BGE 73 I 358
55. Urteil der I. Zivilabteilung als staatsrechtlicher Kammer vom 28. Oktober
1947 i. S. Solothurner Handelsbank gegen Obergericht des Kantons Solothurn.
Seite: 358
Regeste:
Die Editionspflicht gemäss Art. 963

SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 963 - 1 Kontrolliert eine rechnungslegungspflichtige juristische Person ein oder mehrere rechnungslegungspflichtige Unternehmen, so muss sie im Geschäftsbericht für die Gesamtheit der kontrollierten Unternehmen eine konsolidierte Jahresrechnung (Konzernrechnung) erstellen. |
unbeteiligten Inhaber eines Geschäftes, das als solches nicht Gegenstand der
Auseinandersetzung ist, keine Geltung.
L'obligation de produire livres et correspondance selon l'art. 963 CO n'existe
pas pour le commerçant qui n'est pas impliqué dans un litige entre des tiers
et dont l'entreprise n'est pas comme telle l'objet de la contestation.
L'obbligo di produrre libri e corrispondenza sancito dall'art. 963 CO non
esiste pel commerciante che non è parte in una lite che verte fra terzi e non
ha per oggetto la di lui azienda come tale.
A. Im Erbschaftsprozess der Margrith Vogt-Wolf und des Otto E. Wolf gegen
Louis F. Wolf erging durch den Gerichtspräsidenten von Solothurn-Lebern an die
Solothurner Handelsbank die mit Strafdrohung für den Unterlassungsfall
verbundene Anordnung, binnen einer Frist von 14 Tagen Ausweise über alle Konti
sowie über den gesamten Bankverkehr bestimmter Familienmitglieder vorzulegen.
Eine Beschwerde der Bank wies das Obergericht des Kantons Solothurn am 24.
April 1947 ab. In seinem Urteil stützte es die Editionsverfügung auf Art. 963

SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 963 - 1 Kontrolliert eine rechnungslegungspflichtige juristische Person ein oder mehrere rechnungslegungspflichtige Unternehmen, so muss sie im Geschäftsbericht für die Gesamtheit der kontrollierten Unternehmen eine konsolidierte Jahresrechnung (Konzernrechnung) erstellen. |
OR.
B. Die Solothurner Handelsbank erhob beim Bundesgericht staatsrechtliche
Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4

SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
der angefochtene Erlass widerspreche Art. 47 lit. b

SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 47 - Bei Tötung eines Menschen oder Körperverletzung kann der Richter unter Würdigung der besonderen Umstände dem Verletzten oder den Angehörigen des Getöteten eine angemessene Geldsumme als Genugtuung zusprechen. |
unvereinbar mit Art. 963

SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 963 - 1 Kontrolliert eine rechnungslegungspflichtige juristische Person ein oder mehrere rechnungslegungspflichtige Unternehmen, so muss sie im Geschäftsbericht für die Gesamtheit der kontrollierten Unternehmen eine konsolidierte Jahresrechnung (Konzernrechnung) erstellen. |
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Gemäss Art. 963

SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 963 - 1 Kontrolliert eine rechnungslegungspflichtige juristische Person ein oder mehrere rechnungslegungspflichtige Unternehmen, so muss sie im Geschäftsbericht für die Gesamtheit der kontrollierten Unternehmen eine konsolidierte Jahresrechnung (Konzernrechnung) erstellen. |
verpflichtet ist, zu deren Vorlegung und zur Vorlegung der
Geschäftskorrespondenz angehalten werden «im Falle von Streitigkeiten, die das
Geschäft betreffen» («dans les contestations relatives à des affaires
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qui concernent l'entreprise», «in caso di controversia che concerna
l'azienda»). Bereits in Art. 879

SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 879 - 1 Oberstes Organ der Genossenschaft ist die Generalversammlung der Genossenschafter. |
Geschäftsbücher und Korrespondenzen statuiert, und zwar «bei Streitigkeiten
über Rechtsverhältnisse, welche aus dem Betriebe eines Geschäftes herrühren».
Diese Formulierung wurde im Revisionsentwurf von 1919 beibehalten, dann aber
von der Expertenkommission als zu eng angesehen und durch diejenige in Art.
963

SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 963 - 1 Kontrolliert eine rechnungslegungspflichtige juristische Person ein oder mehrere rechnungslegungspflichtige Unternehmen, so muss sie im Geschäftsbericht für die Gesamtheit der kontrollierten Unternehmen eine konsolidierte Jahresrechnung (Konzernrechnung) erstellen. |
Bericht vom März 1920 S. 223; Protokoll der Expertenkommission 1924/25 S.
744). Die bundesrätliche Botschaft vom 21. Februar 1928 (S. 108) erläuterte
die Änderung wie folgt:
«Bei Ordnung der Editionspflicht ... beschränkt sich das geltende Recht auf
Streitigkeiten über Rechtsverhältnisse, welche aus dem Betriebe eines
Geschäftes herrühren. Der Entwurf hat diesen Rahmen etwas erweitert und
anerkennt eine solche Pflicht allgemein bei Streitigkeiten, die das Geschäft
betreffen. Solche Streitigkeiten können nicht bloss zwischen dem Inhaber eines
Geschäftes und einem Dritten oder zwischen mehreren Anteilberechtigten an
einem Geschäft entstehen, sondern auch zwischen Aussenstehenden über das
Geschäft, wie z. B. in Erbschaftsprozessen.»
Hieraus erhellt unmissverständlich, was schon aus dem blossen Wortlaut des
Art. 963

SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 963 - 1 Kontrolliert eine rechnungslegungspflichtige juristische Person ein oder mehrere rechnungslegungspflichtige Unternehmen, so muss sie im Geschäftsbericht für die Gesamtheit der kontrollierten Unternehmen eine konsolidierte Jahresrechnung (Konzernrechnung) erstellen. |
italienischen Text), nämlich dass als «Geschäft» die Unternehmung, nicht das
vom Inhaber abgeschlossene Rechtsgeschäft verstanden war, und somit die
Editionspflicht trotz einer gewissen Ausdehnung beschränkt bleiben sollte auf
Streitigkeiten, welche mit oder ohne Beteiligung des Inhabers der Unternehmung
diese als solche zum Gegenstand haben. Ist dem aber so, dann lässt sich
vorliegend die Heranziehung des Art. 963

SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 963 - 1 Kontrolliert eine rechnungslegungspflichtige juristische Person ein oder mehrere rechnungslegungspflichtige Unternehmen, so muss sie im Geschäftsbericht für die Gesamtheit der kontrollierten Unternehmen eine konsolidierte Jahresrechnung (Konzernrechnung) erstellen. |
vertreten, kennt doch das in Frage stehende Verfahren weder die
Beschwerdeführerin als Partei noch deren Geschäft als Objekt. Auf BGE 71 II
244 kann sich die Vorinstanz für ihre abweichende Ansicht nicht berufen. Denn
in jenem Falle ging es (was allerdings aus der
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publizierten Urteilserwägung nicht ersichtlich ist) gerade um Feststellung der
Ergebnisse der Unternehmung bei der Auseinandersetzung zwischen dem einen
Geschäftsteilhaber und einem Dritten. Eine extensive Interpretation oder
analoge Anwendung des Art. 963

SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 963 - 1 Kontrolliert eine rechnungslegungspflichtige juristische Person ein oder mehrere rechnungslegungspflichtige Unternehmen, so muss sie im Geschäftsbericht für die Gesamtheit der kontrollierten Unternehmen eine konsolidierte Jahresrechnung (Konzernrechnung) erstellen. |
Konsequenzen, umso weniger zulässig, als es sich dem Inhalte nach um eine
prozessuale Norm handelt, die ohnehin im materiellen Zivilrecht nur als
Ausnahme figurieren darf.
2. Erscheint die Auslegung des Art. 963

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willkürlich, so braucht nicht mehr eigens untersucht zu werden, wie sich jene
Bestimmung zu Art. 47 lit. b des Bankengesetzes verhalte.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil des Obergerichts des Kantons
Solothurn vom 24. April 1947 aufgehoben.