S. 274 / Nr. 51 Doppelbesteuerung (d)
BGE 74 I 274
51. Auszug aus dem Urteil vom 28. Oktober 1948 i. S. Schweizerische Schälmühle
E. Zwicky A.-G. gegen Kantone Graubünden und Thurgau.
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Regeste:
Doppelbesteuerung; Verwirkung des kantonalen Besteuerungsrechtes bei
verspäteter Veranlagung: Verspätete Erhebung der Grundsteuer von einem ausser
Kanton wohnhaften Liegenschaftseigentümer kann von den Steuerbehörden nicht
mit Unkenntnis der im Grundbuch eingetragenen Handänderung entschuldigt
werden.
Double imposition; déchéance du droit d'imposition d'un canton en cas
d'établissement tardif de l'assiette de l'impôt: S'agissant d'un immeuble
appartenant à un contribuable domicilié hors du canton, la perception tardive
de l'impôt foncier ne peut être excusée par le fait que l'autorité fiscale
n'aurait pas eu connaissance de la mutation inscrite au registre foncier.
Doppia imposta; perenzione del diritto d'imposizione del fisco cantonale in
caso di tassazione tardiva: La riscossione tardiva dell'imposta fondiaria
dovuta da un contribuente domiciliato fuori dal cantone non è scusabile pel
fatto che l'autorità fiscale non era a conoscenza della mutazione iscritta nel
registro fondiario.
Aus dem Tatbestand:
Die Beschwerdeführerin, eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Müllheim (Kt.
Thurgau), ist auf Grund ihrer per 30. Juni 1944 bzw. 1945 abgeschlossenen
Bilanzen im Kanton Thurgau für die Steuerjahre 1945 und 1946 für ihr gesamtes
Vermögen veranlagt worden und hat die Steuern für diese Jahre jeweils bis zum
Jahresende vorbehaltlos bezahlt. Nachdem das thurgauische Steuerkommissariat
anlässlich der Einschätzung für 1947 auf Grund der Bilanz per 30. Juni 1946
festgestellt hatte, dass die Beschwerdeführerin Ende September 1945 die
Liegenschaft Münzmühle in Chur gekauft hatte, benachrichtigte es am 29.
Dezember 1947 die bündnerische Steuerverwaltung hievon. Daraufhin stellte
diese der Beschwerdeführerin im Laufe des Januars 1948 eine Veranlagung zur
Vermögens steuer für die Zeit vom 1. Oktober 1945 bis 31. Dezember 1946 (15
Monate) zu.
Gegenüber der vorliegenden Beschwerde wegen Doppelbesteuerung für diese Zeit
macht der Kanton Thurgau
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geltend, Graubünden habe seinen Steueranspruch erst nach Ablauf der
Steuerjahre erhoben und daher verwirkt, während der Kanton Graubünden sich
darauf beruft, dass er erstmals am 29. Dezember 1947 vom Erwerb der Münzmühle
Chur durch die Beschwerdeführerin Kenntnis erhalten habe und hierauf
unverzüglich zur Einschätzung geschritten sei.
Das Bundesgericht hat die Beschwerde gegenüber dem Kanton Graubünden
gutgeheissen.
Aus den Erwägungen:
(Es wird zunächst festgestellt, dass die Voraussetzungen der Verwirkung [vgl.
BGE 74 I 271 ] zweifellos insoweit erfüllt sind, als der Kanton Graubünden mit
der Veranlagung ungebührlich lange zugewartet hat und der Kanton Thurgau bei
Gutheissung des bündnerischen Steueranspruchs zur Rückzahlung von Steuern
verpflichtet werden müsste, die er in Unkenntnis jenes Steueranspruchs bezogen
hat.)
Fraglich kann einzig sein, ob die kantonale Steuerverwaltung Graubündens, als
sie zu Anfang des Jahres 1948 gegenüber der Beschwerdeführerin den
Steueranspruch für die Zeit vom 1. Oktober 1945 bis 31. Dezember 1946 erhob,
vom Übergang der Münzmühle Chur auf die Beschwerdeführerin schon seit längerer
Zeit Kenntnis hatte oder doch Kenntnis haben konnte...
