BGE 74 II 1
1. Urteil der II. Zivilabteilung vom 18. März 1948 i. S. Guignard gegen
Guignard.
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Regeste:
Scheidungsklage nach gerichtlicher Trennung.
Begriff der Alleinschuld im Sinne von Art. 148 Abs. 1 ZGB. Berücksichtigung
vor dem Trennungsurteil eingetretener Tatsachen, die in dem zur Trennung
führenden Prozesse nicht vorgebracht worden waren (Art. 148 Abs. 3 ZGB).
Action en divorce après un jugement de séparation de corps.
Notion de la faute exclusive, dans le sens de l'art. 148 al 1 CC. Prise en
considération de faits antérieurs au jugement de séparation de corps mais non
allégués dans la procédure qui a abouti à ce jugement (art. 148 al. 3 CC).
Azione di divorzio consecutiva alla separazione personale
Concetto della colpa esclusiva ai sensi dell'art. 148 cp. 1 CC. Fatti
antecedenti al giudizio di separazione, ma non allegati nella procedura
relativa ad esso (art. 148 cp. 3 CC).
A. - Der im Jahre 1905 geborene Kläger und die 7 Jahre ältere Beklagte
heirateten sich am 7. Mai 1927. Sie lebten in der Folge auf dem Bauerngute,
das die Familie der Beklagten im Kanton Genf bewirtschaftete. Der Kläger trat
der strenggläubigen Religionsgemeinschaft bei, der die Beklagte und ihre
Familie angehörten. Aus der Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen.
Um einen eigenen Haushalt zu gründen, mietete der Kläger im Februar 1935 ein
kleines Haus. Die Beklagte, mit der er sich hierüber nicht zum voraus
verständigt hatte, weigerte sich jedoch, ihm zu folgen, weil sie sich nicht
von ihrer Familie trennen wollte. Der Kläger kündigte hierauf die Miete und
kehrte in den Haushalt der Schwiegereltern zurück, arbeitete aber auswärts.
Nach einer Prügelei mit den Angehörigen der Beklagten trennte sich der Kläger
am 1. Dezember 1935
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endgültig von ihr. Im Sommer 1936 übersiedelte er in den Kanton Zürich.
B. - Im Januar 1935 verlangte die Beklagte die Trennung der Ehe auf
unbestimmte Zeit. Sie warf dem Kläger u. a. Ehebruch und schwere Ehrenkränkung
vor. Der Beklagte erhob Widerklage auf Scheidung wegen tiefer Zerrüttung. Er
berief sich auf Unvereinbarkeit der Gemütsart (incompatibilité d'humeur) und
auf die Tatsache, dass die Beklagte sich geweigert habe, das väterliche Haus
zu verlassen. Mit Urteil vom 3. Februar 1938 schützte das Gericht erster
Instanz von Genf das Trennungsbegehren der Beklagten, weil der Kläger mit
Fräulein F. unerlaubte Beziehungen unterhalte, die für die Beklagte
beleidigend seien. Die Widerklage wies es auf Grund von Art. 142 Abs. 2 ZGB
ab, weil nicht dargetan sei, dass die zweifellos bestehende Missstimmung in
der Ehe schon vorhanden gewesen sei, bevor der Kläger das Liebesverhältnis mit
Fräulein F. angeknüpft habe, was lange vor September 1935 geschehen sei, und
weil der Kläger auf die Gründung eines eigenen Hausstandes verzichtet habe.
C. - Nachdem die gerichtliche Trennung mehr als 8 Jahre gedauert hatte,
reichte der Kläger am 12. Juli 1946 die vorliegende Scheidungsklage ein, die
er auf Art. 142 und 148 ZGB stützt. Das Bezirksgericht wies sie gemäss Antrag
der Beklagten ab, weil der Kläger als ausschliesslich schuldiger Teil im Sinne
der Rechtsprechung zu Art. 148 Abs. 1 ZGB zu betrachten sei, und weil er sich
nicht auf Art. 148 Abs. 2 ZGB berufen könne. Das Obergericht des Kantons
Zürich dagegen hat am 15. November 1947 die Scheidung ausgesprochen mit der
Begründung, der Kläger sei zwar wegen seines ehewidrigen, ja ehebrecherischen
Verhältnisses mit Fräulein F., das während der Trennung fortbestanden habe,
nach wie vor der überwiegend schuldige Gatte; neben seinen Verfehlungen seien
aber auch objektive Umstände und ein gewisses Mitverschulden der Beklagten für
den Niedergang der Ehe verantwortlich; da es sich dabei nicht nur um
Bagatellen,
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sondern um Zerrüttungsursachen von einigem Gewicht handle, könne der Kläger
nicht als alleinschuldig gelten.
