S. 1 / Nr. 1 Strafgesetzbuch (d)

BGE 74 IV 1

1. Urteil des Kassationshofes vom 23. Januar 1948 i.S. Fasler gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen.


Seite: 1
Regeste:
Art. 15
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 15 - Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht, so ist der Angegriffene und jeder andere berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren.
StGB ist vorsichtig und zurückhaltend anzuwenden. Die Anordnung einer
ambulanten Behandlung könnte, wenn sie grundsätzlich zulässig wäre, was offen
bleiben soll, nur ganz ausnahmsweise in Betracht fallen.
L'art. 16 CP doit être appliqué avec beaucoup de prudence. Même admis en
principe ­ question laissée ouverte ­ un traitement «ambulant» ne pourrait
être ordonné qu'à titre tout à fait exceptionnel.
L'art. 15 CP dev'essere applicato con grande prudenza. Una cura ambulatoria,
anche se fosse ammissibile in principio (questione tuttavia indecisa),
potrebbe essere ordinata soltanto a titolo eccezionalissimo.

Der 1919 geborene Beschwerdeführer wurde seit 1943 wiederholt wegen
Öffentlicher Vornahme unzüchtiger Handlungen (Entblössung des
Geschlechtsteiles vor Frauen) bestraft und im Sommer 1946 durch den
Strafrichter in die Heilanstalt Breitenau eingewiesen. Während der nach
Entlassung aus der Anstalt angeordneten ambulanten Behandlung verfehlte er
sich erneut. Das Obergericht des Kantons Schaffhausen verurteilte ihn deswegen
am 10. Oktober 1947 zu 4 Wochen Gefängnis, verfügte aber, dass der
Strafvollzug einzustellen und der Angeklagte gemäss Art. 15
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 15 - Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht, so ist der Angegriffene und jeder andere berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren.
StGB zur
Behandlung in eine Heilanstalt einzuweisen sei.
Mit Nichtigkeitsbeschwerde beantragt der Beschwerdeführer, es sei die
Einweisung in eine Heilanstalt durch die Anordnung einer ambulanten Behandlung
zu ersetzen.

Seite: 2
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Der Kassationshof hat bisher offen gelassen, ob Art. 15
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 15 - Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht, so ist der Angegriffene und jeder andere berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren.
StGB die ambulante
Behandlung gestatte. Die Frage braucht hier nicht entschieden zu werden, denn
selbst wenn sie bejaht werden müsste, wäre die von der Vorinstanz beschlossene
Einweisung in eine Anstalt nicht gesetzwidrig.
Die in Art. 15
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 15 - Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht, so ist der Angegriffene und jeder andere berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren.
StGB vorgesehenen Massnahmen dienen nicht in erster Linie dem
Schutze der öffentlichen Ordnung, sondern der Fürsorge für den Täter. Sie
greifen über den Bereich der Strafrechtspflege hinaus und sind daher
vorsichtig und zurückhaltend anzuwenden, sonst führen sie zu einer Bevorzugung
des unzurechnungsfähigen und vermindert zurechnungsfähigen Rechtsbrechers.
Dieser soll für seine Tat nicht leichthin von Staats wegen mit einer
Heilbehandlung prämiert werden, die dem Nichtdelinquenten nicht zuteil wird,
und das obendrein noch mit der Aussicht, dass ihm die Strafe schliesslich
gestützt auf Art. 17 Ziff. 2 Abs. 2
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 17 - Wer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um ein eigenes oder das Rechtsgut einer anderen Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu retten, handelt rechtmässig, wenn er dadurch höherwertige Interessen wahrt.
StGB ganz oder teilweise erlassen wird
(Urteil des Kassationshofes vom 3. April 1947 i. S. Held S. 5 f.). Die
ambulante Behandlung bedeutet verglichen mit der Einweisung in eine Anstalt
eine weitere Privilegierung des Täters. Sie könnte daher, auch wenn sie
grundsätzlich zulässig wäre, was offen bleiben soll, nur ganz ausnahmsweise in
Betracht fallen.
Im vorliegenden Falle liegt nichts vor, was den Richter allenfalls nötigen
würde, abweichend von der allgemeinen Regel die ambulante Behandlung
anzuordnen. Diese war zur Zeit der Tat im Gange, hatte aber den
Beschwerdeführer nicht von der Begehung neuer Vergehen abgehalten. Daraus
konnte das Obergericht mit Grund ableiten, der Zustand des Täters erfordere
die Einweisung in eine Anstalt, die Freiheit sei für ihn zurzeit noch zu
gefährlich. Auch wenn berücksichtigt wird, dass der Beschwerdeführer unter
Alkoholeinfluss rückfällig wurde, lässt sich dieser Schluss sachlich
rechtfertigen, denn nur der Aufenthalt

Seite: 3
in einer geschlossenen Anstalt bietet Gewähr für Abstinenz. Die
Sachverständigen, an deren Gutachten der Richter übrigens nicht gebunden ist,
erklären nicht, dass nur eine ambulante Behandlung in Frage komme. Dr. F.
Braun, der Direktor der Schweiz. Anstalt für Epileptische, schrieb in einem
1945 eingeholten Gutachten sogar ausdrücklich, dass bei Rückfällen eine
längere Versorgung in einer Heil- und Pflegeanstalt nicht zu umgehen sein
werde, und Direktor Dr. Moser von der kantonalen Heilanstalt Breitenau in
Schaffhausen hält nach der für den Kassationshof verbindlichen Feststellung
der Vorinstanz (Art. 277bis Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 17 - Wer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um ein eigenes oder das Rechtsgut einer anderen Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu retten, handelt rechtmässig, wenn er dadurch höherwertige Interessen wahrt.
BStP) die Wiederinternierung in der Anstalt
Breitenau «mindestens nicht für unangebracht». Das Obergericht überschritt
daher das Ermessen, das dem Sachrichter bei Anwendung von Art. 15
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 15 - Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht, so ist der Angegriffene und jeder andere berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren.
StGB der
Natur der Sache nach zuerkannt werden muss, offensichtlich nicht.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 74 IV 1
Datum : 01. Januar 1948
Publiziert : 23. Januar 1948
Quelle : Bundesgericht
Status : 74 IV 1
Sachgebiet : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Gegenstand : Art. 15 StGB ist vorsichtig und zurückhaltend anzuwenden. Die Anordnung einer ambulanten Behandlung...


Gesetzesregister
BStP: 277bis
StGB: 15 
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 15 - Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht, so ist der Angegriffene und jeder andere berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren.
17
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 17 - Wer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um ein eigenes oder das Rechtsgut einer anderen Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu retten, handelt rechtmässig, wenn er dadurch höherwertige Interessen wahrt.
BGE Register
74-IV-1
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
ambulante behandlung • kassationshof • heilanstalt • vorinstanz • frage • strafgesetzbuch • strafanstalt • dauer • verminderte zurechnungsfähigkeit • 1919 • verurteilter • ermessen • sachrichter • ersetzung