S. 292 / Nr. 43 Niederlassungsfreiheit (d)

BGE 73 I 292

43. Urteil vom 18. Dezember 1947 i. S. Gerber gegen Gemeinde Ruswil und
Regierungsrat des Kantons Luzern.


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Regeste:
Beschränkung der Freizügigkeit wegen Wohnungsnot, Art. 19 ff. BMW.
Anspruch des Reisenden auf Niederlassung im Reisegebiet.
Restriction de la liberté d'établissement en raison de la pénurie de
logements, art. 19 ss APL.
Droit du voyageur de commerce à l'établissement dans son rayon d'activité
Limitazione della libertà d; domicilio a motivo della penuria di alloggi, art.
19 e seg. DPA.
Diritto del viaggiatore di commercio al domicilio nel territorio ove svolge la
sua attività.

A. ­ Der Beschwerdeführer ist Reisevertreter der Firma Gerber & Söhne,
Sperrholzhandel A.-G. in Bern. Zu seinem Reisegebiet gehören der Kanton Luzern
und die Innerschweiz. Für die Reise steht ihm ein Auto zur Verfügung. Früher
hatte er in Luzern ein Zimmer. Als er sich 1946 verehelichte, zog er mit
seiner Frau zunächst zu seinen Schwiegereltern nach Bern. Die Eheleute
erwarten auf den Dezember dieses Jahre ein Kind. Gerber bemühte sich in
verschiedenen Gemeinden des Kantons Luzern erfolglos um eine Wohnung. Auf den
15. Oktober 1947 mietete er in Rüediswil (Gemeinde Ruswil) im Hause «Mis
Träumli» der Zimmerei Blum eine Wohnung und ersuchte den Gemeinderat um die
Niederlassung. Sie wurde ihm verweigert. Eine Beschwerde hiegegen hat der
Regierungsrat des Kantons Luzern mit Entscheid vom 13./17. Oktober 1947
abgewiesen, im wesentlichen mit der Begründung: Der Zuzug des
Beschwerdeführers sei weder aus persönlichen, noch aus andern Gründen

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angezeigt. Die Tätigkeit als Reisevertreter im nicht näher umschriebenen
Gebiet des Kantons Luzern und in der Innerschweiz vermöge ein Bedürfnis für
den Wohnsitz in Ruswil nicht überzeugend darzutun. Das mehr zufällig gewählte
Domizil müsse überdies für die in Frage kommende Tätigkeit eher als ungeeignet
erscheinen. Da der Beschwerdeführer über ein Auto verfüge, sei ihm zuzumuten,
einen Wohnsitz zu wählen, wo der Wohnungsmarkt weniger belastet sei als in
Ruswil. Aus den Akten gehe auch nicht hervor, ob es sich bei der Anstellung
des Beschwerdeführers um eine dauernde Beschäftigung handle.
In der Folge (17. Oktober) bezog Gerber die Wohnung in Rüediswil; doch hält
sich seine Familie zur Zeit nicht in der Wohnung auf.
B. ­ Mit der staatsrechtlichen Beschwerde beantragt Gerber den Entscheid des
Regierungsrates aufzuheben und festzustellen, dass dem Beschwerdeführer die
Niederlassung in der Gemeinde Ruswil nicht verweigert werden dürfe. Zur
Begründung wird angebracht: Der Beschwerdeführer sei darauf angewiesen, eine
eigene Wohnung beziehen zu können. In der Wohnung der Schwiegereltern könne er
wegen des zu erwartenden Familienzuwachses nicht bleiben. Bern gehöre übrigens
nicht zu seinem Reisegebiet. Der Zuzug in dieses dränge sich aber auf. Er
könne seit der Aufgabe des Zimmers in Luzern seine Frau nur über das
Wochenende besuchen und müsse die ganze Woche über in Gasthäusern übernachten.
Das sei auf die Dauer unhaltbar, sowohl aus finanziellen wie aus persönlichen
und familiären Gründen. Der Zuzug nach Ruswil sei daher angezeigt. Die
Gemeinde sei bei Benützung des Autos für das Reisegebiet günstig und zentral
gelogen. In verschiedenen andern Gemeinden, die für die Niederlassung
ebenfalls in Betracht gekommen wären, habe der Beschwerdeführer keine Wohnung
finden können. Das Anstellungsverhältnis des Beschwerdeführers sei nicht bloss
vorübergehender Natur, wie der angefochtene Entscheid annehme: es bestehe
schon mehrere Jahre

