S. 91 / Nr. 20 Versicherungsvertrag (d)

BGE 74 II 91

20. Urteil der II. Zivilabteilung vom 25. Juni 1948 i. S. «Helvetia» Schweiz.
Unfall- und Haftpflichtversicherungsanstalt gegen Richard Kuch und Konsorten.


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Regeste:
Berufungsfähiger Zwischenentscheid. Art. 50 OG. Erw. 1.
Meldeklausel mit Verwirkungsandrohung bei Unfallversicherung: Vorbehalten ist
genügende Entschuldigung (Art. 45 , 98 WG). Erw. 2. ­ Entfällt die Meldepflicht
bei sonstiger Kenntnis des Versicherers? Erw. 3. ­ Der Kenntnis des Anspruchs
(Art. 38 VVG) steht blosses Kennenmüssen nicht gleich. Erw. 4. ­ Wann ist
Unkenntnis der Versicherungsbedingungen entschuldigt? Erw. 5.
Décisions incidentes susceptibles d'un recours en réforine. Art. 50 OJ
(consid. l).
Déclaration obligatoire en cas de sinistre avec menace de déchéance du droit
en matière d'assurance contre les accidents: Demeure réservée une excuse
suffisante (art. 45, 98 LCA) (consid. 2). ­ La déclaration obligatoire
tombe-t-elle lorsque l'assureur a eu connaissance du sinistre d'une autre
manière? (consid. 3). ­ On ne peut assimiler à la connaissance effective du
droit découlant de l'assurance le cas où l'ayant droit aurait dû connaître son
droit (consid. 4). ­ Quand l'ignorance des condiditions d'assurance est-elle
excusable? (consid. 5).
Decisioni incidentali suscettibili di ricorso per riforma. Art. 50 OG.
(consid. l).
Obbligo di dare avviso del sinistro sotto comminatoria di decadenza dal
diritto in materia di assicurazione contro gli infortuni: rimane riservata una
scusa sufficiente (art. 45 e 98 LCA) (consid. 2). ­ Sussiste l'obbligo di dare
avviso quando l'assicuratore ha avuto conoscenza del sinistro in altro modo?
(consid. 3). ­ Non può essere assimilato alla conoscenza effettiva del diritto
derivante dall'assicurazione (art. 38 LCA) il fatto che

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l'avente diritto avrebbe dovuto conoscere il suo diritto (consid. 4). ­ Quando
è scusabile l'ignoranza delle condizioni di assicurazione? (consid. 5).

A. ­ Die Eheleute Karl und Berta Kuch waren als Abonnenten der Zeitschrift «In
Freien Stunden» bei der Beklagten mit je Fr. 5000.­ im Todesfalle gegen Unfall
versichert. Am 3. Juni 1939 wurden sie beide bei einem Automobilunfall in
Deutschland tödlich verletzt. Die Ehefrau starb, wie festgestellt ist, vor dem
Manne, so dass dieser sie beerbte. Die Erben des Mannes wohnten in Deutschland
und Amerika. Einer von ihnen, sein Bruder Emil Kuch, kam am 3. Juni abends
nach Zürich in das Domizil der Verunfallten. Er durchsuchte die vorhandenen
Papiere, um Ausweise zuhanden der deutschen Behörden für die Bestattung zu
erheben. Einen Teil der übrigen vorgefundenen Papiere, darunter die in Frage
stehende Versicherungspolice, verpackte er in sechs grössere Briefumschläge
und übergab diese, ehe er am 4. Juni um 11 Uhr wieder verreiste, der Gattin
des Hausmeisters zur Aufbewahrung. Eine Unfallanzeige machte er weder dem
Verlag noch der Versicherungsgesellschaft. Der Unfall wurde erst am 6. Juni
1939, d. h. am Tage nach der Beerdigung der verunfallten Eheleute Kuch, durch
einen Onkel der verstorbenen Frau Kuch angezeigt.
B. ­ Dem von den vier Geschwistern des verstorbenen Karl Kuch erhobenen
Anspruch auf die Versicherungssummen von insgesamt Fr. 1000.­ hält die
Beklagte entgegen, dieser Anspruch sei wegen Versäumung der Anzeige des
Versicherungsfalles verwirkt. Sie beruft sich auf die Allgemeinen
Versicherungsbedingungen, insbesondere:
§ 14. «Hat ein Unfall stattgefunden, für den eine Entschädigung beansprucht
wird, so ist der Versicherte bzw. der Anspruchsberechtigte verpflichtet:
... c) Todesfälle infolge Unfalles sofort telegraphisch dem Verlage oder der
Helvetia anzuzeigen;»
§ 15. «... Verweigert der Anspruchsberechtigte die Vornahme der Sektion, so
fällt, ohne Ansetzung einer Nachfrist. jeder

