S. 11 / Nr. 4 Rechtsgleichheit (Rechtsverweigerung) (d)

BGE 74 I 11

4. Urteil vom 28. April 1948 i. S. Gysin gegen Trotter und
Gemeinderats-Kommission Olten.

Regeste:
BRB über den Aufschub von Umzugsterminen vom 28. Januar 1944 (BAU).
Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör bei der Bewilligung des Aufschubs
und beim Widerruf der Bewilligung.
ACF concernant l'ajournement des termes de déménagement, du 28 janvier 1944.
Droit d'être entendu lorsque l'autorité autorise l'ajournement et lorsqu'elle
révoque cette autorisation.
DCF concernente la proroga del termine dei traslochi (28 gennaio 1944).
Diritto di essere udito quando l'autorità concede la proroga e quando essa la
revoca.

A. ­ Der Beschwerdeführer Walter Gysin war Mieter einer Wohnung im Hause des
Josef Trotter in Olten. Die Miete ging am 1. April 1948 zu Ende. Am 24. März
1948 bewilligte die Gemeinderats-Kommission Olten dem Beschwerdeführer die
Verschiebung des Umzugs bis spätestens 1. Oktober 1948. Auf ein
Wiedererwägungsgesuch des Vermieters Trotter hab sie jedoch diese Bewilligung
am 29. März wieder auf und teilte das Gysin am 30. März mit.
B. ­ Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 6. April 1948 beantragt Walter
Gysin, diesen Wiedererwägungsbeschluss wegen Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV (Willkür
und Verweigerung des rechtlichen Gehörs) aufzuheben. Er macht geltend:
a) Art. 2 Abs. 2 BAU, wonach Entscheide der Gemeindebehörden endgültig seien,
schliesse die Wiedererwägung

Seite: 12
aus. Jedenfalls sei diese aber nur bei neuen Gründen zulässig, woran es hier
fehle.
b) Dem Beschwerdeführer sei vom Wiedererwägungsgesuch keine Kenntnis gegeben
und damit das rechtliche Gehör verweigert worden.
C. ­ Die Gemeinderats-Kommission Olten und der Vermieter Trotter haben sich
nicht vernehmen lassen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Der Anspruch auf rechtliches Gehör folgt aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV für das Verfahren vor
Verwaltungsbehörden nicht im gleichen Umfange wie für den Zivil- und
Strafprozess. Er besteht aber nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts u. a.
dann, wenn die Verwaltungsbehörden auf Grund einer ihnen zum Schutze
öffentlicher Interessen eingeräumten besonderen Befugnis in die Gestaltung
eines Privatrechtsverhältnisses eingreifen, in dem sich die Parteien auf dem
Fusse der Gleichberechtigung gegenüberstehen. Dies ist z. B. der Fall, wenn
darüber zu entscheiden ist, ob eine zivilrechtlich gültige Kündigung im Sinne
des BRB über Massnahmen gegen die Wohnungsnot unzulässig erklärt werden soll
(BGE 70 I 69). In Bezug auf den Aufschub von Umzugsterminen hat das
Bundesgericht in einem Falle, wo innerhalb der Gemeinde zwei Instanzen sich
mit dem Gesuch des Mieters zu befassen hatten, entschieden, dass dieser auf
Grund von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV keinen Anspruch darauf habe, seinen Standpunkt auch vor
der zweiten Instanz vertreten zu können (nicht veröffentlichtes Urteil vom 21.
November 1946 i. S. Wetzel). Im vorliegenden Falle verhält es sich anders. Der
Beschluss der Gemeinderats-Kommission vom 24. März 1948 konnte mit keinem
ordentlichen Rechtsmittel weitergezogen werden, sondern war im Sinne des Art.
2 Abs. 2 BAU endgültig und begründete für die Zeit vom 1. April bis 1. Oktober
1948 ein vertragsähnliches Verhältnis zwischen den bis Ende März durch
Mietvertrag gebundenen Parteien. Die durch einen solchen (formell
rechtskräftigen)

Seite: 13
Entscheid bestimmte Rechtsstellung des Mieters darf nicht zu seinem Nachteil
abgeändert werden, ohne dass ihm Gelegenheit gegeben wird, sich zu den Gründen
zu äussern, die gegen den Entscheid geltend gemacht werden. Das folgt aus den
in BGE 70 I 69 ausgesprochenen Grundsätzen, deren analoge Anwendung sich
aufdrängt.
Ist der angefochtene Beschluss schon aus diesem formellen Grunde aufzuheben,
so braucht zu den übrigen Rügen des Beschwerdeführers nicht Stellung genommen
zu werden. Es wird Sache der zuständigen Gemeindebehörde sein, nach Anhörung
des Beschwerdeführers zu prüfen und zu entscheiden, ob eine Wiedererwägung
auch aus den andern, von ihm geltend gemachten Gründen ausgeschlossen sei.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Beschluss der Gemeinderats-Kommission
Olten vom 29. März 1948 aufgehoben.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 74 I 11
Datum : 01. Januar 1948
Publiziert : 27. April 1948
Quelle : Bundesgericht
Status : 74 I 11
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : BRB über den Aufschub von Umzugsterminen vom 28. Januar 1944 (BAU).Anspruch der Parteien auf...


Gesetzesregister
BV: 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BGE Register
70-I-69 • 74-I-11
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
olten • gemeinderat • bundesgericht • anspruch auf rechtliches gehör • entscheid • miete • willkürverbot • staatsrechtliche beschwerde • anhörung oder verhör • wohnungsnot • kenntnis • verhältnis zwischen • strafprozess • innerhalb • gemeinde • ordentliches rechtsmittel • termin