BGE 55 I 289
47. Urteil vom 26. Oktober 1929 i. S. Erben Prochorow gegen Obergericht
Zürich.
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Regeste:
Folgen der Nationalisierung der russischen Aktiengesellschaften. Wirkungen für
das in der Schweiz gelegene Vermögen der Gesellschaft. Klage einzelner
Aktionäre gegen einen schweizerischen Gesellschaftsschuldner auf Zahlung eines
dem Aktienbesitz der Kläger entsprechenden Bruchteils der Schuld an sie.
Verweigerung des Armenrechts für die Durchführung dieses Prozesses durch den
kantonalen Richter wegen Aussichtslosigkeit der Klage. Abweisung der dagegen
erhobenen Willkürbeschwerde.
A. - Die Rekurrenten Frau Prochorow, Frau Masslennikow und Rostislaw Prochorow
sind die Witwe und die Kinder und in dieser Eigenschaft, nach ihrer
Behauptung, Erben zu je 1/3 des im Jahre 1922 in Moskau gestorbenen Nikolaus
Prochorow, der Direktor der «Norskaja Manufaktura» einer russischen
Aktiengesellschaft mit Sitz in Moskau gewesen war. Wie andere russische
Aktiengesellschaften so ist auch die Norskaja Manufaktura auf Grund der
Sowietgesetzgebung nationalisiert worden. Zur Zeit der Nationalisierung im
Jahre 1918 oder 1919 sollen nach der Darstellung der Rekurrenten von den
insgesamt 600 Namenaktien der Gesellschaft (Aktienkapital 3 Millionen Rubel)
328 dem Nikolaus Prochorow
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gehört haben; weitere 253, die in jenem Zeitpunkt seiner Mutter gehörten,
seien nach deren Tode im Jahre 1919 durch Erbfolge auf ihn übergegangen,
sodass die Rekurrenten insgesamt von ihm 581 Stück ererbt hätten. Im November
1916 hatte die Norskaja Manufaktura bei der Firma Gebrüder Sulzer in Moskau,
die formell als selbständige russische Handelsgesellschaft konstituiert war,
in Wirklichkeit aber nach der Behauptung der Rekurrenten eine blosse
Zweigniederlassung der Winterthurer Firma gleichen Namens (heute Gebrüder
Sulzer A.-G.) gewesen wäre, drei Dieselmotoren bestellt und an den Kaufpreis
2/3 mit rund 180000 Rubel anbezahlt. Infolge der revolutionären Wirren und
ihrer Auswirkungen wurden die Maschinen nicht geliefert und auch die Anzahlung
nicht zurückgegeben. Im März 1928 reichten die heutigen Rekurrenten unter
Berufung auf ihre Eigenschaft als Aktionäre der früheren Norskaja Manufaktura,
d. h. den von Nikolaus Prochorow ererbten Aktienbesitz beim Bezirksgericht
Winterthur eine Zivilklage gegen die Firma Gebrüder Sulzer A.-G., sowie gegen
Karl Sulzer-Schmid, Dr. Hans Sulzer und Robert Sulzer, ebenda als gewesene
Teilhaber der «liquidierten» Firma Gebrüder Sulzer Moskau ein, womit sie die
solidarische Verurteilung der Beklagten zur Erstattung eines Betrages von
125000 Fr., an jeden der Kläger, d. h. je eines Drittels von 581/600 der
erwähnten Anzahlung verlangten. Zugleich kamen sie um die Bewilligung der
unentgeltlichen Prozessführung im Sinne von § 81 der zürcherischen ZPO ein.
Die erwähnte Vorschrift lautet: «Das Gericht kann Parteien, welche die Mittel
nicht besitzen, um neben dem Lebensunterhalt für sich und die Ihrigen die
Prozesskosten aufzubringen, nach Vorlegung der nötigen Ausweise die
Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung erteilen, wenn der Prozess
nicht als offenbar aussichtslos oder mutwillig erscheint.»
Das Bezirksgericht Winterthur nahm an, dass zwar die Mittellosigkeit der
Kläger als nachgewiesen gelten dürfe,
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die Klage aber aussichtslos sei und wies deshalb das Armenrechtsgesuch ab.
Einen dagegen gerichteten Rekurs der Kläger verwarf das Obergericht des
Kantons Zürich durch Entscheid vom 13. April 1929, indem es sich der
Auffassung des Bezirksgerichtes anschloss.
B. - Gegen den Entscheid des Obergerichtes haben Frau Lydia Prochorow, Frau
Helene Masslennikow und Rostislaw Prochorow die staatsrechtliche Beschwerde
wegen Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
der Entscheid sei aufzuheben und die Sache zu neuer Behandlung an das
Obergericht zurückzuweisen. Sie fechten die Annahme, dass es sich um eine
aussichtslose Klage handle, als willkürlich an. Die nähere Begründung dieser
Rüge ist, soweit nötig, aus den nachstehenden Erwägungen ersichtlich.