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Anspruch auf die Versicherungsleistungen dahin. Das gleiche ist der Fall bei
schuldhafter Übertretung der in § 14 lit. a, b, c und e enthaltenen
Vorschriften.»
Die kantonalen Gerichte verwarfen in Vorentscheiden die Einrede der
Anspruchsverwirkung, das Obergericht des Standes Zürich am 25. Februar 1948.
Mit der vorliegenden Berufung hält die Beklagte daran fest, dass die Klage
ohne materielle Prüfung abzuweisen sei.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. ­ Obwohl nicht End-, sondern Zwischenentscheid, unterliegt das angefochtene
Urteil nach Art. 50 OG ausnahmsweise der Berufung; denn im Falle der
Gutheissung der Berufung und damit der Verwirkungseinrede kann sofort ein
Entscheid herbeigeführt und ein beträchtlicher Aufwand an Zeit und Kosten
erspart werden.
2. ­ Nach Art. 38 Abs. 1 VVG hat der Anspruchsberechtigte den Versicherer zu
benachrichtigen, sobald er vom befürchteten Ereignis und von seinem Anspruche
Kenntnis erlangt. Gemeint ist, wie aus der Wendung «sobald...» erhellt,
unverzügliche Anzeige, wovon denn auch Abs. 3 daselbst ausgeht. Bei
schuldhafter Verletzung der Anzeigepflicht ist der Versicherer nach Abs. 2
unter Umständen zur Kürzung seiner Leistungen berechtigt. Verwirkung tritt
nach Abs. 3 ein, wenn der Anspruchsberechtigte die Anzeige in unlauterer
Absicht versäumt hat. Ein solcher Sachverhalt ist hier nicht behauptet.
Vielmehr wird dem Emil Kuch blosse Nachlässigkeit vorgehalten. Die Beklagte
beruft sich jedoch auf die auch für solche Fälle aufgestellte
Verwirkungsklausel der Versicherungsbedingungen. Da Art. 38 VVG abänderliches
Recht enthält, sind strengere Vereinbarungen grundsätzlich gültig, sowohl
hinsichtlich der Art der Anzeige, die nach den vorliegenden
Vertragsbedingungen «sofort telegraphisch», erfolgen soll, wie auch
hinsichtlich der Folgen einer schuldhaften Versäumung. Indem § 15 der AVB die
Verwirkungsfolge nur an schuldhafte Übertretung

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der betreffenden Gebote knüpft, hält er sich an die nicht zu Ungunsten des
Versicherungsnehmers oder des Anspruchsberechtigten abänderliche Regel des
Art. 45 Abs. 1 VVG.
3. ­ Hier ist die Anzeige nicht «sofort telegraphisch erfolgt, sondern erst
drei Tage nach dem Unfall, und zwar durch einen nicht Anspruchsberechtigten.
Dem letztern Umstande kommt jedoch keine Bedeutung zu, nachdem die Beklagte
die Anzeige gleichwohl entgegengenommen hat. Es frägt sich sogar, ob nicht die
ihr dadurch zugekommene sichere Kenntnis vom Unfallereignis auf alle Fälle
eine weitere Anzeige überflüssig machte (vgl. ROELLI, ZU Art. 38 Anm. 9 S. 470
unten; OSTERTAG-HIESTAND, ZU Art. 38 Nr. 7 und 8, mit Hinweis auf § 33 des
deutschen VVG). Zu entscheiden bleibt, ob der Anspruch verwirkt sei, weil die
Anzeige nicht vor dem 6. Juni 1939 erfolgt ist.
4. ­ Nach den Feststellungen des Obergerichtes hat Emil Kuch die unter andern
Papieren im Domizil der beiden Verunfallten vorgefundene Versicherungspolice
nicht gelesen. Die Beklagte hält ihm aber vor, er habe aus dem Charakter des
Papieres als einer Versicherungspolice ohne weiteres schliessen müssen, er
selbst sei neben seinen Geschwistern anspruchsberechtigt; daher hätte er auch
Veranlassung gehabt, die Versicherungsbedingungen, namentlich diejenigen
betreffend Anzeige des Versicherungsfalles, zur Kenntnis zu nehmen; die
Vernachlässigung dieser sich nach den Umständen aufdrängenden Obliegenheit sei
schuldhaft. Dieser Betrachtungsweise ist jedoch nicht beizustimmen. Weder Art.
38 VVG noch die erwähnten Versicherungsbedingungen stellen der tatsächlichen
Kenntnis des eigenen Anspruches blosses Kennenmüssen gleich, im Unterschied
etwa zu Art. 4 -6 WG betreffend die Pflicht zur Anzeige von Gefahrstatsachen
beim Vertragsabschlusse. Die Ordnung der letztern Anzeigepflicht erklärt sich
daraus, dass dem Antragsteller zuzumuten ist, sich über Tatsachen, die er
allenfalls nicht genau