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und müsse angesichts der engen Beziehungen des Beschwerdeführers zur Firma (er
sei deren Aktionär und Mitglied des Verwaltungsrates, sowie Sohn des
Präsidenten desselben) als dauernd betrachtet werden.
C. ­ Der Regierungsrat des Kantons Luzern hat auf Vernehmlassung verzichtet.
Der Gemeinderat von Ruswil beantragt die Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. ­ Der BRB betreffend Massnahmen gegen die Wohnungenot will den Mieter vor
den Auswirkungen der Wohnungsknappheit schützen, mit den Bestimmungen über die
Beschränkung des Kündigungsrechtes gegenüber einer sachlich nicht
gerechtfertigten Kündigung durch den Vermieter, mit denjenigen über die
Beschränkung der Freizügigkeit den Mieter, der bisher in der Gemeinde eine
Wohnung hatte vor demjenigen, dessen Zuzug sachlich nicht begründet ist. Ob
letzteres zutreffe, kann sich nur nach den Verhältnissen des Gesuchstellers
bestimmen, nicht danach, ob in der Gemeinde die Wohnungsnot geringer oder
grösser sei. Entweder sind es nach dem Erlass gewisse sachliche Beziehungen,
die dem Gesuchsteller einen Anspruch auf Niederlassung geben, wie das Eigentum
an einer Liegenschaft, die der Bewerber um die Niederlassung beziehen will
(Art. 20ter), oder es sind Beziehungen persönlicher Art, familiäre oder
verwandtschaftliche, auch solche, die früher bestanden haben und aus
kriegsbedingten Ursachen hatten aufgegeben werden müssen (Art. 20 Abs. 2),
oder durch berufliche oder gewerbliche Tätigkeit neu begründete (Art. 20 Abs.
1). Im letzten Fall ist nicht erforderlich, dass die Tätigkeit ausschliesslich
oder zur Hauptsache in der betreffenden Gemeinde aus geübt wird. Die Gemeinde
kann auch nur der Ort sein, von dem aus sie zweckmässigerweise besorgt wird.
Das gilt insbesondere von einem Reisenden, dessen Kunden in einem grösseren
Umkreise wohnen und der daher das Gebiet eines ganzen Kantons oder mehrerer
Kantone

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bereist. In derartigen Fällen darauf abzustellen, ob berufliche Beziehungen
auch zur Gemeinde selbst oder ihrer nähern Umgebung bestünden und von welcher
Art, ginge darum nicht an, weil sonst solchen Personen unter Umständen die
Niederlassung nirgends erteilt werden müsste, soweit sie nicht bereits
besitzen. Es ist dann nur darauf abzustellen, ob der Gesuchsteller vom Orte
seiner Wahl seiner Tätigkeit nachgehen kann, sein Zuzug deswegen hinreichend
begründet ist. Das Bundesgericht hat daher in ständiger Rechtsprechung
entschieden, dass, wer als Reisender tätig ist, einen Anspruch darauf hat,
sich in einer Gemeinde des Gebietes niederlassen zu dürfen, das ihm für seine
Tätigkeit zugewiesen ist, es sei denn, es dürfe ihm zugemutet werden, der
Tätigkeit von seinem bisherigen Wohnort ausserhalb des Reisegebietes
nachzugehen (Urteile vom 12. November 1946 i. S. Bollag, 25. Februar 1946 i.
S. Isler, 15. April 1946 i. S. Brun, 6. März 1947 i. S. Hengärtner und 11.
September 1947
S. Baschong).
2. ­ Der Beschwerdeführer ist, wie sein Anstellungsvertrag ausweist, als
Reisender tätig und hat in dieser Eigenschaft unbestrittenermassen den Kanton
Luzern und die Kantone der Innerschweiz zu bereisen. Seine Tätigkeit ist nicht
bloss vorübergehender Art, wie der Regierungsrat anzunehmen scheint. Der
Beschwerdeführer übt sie bereits längere Zeit aus und hat, wie ebenfalls nicht
bestritten ist, zum Unternehmen und zu dessen massgebenden Persönlichkeiten
noch besondere Beziehungen. Jedenfalls fehlen Anhaltspunkte für einen bloss
vorübergehenden Charakter des Verhältnisses, sodass die Niederlassung nicht
deswegen verweigert werden durfte. Sie durfte es ebensowenig im Hinblick auf
den bisherigen Wohnort, von dem aus der Beschwerdeführer die Reisen seit
seiner Verheiratung unternommen hat. Denn die Entfernung vom Reisegebiet ist
so gross, dass die Anbringen des Beschwerdeführers darüber, dass ihm die
Rückkehr nach Bern nur über das Wochenende möglich gewesen sei,