C. - Das Obergericht des Kantons Zürich und die Rekursbeklagten haben die
Abweisung der Beschwerde beantragt.
D. - Eine neben der staatsrechtlichen Beschwerde erhobene kantonale
Nichtigkeitsbeschwerde an das zürcherische Kassationsgericht, mit Rücksicht
auf die die Instruktion der staatsrechtlichen Beschwerde vorläufig eingestellt
worden war, ist vom Kassationsgericht durch Beschluss vom 12. August 1929
abgewiesen worden.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- (Zurückweisung einer auf das obergerichtliche Rekursverfahren bezüglichen
prozessualen Rüge.)
2.- Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes haben die durch die
Sowietgesetzgebung nationalisierten früheren russischen Aktiengesellschaften
mit der Nationalisierung rechtlich zu bestehen aufgehört und können
infolgedessen auch in der Schweiz nicht mehr als Rechtssubjekt anerkannt
werden. Es fehlt ihnen folglich auch die Fähigkeit, Rechte auf Bestandteile
des ehemaligen Gesellschaftsvermögens, die in der Schweiz gelegen sind, im
Prozesswege oder sonstwie geltend zu machen (BGE
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50 II 511 ff.; 51 II 263 Erw. 2). Die Rekurrenten fechten diese Praxis nicht
an. Sie dürfen es schon deshalb nicht, sondern müssen sich auf den Boden
derselben stellen, weil wenn man die Gesellschaft trotz der russischen
Nationalisierungsdekrete, wenigstens für ihre ausländischen
vermögensrechtlichen Beziehungen, als rechtlich oder tatsächlich fortbestehend
betrachten wollte, wie es in der Tat in einzelnen anderen Staaten unter
gewissen Voraussetzungen heute noch geschieht, eine Klage wie die von den
Rekurrenten angestrengte, nämlich ein Anspruch eines einzelnen Aktionärs auf
Zahlung einer Gesellschaftsforderung an ihn von vorneherein rechtlich
ausgeschlossen sein würde. Fraglich kann demnach nur sein, was mit dem
Auslandsvermögen der nationalisierten und infolgedessen untergegangenen
russischen Aktiengesellschaft zu geschehen habe. Drei Lösungen sind an sich
denkbar: 1. die Anerkennung des Eintritts des Sowietstaats auch in diese
Vermögensrechte infolge der von ihm verfügten Konfiskation; 2. der Übergang
derselben auf die privatrechtlichen Rechtsnachfolger der aufgelösten
Gesellschaft, d. h. die Gesellschafter, Aktionäre, oder endlich 3. wenn man
das eine oder andere ablehnt, das Herrenloswerden der betreffenden
Vermögensstücke (vgl. TIMASCHEW, «Die Nationalisierung der Banken in
Sowietrussland und ihre rechtlichen Wirkungen im Ausland» im Archiv für
zivilistische Praxis N. F. Bd. 9 (1928) S. 16 ff., insbesondere 41 ff.) Um
ihre Klage zu stützen, müssen die Rekurrenten wiederum notwendig die zweite
Lösung vertreten, wie denn auch der Übergang auf den Sowietstaat in keinem
Lande geltenden Rechtes und vom Bundesgericht in den angeführten Urteilen
bereits abgelehnt worden ist und auch die Annahme des Herrenloswerdens solchen
Vermögens in der Doktrin nur sehr vereinzelt vertreten und lebhaft angefochten
wird. Als «privatrechtliche Rechtsnachfolger» der untergegangenen
Aktiengesellschaft können aber die Aktionäre höchstens in dem Sinne angesehen
werden, dass es ihnen zustehen
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muss, die Liquidation des ausländischen Vermögens der früheren Gesellschaft
und nach durchgeführter Liquidation, d.h. nach Begleichung der auf dem
Gesellschaftsvermögen lastenden, im Liquidationsverfahren angemeldeten
Schulden die Ausrichtung derjenigen Quote des alsdann noch bleibenden
Überschusses zu verlangen, die ihrer Beteiligung an der Gesellschaft durch
Aktienbesitz im Verhältnis zu den übrigen bei der Liquidation angemeldeten
Aktien entspricht. Auch wenn man die juristische Persönlichkeit der
Aktiengesellschaft als eine blosse Fiktion und als wirkliche Träger der Rechte
der Gesellschaft schon während ihres Bestehens die Gesellschafter, Aktionäre
betrachten wollte, so hat doch die Errichtung der Aktiengesellschaft auf alle
Fälle zur Folge, dass damit die Einlagen der Aktionäre und die aus ihnen
angeschafften Vermögensstücke Bestandteil eines besonderen Haftungskomplexes,
eines Sondervermögens werden, das in erster Linie den Gesellschaftsgläubigern
für ihre Forderungen verfangen ist und von den Aktionären zur Deckung ihrer
Einlagen erst nach Befriedigung dieser Schulden in Anspruch genommen werden
kann. Es kann also auch der Anspruch des Aktionärs einer durch die
Nationalisierung aufgelösten russischen Aktiengesellschaft hinsichtlich des
Auslandsvermögens der Gesellschaft nur auf die Durchführung der Liquidation
über dieses Vermögen in den durch die Gesetzgebung des Staates der Lage dafür
zur Verfügung gestellten Formen (vgl. BGE 51 II 265) und auf einen
verhältnismässigen Anteil am Überschuss des Ergebnisses dieser Liquidation
niemals auf die direkte Zahlung einer Forderung der aufgelösten Gesellschaft
gegen einen ausländischen Schuldner an ihn im Verhältnis seines Aktienbesitzes
zum gesamten Aktienkapital gehen. Von dieser Annahme geht denn auch die oben
erwähnte Abhandlung von Timaschew als selbstverständlich aus. Ebenso hat sich
das Bundesgericht schon in dem bereits angeführten Urteile i. S.