D. - Dieses Urteil hat die Beklagte an das Bundesgericht weitergezogen mit dem
Antrag auf Abweisung der Klage.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Ist der Scheidungsklage ein Trennungsurteil vorausgegangen und die darin
festgesetzte Trennungszeit, bei Trennung auf unbestimmte Zeit eine Frist von
drei Jahren abgelaufen, ohne dass eine Wiedervereinigung erfolgt wäre (Art.
147 Abs. 2 und 3 ZGB), so muss nach Art. 148 Abs. 1 ZGB die Scheidung
ausgesprochen werden, es sei denn, dass sie auf Tatsachen gegründet werde, die
ausschliesslich den nunmehr die Scheidung verlangenden Ehegatten als schuldig
erscheinen lassen. Im Unterschied zur Scheidung oder Trennung gemäss Art. 142
ZGB kann also die Scheidung gemäss Art. 148 ZGB auch vom überwiegend
schuldigen Gatten gegenüber dem weniger schuldigen durchgesetzt werden, ja es
kann nach dieser letzten Bestimmung sogar ein schuldiger Gatte gegen den
schuldlosen klagen, sofern neben dem Verschulden des klagenden Gatten auch
noch objektive Momente, d. h. solche Umstände zum Zerwürfnis beigetragen
haben, die keinem Teil zum Verschulden anzurechnen sind. Der erwähnte
Vorbehalt soll nur verhindern, dass die Scheidung von einem Gatten erzwungen
werden kann, der sein Begehren nur mit seinem eigenen Verschulden zu begründen
vermag. Die deutsche Fassung von Art. 148 Abs. 1 ZGB ist in diesem Punkte
freilich nicht ganz eindeutig. Die beiden romanischen Fassungen lassen dagegen
klar erkennen, dass die Scheidung nicht schon dann ausgeschlossen ist, wenn
sich ergibt, dass ein Verschulden nur beim klagenden Gatten vorliegt, sondern
bloss dann, wenn das Zerwürfnis ausschliesslich auf das Verschulden dieses
Gatten zurückzuführen ist; denn es heisst hier, die Scheidung sei nach Ablauf
der Trennung auszusprechen, «à
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moins que les faits justificatifs de l'action ne soient exclusivement à la
charge du demandeur» «eccettochè i fatti determinanti fossero imputabili ad
esclusiva colpa del coniuge che la ripropone» (d. h. che ripropone l'azione).
Dass das Zerwürfnis ausschliesslich dem Kläger zur Last zu legen bezw. seiner
Alleinschuld zuzuschreiben sei, ist nicht nur im Falle des Mitverschuldens des
beklagten Teils, sondern auch beim Vorhandensein objektiver
Zerrüttungsursachen zu verneinen.
Um die Annahme zu rechtfertigen, dass das zulasten des Klägers festgestellte
Verschulden nicht die einzige Ursache des Zerwürfnisses und daher gemäss Art.
148 ZGB kein Hindernis für die Scheidungsklage sei, genügt nach der
Rechtsprechung immerhin nicht jedes noch BO geringfügige Verschulden des
beklagten Teils und nicht jeder objektive Zerrüttungsfaktor. Vielmehr bleibt
das Klagerecht dem schuldigen Gatten trotz dem Vorliegen solcher Momente
versagt, wenn sie im Vergleich zu seinem Verschulden von so geringer Bedeutung
sind, dass sie praktisch nicht ins Gewicht fallen (BGE 69 II 356, 71 II 203),
sodass ihre Berücksichtigung als Mitursache des Zerwürfnisses gegen Recht und
Billigkeit verstiesse (Art. 4
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 4 - Wo das Gesetz das Gericht auf sein Ermessen oder auf die Würdigung der Umstände oder auf wichtige Gründe verweist, hat es seine Entscheidung nach Recht und Billigkeit zu treffen. |
Sinne von Art. 148 Abs. 1 ZGB durch ein Mitverschulden des beklagten Gatten
oder durch eine objektive Zerrüttungsursache nicht nur dann ausgeschlossen,
wenn diese Momente, für sich allein genommen, geradezu einen Scheidungsgrund
bilden. Würde der Gatte, der schuldhaft einen Scheidungsgrund gesetzt hat,
immer dann als alleinschuldig angesehen, wenn neben seinen Verfehlungen keine
Momente vorliegen, die schon für sich allein die Scheidung zu rechtfertigen
vermöchten, so verlöre der Fall des Alleinverschuldens den Charakter der
seltenen Ausnahme, der ihm bei der Gesetzesberatung beigemessen wurde (BGE 43
II 464, StenB 1905 S. 1028, 1067). Eine so starke Ausweitung des Begriffs der
Alleinschuld wäre auch mit dem Gesetzeswortlaut kaum verträglich. Der
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Entscheid BGE 69 II 356 lässt sich unter diesen Umständen nicht mit der
Erwägung stützen, die in jenem Falle der Beklagten vorgeworfenen Unarten haben
«keinen Scheidungsgrund», gebildet und «daher» am alleinigen Verschulden des
Klägers nichts zu ändern vermocht, sondern nur mit der Erwägung, die
unangenehmen Eigenschaften der Beklagten seien neben den Verfehlungen des
Klägers praktisch nicht ins Gewicht gefallen.
