S. 251 / Nr. 42 Versicherungsvertrag (d)

BGE 74 II 251

42. Urteil der II. Zivilabteilung vom 25. November 1948 i.S. Schweiz.
National-Versicherungs-Gesellschaft gegen Vogelsanger.


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Regeste:
Private Unfallversicherung, Risiko von Bergunfällen auf Schnee: Begriff a
gebahnter Weg» und «für Ungeübte leicht gangbares Gelände» in den Klauseln der
allg. Versicherungsbedingungen. Gefährlichkeit der Tour unter dem
Gesichtspunkt der grobfahrlässigen Herbeiführung des Unfalls.
Assurance privée contre les accidente, risque en cas d'accident de montagne
provoqué par l'enneigement. Notion du «chemin tracé» et du «terrain facilement
praticable pour des personnes non habituées aux courses alpestres» au sens des
conditions générales d'assurance. Danger de l'excursion et accident causé par
négligence grave.
Assicurazione privata contro gli infortuni, rischio in caso d'infortunio di
montagna provocato dal terreno nevoso. Concetto di «sentiero tracciato» e di
«terreno facilmente praticabile anche da persone non abituate a corse di
montagna» a norma delle condizioni generali d'assicurazione. Pericolo dell'
escursione e infortunio causato da grave negligenza.

A. ­ Am 18. Oktober 1945 stürzte Fräulein Martha Vogelsanger, geb. 1905, auf
einer Säntistour, die sie in Begleitung ihrer Neffen Georg (geb. 1927) und
Rudolf Vogelsanger (geb. 1933) von der Schwägalp aus unternahm, unterhalb
Tierwies tödlich ab. Sie war bei der Beklagten für den Todesfall mit Fr.
7000.­ versichert. Nach Art. 2 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen
schloss die Versicherung Unfälle ein, die sich ereigneten «bei
Bergwanderungen, bei denen der Versicherte gebahnte Wege benützt oder das
abseits von solchen begangene Gelände auch für Ungeübte leicht gangbar ist»
Ferner bestimmt Art. 8 Ziff. 2: «Hat der Versicherungsnehmer oder
Anspruchsberechtigte den Unfall grobfahrlässig herbeigeführt, so ist die
Gesellschaft berechtigt, ihre Leistungen

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in einem dem Grade des Verschuldens entsprechenden Verhältnis zu kürzen,
wenigstens aber um 50 %.»
Der Klage des Vaters der Verunfallten auf Auszahlung von Fr. 7000.­ nebst Zins
gegenüber machte die Beklagte geltend, es liege kein durch die Police
gedecktes Unfallereignis vor, da die Versicherte im Abstieg weder auf einem
gebahnten Wege noch in einem für Ungeübte leicht gangbaren Gelände auf hartem
Schnee ausgeglitten und zu Tode gestürzt sei.
B. ­ Sowohl das Amtsgericht Luzern-Stadt als das Obergericht des Kantons
Luzern, letzteres nach einem Augenschein, haben die Einwendung verworfen und
die Klage in vollem Umfange geschützt. Nach den Feststellungen des
Obergerichts trug sich der Unfall wie folgt zu:
Bevor die Partie um 10 Uhr bei schönem Wetter von der Schwägalp aufbrach,
erkundigte sich der 18-jährige Georg Vogelsanger beim Schwägalpwirt, ob man
nach Tierwies gehen könne, was der Wirt bejahte, da der Weg am Vortage von
andern Touristen begangen worden war. Der Partie Vogelsanger folgte in kurzem
Abstand Lehrer Seidenmann aus Zürich mit seinem Töchterchen. Der gut
ausgebaute, im Sommer stark begangene Weg war bis oberhalb der sogenannten
Mausefalle schneefrei und gefahrlos begehbar. Nach einer kurzen Strecke
weichen Schnees begann ein zusammenhängendes hartes bis sehr hartes
Schneefeld, das im untern Teil ein hartgetretenes Trasse, im obern gute, nicht
zu weit auseinanderliegende und guterhaltene Stufen («Badewannen») aufwies,
die vier Tage vorher von Touristen hergestellt und von weitern Partien
benutzt, dem im obern Teil nur noch stellenweise sichtbaren Sommerweg folgten,
jedoch einige Kehren desselben abschnitten. An einer Stelle, wo sich das
Trasse in zwei Spuren teilte, hielten die beiden Partien an. Georg Vogelsanger
hiess seine Begleiter warten und entfernte sich mit dem Bemerken, er wolle den
Weg rekognoszieren. Fräulein Vogelsanger setzte sich in den Schnee, den

