S. 142 / Nr. 32 Verfahren (d)

BGE 75 IV 142

32. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 27. Mai 1949 i. S.
Perret-Gentil gegen Generalprokurator des Kantons Bern.

Regeste:
Art. 270 Abs. 1 , Art. 251 Abs. 1 BStP. Die Nichtigkeitsbeschwerde stellt
ausser dem Angeklagten auch dessen Vormund zu. Dieser kann sie auch gegen den
Willen des Angeklagten einlegen. Die Entscheide in den von kantonalen Behörden
beurteilten Bundesstrafsachen sind ausser dem Angeklagten auch dessen Vormund
zu eröffnen.
Art. 270 al. 1 et 251 al. 1 PPF. Le droit de se pourvoir en nullité appartient
non seulement à l'accusé, mais encore à son tuteur. Ce dernier peut aussi
déposer un pourvoi contre la volonté de l'accusé. Dans les causes pénales
fédérales, les décisions des autorités cantonales doivent être communiquées à
l'accusé et à son tuteur.
Art. 270 cp. 1 e 251 cp. 1 PPf. n diritto d'interporre un ricorso per
cassazione non spetta soltanto all'accusato, ma anche al suo tutore, il quale
può ricorrere anche se l'accusato non vuole. Nelle cause penali federali le
sentenze delle autorità cantonali debbono essere comunicate all'accusato e al
suo tutore.

Aus den Erwägungen:
Nach Art. 272 Abs. 1 BStP ist die Nichtigkeitsbeschwerde binnen zehn Tagen
seit der nach dem kantonalen Recht massgebenden Eröffnung des angefochtenen
Entscheides einzulegen. Im Kanton Bern besteht die massgebende Eröffnung in
der mündlichen Verkündung der Urteilsformel in der Hauptverhandlung, wenn die
Partei oder ihr Vertreter bei der Verkündung anwesend ist (Art. 212 Abs. 2,
215 Abs. 4, 216 Abs. 3, 302 StrV). Im vorliegenden Falle hat sie am 21. Januar
1949 in Anwesenheit des Verurteilten stattgefunden. Dieser persönlich konnte
daher die

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Nichtigkeitsbeschwerde nur bis 31. Januar 1949 einlegen. Als sein Vormund sie
am 5. Februar 1949 in seinem Namen und Auftrag erklärte, war die Frist für
Perret-Gentil abgelaufen.
Dem Vormund steht jedoch ein vom Willen des Bevormundeten unabhängiges Recht
zur Nichtigkeitsbeschwerde zu. Gewiss darf der urteilsfähige Bevormundete
Rechte ausüben, die ihm um seiner Persönlichkeit willen zustehen (Art. 19 Abs.
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SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 19 - 1 Urteilsfähige handlungsunfähige Personen können nur mit Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters Verpflichtungen eingehen oder Rechte aufgeben.14
1    Urteilsfähige handlungsunfähige Personen können nur mit Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters Verpflichtungen eingehen oder Rechte aufgeben.14
2    Ohne diese Zustimmung vermögen sie Vorteile zu erlangen, die unentgeltlich sind, sowie geringfügige Angelegenheiten des täglichen Lebens zu besorgen.15
3    Sie werden aus unerlaubten Handlungen schadenersatzpflichtig.
ZGB), sich folglich im Strafverfahren selber verteidigen und Rechtsmittel
einlegen (BGE 68 IV 160). Die Macht, den Vormund an der Vertretung zu
verhindern, hat er aber nicht. Das ginge gegen den Zweck der Vormundschaft,
dem Bevormundeten in allen persönlichen Angelegenheiten Schutz und Beistand zu
bieten (Art. 406
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 406 - 1 Der Beistand oder die Beiständin erfüllt die Aufgaben im Interesse der betroffenen Person, nimmt, soweit tunlich, auf deren Meinung Rücksicht und achtet deren Willen, das Leben entsprechend ihren Fähigkeiten nach eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten.
1    Der Beistand oder die Beiständin erfüllt die Aufgaben im Interesse der betroffenen Person, nimmt, soweit tunlich, auf deren Meinung Rücksicht und achtet deren Willen, das Leben entsprechend ihren Fähigkeiten nach eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten.
2    Der Beistand oder die Beiständin strebt danach, ein Vertrauensverhältnis mit der betroffenen Person aufzubauen und den Schwächezustand zu lindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten.
ZGB) und ihm einen Vertreter für alle rechtlichen
Angelegenheiten zu geben (Art. 407
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 407 - Die urteilsfähige betroffene Person kann, auch wenn ihr die Handlungsfähigkeit entzogen worden ist, im Rahmen des Personenrechts durch eigenes Handeln Rechte und Pflichten begründen und höchstpersönliche Rechte ausüben.
ZGB). Das Gesetz nimmt auf den Willen des
urteilsfähigen Bevormundeten nur insofern Rücksicht, als Art. 409
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 409 - Der Beistand oder die Beiständin stellt der betroffenen Person aus deren Vermögen angemessene Beträge zur freien Verfügung.
ZGB den
Vormund verpflichtet, bei wichtigen Angelegenheiten, soweit tunlich, den
Bevormundeten vor der Entscheidung um seine Ansicht zu befragen. Wie die
Zustimmung des Bevormundeten den Vormund nicht von seiner Verantwortlichkeit
befreit (Art. 409 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 409 - Der Beistand oder die Beiständin stellt der betroffenen Person aus deren Vermögen angemessene Beträge zur freien Verfügung.
ZGB), nimmt auch die Missbilligung der Absichten des
Vormundes durch den Bevormundeten jenem nicht die Pflicht und das Recht, nach
eigenem Gewissen zu handeln. Eine Ausnahme machen die höchstpersönlichen
Rechte (Recht, die Scheidung der Ehe zu verlangen, und dgl.); der Vormund kann
sie nicht ohne Zustimmung des Bevormundeten ausüben (BGE 41 II 556,68 II 145).
Ein solches Recht aber ist die Befugnis zur Einlegung eines Rechtsmittels im
Strafverfahren gegen den Bevormundeten nicht.
Ist der Vormund berechtigt, im Namen des Bevormundeten gegen dessen Willen die
Nichtigkeitsbeschwerde zu erklären, so ist Art. 251
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 409 - Der Beistand oder die Beiständin stellt der betroffenen Person aus deren Vermögen angemessene Beträge zur freien Verfügung.
BStP, wonach die
kantonalen Behörden die Entscheide in Bundesstrafsachen den Parteien mündlich
oder schriftlich zu eröffnen haben, dahin auszulegen, dass in Fällen, wo der
Angeklagte bevormundet