Im vorliegenden Falle hat die Vorinstanz festgestellt, neben dem schwer
ehewidrigen Verhältnis des Klägers mit Fräulein F. seien für die Zerrüttung
auch sexuelle Schwierigkeiten verantwortlich, die entstanden seien, weil die
Beklagte den ehelichen Verkehr aus religiösen Gründen nur zur Zeugung von
Kindern habe zulassen wollen, wogegen der Kläger hierüber mit der Zeit freiere
Anschauungen angenommen habe. Ausserdem habe das Zusammenleben mit der Familie
der Beklagten zu starken Spannungen geführt. Der Brief der Beklagten vom 21.
Februar 1935, der u. a. Anschuldigungen ihrer Mutter gegen den Kläger erwähne,
sowie der schwere Auftritt vom 1. Dezember 1935 seien in dieser Hinsicht
bezeichnend. Das gespannte Verhältnis zwischen dem Kläger und den Angehörigen
der Beklagten habe auf die Ehe einen unheilvollen Einfluss ausgeübt. Von
diesen objektiven Zerrüttungsmomenten lässt sich nicht sagen, sie seien im
Verhältnis zu den vom Kläger begangenen Verfehlungen so geringfügig, dass es
unbillig wäre, sie als Mitursache des bestehenden Zerwürfnisses zu
berücksichtigen. Auf Grund der tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz
erscheint daher der Kläger im Sinne von Art. 148 Abs. 1 ZGB nicht als
alleinschuldig.
2.- Die Beklagte will diese Feststellungen freilich nicht als massgebend
anerkennen. Sie macht geltend, der Kläger hätte die im vorliegenden Verfahren
erwähnten sexuellen Schwierigkeiten schon zur Begründung seiner Widerklage auf
Scheidung anführen können und sollen; heute sei er mit dieser Behauptung
ausgeschlossen. Zur
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Frage des Zusammenlebens der Parteien mit der Familie der Beklagten habe der
Trennungsrichter festgestellt, dass der Kläger auf die Gründung eines eigenen
Hausstandes verzichtet habe, sodass die Vorinstanz nicht befugt gewesen sei,
auf diese Frage zurückzukommen. Diese Einwendungen gehen fehl.
a) Gemäss BGE 71 II 201 ff. dürfen in dem nach Ablauf der Trennung
eingeleiteten Scheidungsverfahren vor der Trennung eingetretene Tatsachen
angerufen werden, die im Trennungsprozess nicht vorgebracht worden waren. Das
gilt auch zugunsten des Gatten, der seinerzeit die Scheidung verlangt hatte.
Die Vorinstanz hat also die neue Behauptung des Klägers, dass in der Ehe
sexuelle Schwierigkeiten aufgetreten seien, mit Recht berücksichtigt.
b) Im frühern Verfahren hatte sich der Kläger neben der Unvereinbarkeit der
Gemütsart lediglich darauf berufen, dass die Beklagte sich geweigert habe, ihr
Elternhaus zu verlassen. Dass das Zusammenleben mit ihren Angehörigen zur
Zerrüttung der Ehe beigetragen habe, hatte er damals nicht behauptet.
Demgemäss spricht sich das Trennungsurteil hierüber auch nicht aus. Aus der
Feststellung, dass der Kläger auf den Bezug einer eigenen Wohnung verzichtete,
ergibt sich höchstens, dass er der Beklagten die erwähnte Weigerung später
nicht mehr zum Vorwurf machen konnte. Dagegen bedeutet diese Feststellung
nicht, dass die Hausgemeinschaft mit Familie Alder auf die Ehe keinen
nachteiligen Einfluss gehabt habe. Bei der Behauptung, das Zusammenleben mit
der Familie der Beklagten habe die Zerrüttung mitverursacht, handelt es sich
also wie bei der Behauptung sexueller Schwierigkeiten um das Vorbringen einer
zwar vor der Trennung eingetretenen, im Trennungsverfahren aber nicht
angerufenen und vom Trennungsrichter nicht untersuchten Tatsache, das die
Vorinstanz gemäss BGE 71 II 201 ff. frei würdigen durfte.
Bei den angefochtenen Feststellungen muss es daher sein Bewenden haben.
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3.- Sind die Verfehlungen des Klägers nicht die einzige rechtserhebliche
Ursache des Zerwürfnisses, so hat die Vorinstanz die mehr als drei Jahre nach
dem Trennungsurteil angehobene Scheidungsklage mit Recht geschützt, ohne zu
prüfen, ob der Kläger der Beklagten entgegenhalten könnte, sie habe im Sinne
von Art. 148 Abs. 2 ZGB die Wiedervereinigung verweigert
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des Kantons
Zürich vom 15. November 1947 bestätigt.