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Rücken gegen den steilen Hang, die Füsse im Trasse. Nach ungefähr einer Stunde
erschien etwa hundert Meter über den Wartenden im felsigen Gelände Georg
Vogelsanger wieder und rief diesen zu, an Ort und Stelle auf ihn zu warten. Da
Georg Vogelsanger von seinem Standort aus auf einem andern Weg das Trasse
etwas weiter unten erreichen zu wollen schien, fasste Seidenmann den Zuruf
dahin auf, man solle umkehren und absteigen. Anscheinend in der gleichen
Meinung begann auch Fräulein Vogelsanger, gefolgt vom jüngern Neffen, in den
Stufen abwärts zu steigen. Einige Meter unterhalb der Spitzkehre sahen ihre
Neffen sie plötzlich unmittelbar unterhalb des Trasses sitzend den
hartgefrorenen Schneehang hinabgleiten und dann, sich überschlagend, im
Couloir verschwinden. Am späten Nachmittag wurde ihre Leiche einige hundert
Meter unterhalb der Abrutschstelle geborgen.
In rechtlicher Beziehung führt die Vorinstanz aus:
Unter einem gebahnten Weg im Sinne der allgemeinen Versicherungsbedingungen
sei ein künstlich erstellter und für die Benützung ausgetretener Weg zu
verstehen, der auch von Bergungeübten ohne Gefahr in aufrechter Stellung
begangen werden könne. Massgebend sei dabei die von der Verunfallten bis zur
Raststelle zurückgelegte Strecke. Bis zum Beginn des zusammenhängenden
hartgefrorenen Schneefeldes habe die Aufstiegsroute zweifellos einen gebahnten
Weg in diesem Sinne dargestellt. Von dieser Stelle an sei der Schnee
allerdings hart bis sehr hart, nicht etwa nur eine leicht eindrückbare
Harstdecke gewesen; immerhin habe man ohne Eispickel oder Steigeisen mit den
blossen Nagelschuhen Tritte schlagen, den Schnee «kerben» und so auch neben
dem Trasse gehen können. Bis zur Unfallstelle habe am Unfalltag ein Trasse aus
a Badewannen" bestanden, das auch nichtgeübten Berggängern mit guten Schuhen
ein sicheres Gehen ohne weiteres erlaubt habe; in den Badewannen habe man,
nach der Aussage des Säntiswartes, gar nicht ausgleiten können. Der Zeuge
Seidenmann bestätige diesen Eindruck,

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immerhin mit dem Beifügen, erst beim Abstieg habe man sich von der Gefahr
Rechenschaft gegeben, wobei man allerdings vom Unfall beeindruckt gewesen sei.
Die Vorinstanz stellt fest, dass die Partien Vogelsanger und Seidenmann der
Auffassung gewesen seien, der Aufstieg sei trotz dem harten Schnee auch für
Ungeübte ohne Gefahr, und der bergerfahrene Säntiswart bestätige diese
Meinung. Von der Stelle an, wo sich das Trasse in zwei Spuren teilte, sei der
Aufstieg allerdings schwieriger geworden. Allein nun sei Halt gemacht und nach
Rekognoszierung durch Georg Vogelsanger die Tour abgebrochen worden. Der
Unfall sei offenbar so eingetreten, dass Fräulein Vogelsanger beim Abstieg vom
Rastplatz einen Misstritt getan habe und ins Rutschen gekommen sei. Sie habe
sich dabei auf einem gebahnten Weg im Sinne von Art. 2 der AVB oder, falls man
die Stufen im Schnee nicht als solchen betrachten wollte, doch mindestens in
einem auch für Ungeübte leicht gangbaren Gelände befunden, sodass der Unfall
durch die Versicherung gedeckt sei. Auch eine grobe Fahrlässigkeit, die eine
Kürzung der Entschädigung zulassen würde, liege nicht vor.
a. ­ Mit der vorliegenden Berufung beantragt die beklagte
Versicherungsgesellschaft Abweisung der Klage. Sie macht geltend, beim
benutzten Trasse könne weder von einem gebahnten Weg noch von einem auch für
Ungeübte leicht gangbaren Gelände gesprochen werden. Der im Sommer dort
vorhandene gebahnte Weg sei zur Zeit des Unfalls unter einer Schneedecke
verschwunden gewesen. Die in den Schnee geschlagenen Tritte könnten diesen Weg
nicht ersetzen und selbst nicht als gebahnter Weg bezeichnet werden. ­ Der
Kläger trägt auf Bestätigung des angefochtenen Urteils an.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. ­ Die Beklagte anerkennt, dass der Weg, der von der Schwägalp über die sog.
Mausefalle nach Tierwies führt, im normalen, schneefreien Zustande die
Voraussetzungen