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durchaus glaubwürdig sind. Dass er diese Unzukömmlichkeit eine Zeitlang auf
sich genommen hat, lässt die Fortdauer dieses Zustandes nicht als zumutbar
erscheinen, auch wegen der Kosten nicht, die damit verbunden waren. Der
Beschwerdeführer hat vielmehr einen Anspruch darauf, sich im Gebiete seiner
Reisetätigkeit an einem Orte niederlassen zu können, von dem aus deren
Ausübung weniger Unzukömmlichkeiten und Nachteile zur Folge hat. Wäre er auf
Zugsverbindungen angewiesen, so hätte ihm die Niederlassung in der Stadt
Luzern nicht verweigert werden dürfen (vgl. das erwähnte Urteil i. S.
Baschong). Dass er für die Reise ein Auto benützen kann, verbessert seine
Stellung noch insofern, als er in der Wahl der Niederlassungsgemeinde freier
ist, sich für eine weniger zentral gelegene Gemeinde entschliessen darf, die
ihm für die Reise mit dem Auto immerhin günstig genug erscheint. Die Gemeinde,
für die er sich etwa deshalb entscheidet, weil er daselbst eine passende
Wohnung gefunden hat, ist, falls sie sich objektiv als Ausgangspunkt eignet,
nicht befugt, den Gesuchsteller abzuweisen, weil er auch in eine andere
Gemeinde hätte ziehen können, die weniger unter Wohnungsnot leide. Es kann
ihm, wie schon wiederholt entschieden wurde, nur zugemutet werden, in eine
bestimmt bezeichnete andere Gemeinde zu ziehen, und zwar nur dann, wenn es dem
Gesuchsteller von dort annähernd ebenso gut möglich ist, seinem Berufe
nachzugehen, und wenn auf diese Gemeinde der BMW entweder nicht anwendbar ist,
oder wenn dem Gesuchsteller zugesichert werden kann, dass er dort die
Niederlassung und eine passende Wohnung erhalte (die erwähnten Urteile i. S.
Isler und Baschong). Die Gemeinde Ruswil durfte daher den Beschwerdeführer
nicht mit der Begründung abweisen, dass er in der Gemeinde unbekannt sei oder
zu ihr bisher keine besondere Beziehungen gehabt habe, oder dass in der
Gemeinde selbst oder deren nächster Umgebung keine Kunden des
Beschwerdeführers wohnten. Es ist unbestreitbar. dass die Gemeinde Ruswil für
die

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Reisetätigkeit des Beschwerdeführers nicht ungünstig gelegen ist. Mit dem Auto
kann von dort aus nicht nur die Luzerner Landschaft sowie die Stadt und von
dieser aus die Innerschweiz leicht erreicht werden; der Ort liegt ausserdem an
der Durchgangsstrasse nach Bern, dem Sitz des Unternehmens, an den sich der
Beschwerdeführer als Reisender von Zeit zu Zeit zu begeben hat.
Unter diesen Umständen beruht die Verweigerung der Niederlassung auf einer
nicht haltbaren Auslegung der Art. 19 f. BMW. Der angefochtene Entscheid ist
daher aufzuheben, damit dem Beschwerdeführer die nachgesuchte Niederlassung
gewährt wird.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Gemeinderat von Ruswil angewiesen,
dem Beschwerdeführer die Niederlassung zu erteilen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 73 I 292
Datum : 01. Januar 1947
Publiziert : 18. Dezember 1947
Quelle : Bundesgericht
Status : 73 I 292
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : Beschränkung der Freizügigkeit wegen Wohnungsnot, Art. 19 ff. BMW.Anspruch des Reisenden auf...


BGE Register
73-I-292
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