika • thurgau • wolf • beklagter • rechtsgleiche behandlung • frage • weiler • verfahren • staatsrechtliche beschwerde • richtigkeit • bedingung • entscheid • eidgenossenschaft • zivilprozess • sicherstellung • einsprache • abweisung • aussichtslosigkeit • unentgeltliche rechtspflege • ausländischer staat • zusicherung • zugang • richterliche behörde • begründung des entscheids • gegenrecht • willkürverbot • schweizer bürgerrecht • internationales privatrecht • bedürftigkeit • gesuch an eine behörde • politische rechte • wiese • verhalten • leiter • gesuchsteller • stelle • kostenentscheid • bundesrat • anspruch auf rechtliches gehör • wille • gemeinde • anspruch auf einen entscheid • handelsgericht • treffen • ausserhalb • unkosten • interkantonale doppelbesteuerung • steuerhoheit • tod • verantwortlichkeitsklage • wohnsitz in der schweiz • vormund • erbe • kassatorische natur • nordamerika • russ
... Nicht alle anzeigen
BBl
1850/III/731 • 1855/41 • 1855/II/424 • 1868/III/434