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erfüllt, die an einen gebahnten Weg im Sinne der Police zu stellen sind.
Darüber kann in der Tat kein Zweifel bestehen; denn es handelt sich um einen
angelegten, nach der Vorinstanz sogar um einen gut ausgebauten Weg. Unter
einem gebahnten Weg ist nicht ein angelegter, ausgebauter Weg zu verstehen.
Den Gegensatz zur Wanderung auf gebahntem Wege bildet die Wanderung über
gänzlich weglose Matten, Geröllhalden und Felsen. Es frägt sich nur, ob im
Zeitpunkt des Unfalls von einem gebahnten Weg deswegen nicht gesprochen werden
konnte, weil das Trasse des angelegten Erdweges an der Unfallstelle mit einer
harten Schneefläche bedeckt war.
Es kann indessen nicht zweifelhaft sein, dass unter gebahntem Weg nicht
notwendig ein aperer Weg zu verstehen ist; denn das würde dazu führen, die
Versicherungsdeckung auch auf ganz ungefährlichen Bergwanderungen zeitweise
auszuschliessen, nämlich dann, wenn die im Gelände angelegten Wege
streckenweise durch Schneedecken unterbrochen werden. Es käme diesfalls eine
Haftbarkeit der Versicherung nur noch dann in Frage, wenn das Gelände «auch
für Ungeübte leicht gangbar ist», was in solchen Fällen oft zum mindesten in
Zweifel gezogen werden könnte. Die Beklagte selbst scheint Gegenteiliges nicht
behaupten zu wollen; denn sie spricht in ihrer Berufungsschrift von ständigen
Schneewegen, die sie als gebahnte Wege anerkennt. Es ist aber nicht
einzusehen, warum ein in solider Schneefläche derart hergestellter, geradezu
«angelegter» Weg deshalb anders beurteilt werden sollte, weil Schnee nur
zeitweilig dort liegt. Ob und inwieweit dem Umstand, dass ein im Sommer aperer
gebahnter Erdweg im Herbst streckenweise mit Schnee bis zur gänzlichen
Unsichtbarkeit überdeckt ist, rechtliche Relevanz zukommt, braucht hier nicht
entschieden zu werden. Denn es befand sich in der harten Schneedecke ein
gebahnter Weg, nachdem wenige Tage zuvor berggewohnte Touristen in dieselbe
die «Badewannen», also ziemlich tiefe Trittlöcher geschlagen hatten, in die

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man die Füsse setzen konnte. Dass diese Stufenspur, die im wesentlichen dem
Sommerweg folgte, einige Kehren des letzteren abschnitt, kann dabei nicht von
entscheidender Bedeutung sein; denn wie die Vorinstanz die Zeugenaussagen
namentlich des Säntiswartes und eines Angestellten der Schwebebahn würdigte,
waren die Vertiefungen technisch richtig, in richtigen Abständen angelegt und
gross genug, um einem einigermassen berggewohnten Gänger ein sicheres
Aufsteigen zu ermöglichen. Der Aussage des Zeugen Seidenmann, der einzelne
Tritte bemerkte, in die man die Schuhe nicht habe einschieben können, steht
die verbindliche Würdigung der Vorinstanz gegenüber, dass sie sehr gut und
gross gewesen seien. Das muss genügen, um den Schneeweg als gebahnten zu
qualifizieren; denn aus der Gleichstellung des gebahnten Weges mit dem
Gelände, das auch für Ungeübte leicht gangbar ist, muss geschlossen werden,
dass jede Anbahnung, die den Weg auch für solche leicht begehbar macht, jenem
Begriff entspricht. Dies war hier nach der Würdigung der tatsächlichen
Verhältnisse durch die Vorinstanz der Fall.
Sobald dann der im Schnee angelegte Stufenweg sich in zwei ­ offenbar weniger
gute ­ Spuren teilte und Unsicherheit über die weitere Aufstiegsroute
entstand, mithin der Weg schwieriger wurde, hielt Frl. Vogelsanger mit dem
jüngern der Neffen an und liess den ältern allein auf Rekognoszierung
ausgehen. Erst nachdem der Entschluss zur Umkehr gefasst und Frl. Vogelsanger
im Abstieg begriffen war, geschah das Unglück, und zwar auf dem vorher
benutzten Stufenweg. Dass der Abstieg auf einem solchen erfahrungsgemäss
heikler ist, weil man im Setzen der Tritte hangauswärts weniger Sicherheit
hat, ändert nichts daran, dass sich die Verunfallte auf gebahntem Wege befand.
2. ­ Nur unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 Abs. 2 AVB, wonach der Versicherer
die Entschädigung bei grobfahrlässiger Herbeiführung des Unfalles wenigstens