Auf dass von einer Veranlagungsbehörde gesagt werden kann, sie könne einen
Tatbestand kennen, genügt es, dass ihr zugemutet werden kann, diesen
Tatbestand zu kennen. Ob ein Verschulden der Veranlagungsbehörde vorliegt oder
nicht, ist nicht von entscheidender Bedeutung. Eine Verwirkung tritt selbst
dann ein, wenn das Gesetz die Verzögerung ermöglicht (nicht publizierte
Entscheide des Bundesgerichts i. S. Löliger vom 17. Juni 1946 S. 9; i. S.
Bluntschli vom 22. April 1948 S. 8)...
Der Verkauf der Münzmühle Chur an die Beschwerdeführerin war aus dem Grundbuch
Chur ersichtlich, das der
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kantonalen Steuerverwaltung zur Einsicht offen stund. Diese war daher in der
Lage, von jenem Verkauf schon im Jahre 1945 Kenntnis zu nehmen. Wie das
Bundesgericht bereits entschieden hat, kann sich eine Veranlagungsbehörde
nicht darauf berufen, dass sie Handelsregistereinträge oder die polizeilichen
Anmeldungen der von auswärts zuziehenden Personen nicht gekannt habe (BGE 50 I
S. 105; nicht publizierter Entscheid des Bundesgerichts i. S. Spörry vom 5.
Mai 1939 S. 6). Das Gleiche muss auch für die Grundbucheintragung gelten. Um
den Veranlagungsbehörden die Arbeit zu erleichtern, kann das Gesetz die
Grundbuchführer als Hilfsorgane der Steuerbehörden beiziehen. So bestimmt denn
auch Art. 59 Abs. 2 des geltenden bündnerischen Steuergesetzes: «Die
Grundbuchführer haben der Steuerverwaltung von jeder Handänderung spätestens
innert Monatsfrist Kenntnis zu geben.» Ist dieses Steuergesetz auch erst in
der Volksabstimmung vom 16. Dezember 1945 angenommen worden, so ist es doch
rückwirkend auf den 1. Januar 1945 in Kraft gesetzt worden, so dass spätestens
im Jahre 1946 die Grundbuchführer alle im Jahre 1945 erfolgten Handänderungen
der kantonalen Steuerverwaltung zu melden hatten. Vernachlässigt ein
Grundbuchführer die ihm als Hilfsorgan der Veranlagungsbehörden obliegenden
Pflichten, so ist dieses Verhalten einer Pflichtverletzung der
Veranlagungsbehörde gleichzustellen. Sollte aber der Gesetzgeber den
Veranlagungsbehörden nicht die Hilfskräfte zur Verfügung stellen, die nötig
sind, um von den Grundbucheintragungen beförderlichst Kenntnis zu erhalten, so
würde das Gesetz nicht jene Vorschriften enthalten, die nötig sind, um
allgemein eine beschleunigte Einschätzung sicherzustellen. Auch in einem
solchen Falle tritt aber, wie oben ausgeführt wurde, Verwirkung ein. Muss die
Veranlagungsbehörde eine Tatsache kennen, so schliesst der Umstand, dass ihr
der Steuerpflichtige diese Tatsache nicht durch Einreichung einer
Steuererklärung zur Kenntnis brachte, jeden falls dann die Verwirkung nicht
aus wenn der Steuerpflichtige -
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wie im vorliegenden Fall seinen allgemeinen Steuerwohnsitz in einem andern
Kanton hat (nicht publizierte Entscheide des Bundesgerichts i. S.
Simon-Gürtler vom 4. Oktober 1940 S. 5 und vom 4. April 1941 S. 5).
Der Kanton Graubünden hat somit seinen Steueranspruch gegenüber der
Beschwerdeführerin für die Zeit vom 1. Oktober 1945 bis 31. Dezember 1946
verwirkt