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kennt, über die er sich aber verständigerweise Rechenschaft zu geben hat und
vermag, auf eine dahingehende Frage des Versicherers nicht einfach
auszuschweigen. Dem Fragerecht des Versicherers entspricht eine den Umständen
nach gebotene Orientierungspflicht des Antragstellers, auch wenn diesem nicht
geradezu Nachforschungen obliegen (vgl. ROELLI zu Art. 4 Anm. 6, c, S. 79).
Diese Überlegungen lassen sich auf die Anzeigepflicht nach Eintritt des
befürchteten Ereignisses nicht übertragen.
5. ­ Es steht dahin, ob Emil Kuch, ohne die Police durchzulesen, sich Gedanken
über die Person der Anspruchsberechtigten machte, und ob er sich allenfalls
sagte, der Versicherungsanspruch möchte nicht nur dem überlebenden Ehegatten
und allfälligen Nachkommen, sondern auch entfernteren Verwandten als Erben
zustehen. Wie das auch sein mag, durfte er diese Police mit den andern
Papieren, die nicht dem Zwecke seines Besuches, sich Personalausweise für die
Bestattung in Deutschland zu beschaffen, dienten, vorderhand zur Aufbewahrung
beiseite legen. Er war nicht nach Zürich gekommen, um den Nachlass zu ordnen,
und an sich bestand keine Pflicht, die Papiere bei diesem kurzen Besuch im
einzelnen durchzusehen; man empfindet es eher als unkorrekt, wenn sich ein
Erbe schon auf den Nachlass stürzt, ehe die Leiche bestattet ist. Dass sich
diese Police mit andern Urkunden gerade in der Wohnung statt etwa in einem
Bankfach vorfand, war ein Zufall. Jedenfalls ist das Nichtlesen der Police
durch die Umstände hinreichend entschuldigt. Dass Emil Kuch nicht daran
dachte, er könnte zu unverzüglicher Anzeige verpflichtet sein, ist ihm nicht
als Verschulden anzurechnen. Die Aufregung über das Unfallereignis, die
Reisemüdigkeit, der begrenzte Zweck seiner Nachforschungen und die
verhältnismässig kurze Zeit des Aufenthaltes sind ihm zugute zu halten.
Der formelle Standpunkt, Unkenntnis der Versicherungsbedingungen sei
grundsätzlich keine Entschuldigung

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(ROELLI, zu Art. 45 Anm. 5, d, S. 538), dringt demgegenüber nicht durch. Eine
solche Regel ist nur unter Vorbehalt der Umstände des einzelnen Falles
anzuerkennen, wie denn Art. 45 Abs. 1 VVG die Umstände ausdrücklich
berücksichtigt wissen will und damit eine Entscheidung nach Recht und
Billigkeit verlangt. Ist gegenüber dem Versicherungsnehmer, dem die Police
beim Vertragschluss ausgehändigt wurde (Art. 11 VVG), im allgemeinen grössere
Strenge am Platze, so darf ein Dritter, dem ein Versicherungsanspruch
erwächst, nicht ohne weiteres so behandelt werden, als seien ihm die
Versicherungsbedingungen bekannt. Zumal vom Gesetz abweichende, wenn auch
gültige Verwirkungsklauseln sind solchen Anspruchsberechtigten gegenüber mit
Zurückhaltung anzuwenden. Konnte, wie dargetan, Emil Kuch die Police füglich
beiseite legen, ohne sich einer Nachlässigkeit bewusst zu sein, so ist sein
Verhalten entschuldigt. Die in der Lehre nicht eindeutig beantwortete
Beweislastfrage (vgl. ROELLI, einerseits zu Art. 38 Anm. 3 S. 460, anderseits
zu Art. 45 Anm. 5, d, S. 537) kann auf sich beruhen.
6. ­ Fehlt es an einem Verschulden des Emil Kuch und damit an dem einzigen von
der Beklagten geltend gemachten Verwirkungsgrunde, so braucht endlich nicht
geprüft zu werden, ob ein solches Verschulden sich zu Ungunsten der mangels
eines Begünstigten anspruchsberechtigt gewordenen Erbengemeinschaft ausgewirkt
hätte, sei es im Sinne der Verwirkung des Versicherungsanspruches überhaupt
oder im Sinne der Kürzung um den Anteil des Emil Kuch.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil der I. Kammer des Obergerichtes
des Standes Zürich vom 25. Februar 1948 bestätigt.
Information de décision   •   DEFRITEN
Document : 74 II 91
Date : 01 janvier 1948
Publié : 24 juin 1948
Source : Tribunal fédéral
Statut : 74 II 91
Domaine : ATF - Droit civil
Objet : Berufungsfähiger Zwischenentscheid. Art. 50 OG. Erw. 1.Meldeklausel mit Verwirkungsandrohung bei...


Répertoire des lois
LArm: 4  6  45  98
LCA: 11  38  45
OJ: 50
Répertoire ATF
74-II-91
Répertoire de mots-clés
Trié par fréquence ou alphabet
défendeur • connaissance • police d'assurance • héritier • allemagne • assureur • funérailles • frères et soeurs • obligation d'annoncer • tribunal fédéral • péremption • jour • incombance • preneur d'assurance • mariage • cas d'assurance • décision incidente • question • homme • conjoint
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