Wilbuschwewitz (BGE 51 II 263 Erw. 2)
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auf diesen Boden gestellt, wo es sich um die Anordnung einer
Verwaltungsbeistandschaft i. S. von Art. 393
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 393 - 1 Eine Begleitbeistandschaft wird mit Zustimmung der hilfsbedürftigen Person errichtet, wenn diese für die Erledigung bestimmter Angelegenheiten begleitende Unterstützung braucht. |
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1 | Eine Begleitbeistandschaft wird mit Zustimmung der hilfsbedürftigen Person errichtet, wenn diese für die Erledigung bestimmter Angelegenheiten begleitende Unterstützung braucht. |
2 | Die Begleitbeistandschaft schränkt die Handlungsfähigkeit der betroffenen Person nicht ein. |
nationalisierten russischen Bank an einen schweizerischen Schuldner handelte,
in das von einem angeblichen Gläubiger der Bank in der Schweiz die
Zwangsvollstreckung begehrt worden war. Wenn es damals als ausgeschlossen
erklärt wurde, dass ein einzelner Gläubiger der nationalisierten Gesellschaft
sich auf diesem Wege bevorzugte Befriedigung für seine Forderung verschaffe,
und als die Pflicht des Verwaltungsbeistands betrachtet wurde, falls sich die
Forderung des betreibenden Gläubigers mit Erfolg nicht bestreiten lasse, einen
Schuldenruf zu veranlassen und, wenn eine gleichmässige Befriedigung der dabei
sich meldenden Gläubiger sonst nicht möglich sei, die Insolvenz zu erklären
und so die Konkurseröffnung über das verwaltete Vermögen herbeizuführen, so
kann ein solches Vorzugsrecht noch viel weniger einem einzelnen Aktionär der
Gesellschaft für seine Vermögenseinlage in dieselbe zugestanden werden. In der
gesamten ausländischen Literatur, die von den Rekurrenten angerufen worden
ist, findet sich denn auch kein Entscheid, der eine Klage des Aktionärs, wie
die hier von den Rekurrenten angehobene, als zulässig betrachten würde; die
angeführten Entscheidungen betreffen vielmehr durchwegs entweder die Frage des
Fortbestehens der nationalisierten russischen Aktiengesellschaft wenigstens
für ihre ausländischen vermögensrechtlichen Beziehungen oder dann aber der
inbezug auf Auslandsvermögen derselben zu treffenden Liquidationsmassnahmen.
Kann eine derartige Klage schon aus dem eben angeführten Grunde unmöglich zum
Ziele führen, so durfte sie aber als offenbar aussichtlos i. S. von § 81 der
zürcherischen ZPO bezeichnet und deshalb das Armenrecht für ihre Durchführung
verweigert werden. Die Vorinstanz hat dadurch keineswegs, wie die Rekurrenten
behaupten, ihre subjektive Ansicht über die materielle Begründetheit des
Klageanspruchs
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mit dem Ausschluss der Möglichkeit einer richterlichen Anerkennung desselben
überhaupt verwechselt (BGE 51 I S. 106), sondern von der ihr durch die
angeführte Vorschrift der ZPO eingeräumten Befugnis einen zutreffenden,
jedenfalls nicht willkürlichen Gebrauch gemacht. Es braucht deshalb zu den
einlässlichen Ausführungen der Rekurrenten nicht Stellung genommen zu werden,
womit sie gegen die Annahme eines Übergangs auch der ausländischen
Vermögensstücke der nationalisierten Gesellschaft auf den Sowietstaat oder des
Herrenloswerdens der betreffenden Vermögensstücke polemisieren, weil auch die
Folge der von ihnen vertretenen Auffassung höchstens die Liquidation jenes
Auslandsvermögens in dem eben umschriebenen Sinne sein könnte, keinesfalls ein
Recht des einzelnen Aktionärs darauf, dass die im Besitze eines Dritten
befindliche, der Gesellschaft gehörende Sache oder vom Dritten der
Gesellschaft geschuldete Geldsumme an ihn herausgegeben werde.
Demnach erkennt das Bundesgericht: Die Beschwerde wird abgewiesen.