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ist, nicht nur ihm, sondern auch seinem Vormund zu eröffnen ist. Sonst
bestellt nicht Gewahr, dass der Vormund vom Entscheide Kenntnis erhält und das
Rechtsmittel einlegen kann.
Im vorliegenden Falle steht nicht fest, ob und wann der Vormund die
Urteilsformel erhalten hat, die ihm die Vorinstanz zugesandt haben will. Daher
hat für ihn die Beschwerdefrist erst am 5. Februar 1949, dem Tage, an dem er
die Urteilsformel vom Bevormundeten erhalten hat, zu laufen begonnen. Die am
gleichen Tage der Post übergebene Beschwerdeerklärung ist somit rechtzeitig
abgegeben worden. Da die Beschwerde binnen der Frist des Art. 272 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 409 - Der Beistand oder die Beiständin stellt der betroffenen Person aus deren Vermögen angemessene Beträge zur freien Verfügung.
BStP
auch begründet worden ist, ist auf sie einzutreten.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 75 IV 142
Datum : 01. Januar 1948
Publiziert : 26. Mai 1949
Quelle : Bundesgericht
Status : 75 IV 142
Sachgebiet : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Gegenstand : Art. 270 Abs. 1, Art. 251 Abs. 1 BStP. Die Nichtigkeitsbeschwerde stellt ausser dem Angeklagten...


Gesetzesregister
BStP: 251  270  272
ZGB: 19 
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 19 - 1 Urteilsfähige handlungsunfähige Personen können nur mit Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters Verpflichtungen eingehen oder Rechte aufgeben.14
1    Urteilsfähige handlungsunfähige Personen können nur mit Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters Verpflichtungen eingehen oder Rechte aufgeben.14
2    Ohne diese Zustimmung vermögen sie Vorteile zu erlangen, die unentgeltlich sind, sowie geringfügige Angelegenheiten des täglichen Lebens zu besorgen.15
3    Sie werden aus unerlaubten Handlungen schadenersatzpflichtig.
406 
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 406 - 1 Der Beistand oder die Beiständin erfüllt die Aufgaben im Interesse der betroffenen Person, nimmt, soweit tunlich, auf deren Meinung Rücksicht und achtet deren Willen, das Leben entsprechend ihren Fähigkeiten nach eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten.
1    Der Beistand oder die Beiständin erfüllt die Aufgaben im Interesse der betroffenen Person, nimmt, soweit tunlich, auf deren Meinung Rücksicht und achtet deren Willen, das Leben entsprechend ihren Fähigkeiten nach eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten.
2    Der Beistand oder die Beiständin strebt danach, ein Vertrauensverhältnis mit der betroffenen Person aufzubauen und den Schwächezustand zu lindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten.
407 
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 407 - Die urteilsfähige betroffene Person kann, auch wenn ihr die Handlungsfähigkeit entzogen worden ist, im Rahmen des Personenrechts durch eigenes Handeln Rechte und Pflichten begründen und höchstpersönliche Rechte ausüben.
409
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 409 - Der Beistand oder die Beiständin stellt der betroffenen Person aus deren Vermögen angemessene Beträge zur freien Verfügung.
BGE Register
41-II-553 • 68-II-144 • 68-IV-158 • 75-IV-142
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
beschwerdefrist • ehe • entscheid • frist • höchstpersönliche rechte • kantonale behörde • kantonales recht • kassationshof • kenntnis • mais • rechtsmittel • tag • verurteilter • vorinstanz • vormund • wille