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um 50 % kürzen kann, fällt in Betracht, was die Beklagte in der
Berufungsschrift über die besondere Gefährlichkeit der Tour angesichts der
Wegverhältnisse ausführt, immerhin ohne jene Bestimmung anzurufen oder eine
Reduktion der Entschädigung zu beantragen. Auch die Beklagte anerkennt, dass
die Säntistour auf der eingeschlagenen Route bei aperem Wege auch für einen
nicht berggewohnten Gänger keine besondere Gefahr bietet. Nun kann freilich
durch besondere Weg-, Witterungs- und namentlich die Schneeverhältnisse ein
sonst harmloser Weg, ohne deswegen seine Eigenschaft als gebahnter Weg zu
verlieren, so gefährlich werden, dass er durch nicht berggewohnte Gänger nicht
ohne erhebliches Risiko begangen werden kann. Die verunfallte Fräulein
Vogelsanger war weder besonders berggewohnt noch gänzlich ungewohnt, auch
nicht mit einer besondern Bergausrüstung versehen, die ihr erlaubt hätte,
ausserordentliche Gefahren leichter zu bestehen. Sie trug jedoch
kappennägelbeschlagene Bergschuhe und einen Bergstock mit Eisenspitze. Diese
Ausrüstung genügte für eine Säntisbesteigung auf den üblichen Wegen.
Hinsichtlich des subjektiven Verschuldens kommt hinzu, dass ihr Neffe sich vor
dem Abmarsch beim Schwägalpwirt, dem man zuverlässige Kenntnis der
Verhältnisse zutrauen durfte, erkundigt hatte, ob man den Aufstieg unternehmen
dürfe, und bejahenden Bescheid erhalten hatte. Dass der Wirt dabei der Meinung
war, der junge Mann stelle die Frage nur für sich, mit Bezug auf die Tante und
den jüngern Bruder aber eher Bedenken geäussert haben würde, konnte der
Fragesteller nicht wissen, und wenn man ihm selbst einen Vorwurf machen
wollte, den Wirt über die Zusammensetzung der Partie nicht genügend
unterrichtet zu haben, so würde dieses Verschulden nicht die Verunfallte
treffen. Diese durfte sich bei der von ihrem Neffen überbrachten Auskunft des
Wirtes beruhigen. Ein Verschulden kann auch darin nicht erblickt werden, dass
sie den Aufstieg fortsetzte, als sie in das Schneegebiet kam. Auch hier konnte
sie

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schon die Auskunft des Schwägalpwirtes entlasten, der ja wusste, dass Schnee
lag, und dessen Auskunft sich also auf die gegebenen Verhältnisse bezog. Die
Bestätigung derselben durfte Fräulein Vogelsanger im Vorhandensein des
Badewannentrasses im Schnee erblicken, auf dem andere den Weg auch mit Erfolg
zurückgelegt hatten. Das Unglück ist denn auch nicht beim Aufstieg, sondern
beim Rückweg erfolgt, den sie gerade deswegen einschlug' um den nunmehr
gefährlicher werdenden Weg nicht fortzusetzen. Diese Umkehr zeigt auch, dass
die Verunfallte sich nicht blindlings auf die Auskunft des Wirtes versteifte,
sondern mitten in der Ausführung des Vorhabens ihre Fähigkeiten an den
Verhältnissen mass und die Konsequenzen zog. Es lag also auch in diesem
Rückzug kein Verschulden. Was dann unmittelbar zum Unfall führte, ist nicht
abgeklärt; jedenfalls ist nichts festgestellt' worin eine grobe Fahrlässigkeit
läge. Wenn ihr Ausgleiten einem Mangel an besonderer Erfahrung und Technik
zuzuschreiben ist, so kann er ihr nicht zum groben Verschulden angerechnet
werden, nachdem die Benutzung dieses Weges an sich kein solches darstellte.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des Kantons
Luzern vom 21. Juli 1948 bestätigt.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 74 II 251
Datum : 01. Januar 1948
Publiziert : 25. November 1948
Quelle : Bundesgericht
Status : 74 II 251
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Private Unfallversicherung, Risiko von Bergunfällen auf Schnee: Begriff a gebahnter Weg» und «für...


BGE Register
74-II-251
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
schnee • beklagter • neffe • stelle • vorinstanz • tourist • weiler • gefahr • zeuge • schuh • frage • grobe fahrlässigkeit • zweifel • tag • richtigkeit • bundesgericht • versicherer • entscheid • wetter • jahreszeit
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