S. 42 / Nr. 13 Verfahren (d)

BGE 72 IV 42

13. Entscheid des Bundesstrafgerichts vom 3. Januar 1946 i.S. Löliger gegen
Schweizerische Bundesanwaltschaft.

Regeste:
Art. 148 Abs. 3 BStP. Voraussetzungen der Wiederaufnahme des Verfahrens gegen
einen in Abwesenheit Verurteilten.
Art. 148 al. 3 PPF. Conditions de la reprise de la procédure à l'égard d'un
condamné par défaut.
Art. 148 cp. 3 PPF. Presupposti della ripresa della procedura noi confronti
d'un condannato in contumacia.

A. ­ Am 18. März 1944 verurteilte das Bundesstrafgericht Otto Löliger in
dessen Abwesenheit wegen Widerhandlung gegen Art. 1 des BRB vom 5. Dezember
1938 betreffend Massnahmen gegen staatsgefährliche Umtriebe und zum Schutze
der Demokratie zu sechs Monaten Gefängnis und stellte ihn für drei Jahre in
der bürgerlichen Ehrenfähigkeit ein. Löliger, der von der im Juni 1941
eröffneten Voruntersuchung Kenntnis hatte, war im Herbst 1942 mit Bewilligung
der schweizerischen Behörden nach Deutschland ausgereist und war dort in die
Waffen-SS

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eingetreten. Zur Zeit der Hauptverhandlung will er verwundet in einem
deutschen Lazarett gelegen und mit der Schweiz keine Beziehung gehabt haben.
Er erklärt, er habe vom Hauptverfahren nicht Kenntnis erhalten und vom Urteil
erst am 14. November 1945 auf dem schweizerischen Konsulat in Lyon erfahren.
Durch Vermittlung des Konsulates sei er dann nach Genf gelangt. Am 15.
November 1945 wurde er von den schweizerischen Behörden verhaftet.
B. ­ Mit Gesuch vom 10. Dezember 1945 beantragt Löliger dem Bundesstrafgericht
unter Berufung auf Art. 148 BStP die Wiederaufnahme des Verfahrens. Er
erklärt, das Urteil vom 18. März 1944 sei ihm am 5. Dezember 1945 durch einen
Inspektor der Bundesanwaltschaft im Gefängnis eröffnet worden.
Der Bundesanwalt beantragt, das Gesuch sei abzuweisen.
Das Bundesstrafgericht zieht in Erwägung:
1. ­ Im Gegensatz zu gewissen anderen Strafprozessordnungen (z.B. Art. 167
MStGO, § 197 zürch. StrPO) gestattet Art. 148 BStP die Aufhebung eines in
Abwesenheit des Verurteilten gefällten Urteils nicht schlechthin, sondern
lässt sie nur zu, wenn der Verurteilte durch ein unverschuldetes Hindernis
abgehalten worden ist, in der Hauptverhandlung zu erscheinen, und er die
Aufhebung innert zehn Tagen, seitdem ihm das Urteil zur Kenntnis gelangt ist,
anbegehrt. Das hat zur Folge, dass vor der Wiederaufnahme des Verfahrens ein
Entscheid über die Bewilligung der Aufhebung des Urteils ergehen muss. Der
Schlusssatz von Art. 148 Abs. 3 BStP sagt denn auch ausdrücklich, dass die
Aufhebung bewilligt sein müsse, bevor die neue Hauptverhandlung stattfinden
kann.
2. ­ Bei der Einvernahme vom 6. Dezember 1945 hat der Gesuchsteller erklärt,
er habe vom Urteil des Bundesstrafgerichts am 14. November 1945 auf dem
schweizerischen Konsulat in Lyon erfahren. Die Frist, binnen welcher

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er die Aufhebung des Urteils verlangen konnte, lief somit am 24. November 1945
ab. Art. 148 Abs. 3 BStP lässt sie von dem Tage an laufen, an welchem dem
Verurteilten das Urteil a zur Kenntnis gelangt ist» («où il a eu connaissance
du jugement»). Diese Voraussetzung ist mit der Bekanntgabe des Urteils durch
den Konsul erfüllt worden, mag die Mitteilung auch formlos erfolgt sein. Damit
die Frist zu laufen beginnt, ist nicht nötig, dass das Gericht die Zustellung
des Urteils nachhole, die seinerzeit nicht möglich war und durch die
Veröffentlichung des Urteilsspruchs im Bundesblatt ersetzt wurde (Art. 180
Abs. 3 BStP). Da Löliger das Gesuch erst am 10. Dezember 1945 gestellt hat,
ist es verspätet.
3. ­ Es ist auch deshalb nicht darauf einzutreten, weil der Gesuchsteller
nicht unverschuldeterweise verhindert war, an der Hauptverhandlung
teilzunehmen. Wohl hat er das Land mit Bewilligung der schweizerischen
Behörden verlassen, so dass nicht schon in seiner Landesabwesenheit ein
Verschulden liegt. Da er wusste, dass gegen ihn ein Strafverfahren im Gange
war, und da er sich ausdrücklich verpflichtet hatte, sich auf gerichtliche
Aufforderung hin zur Hauptverhandlung einzufinden, war er verpflichtet, den
Strafverfolgungsbehörden seinen Aufenthaltsort mitzuteilen und sich für die
Rückreise in die Schweiz bereit zu halten. Statt dessen trat er in die
Waffen-SS ein und verhinderte damit schuldhaft die Zustellung der Vorladung
zur Hauptverhandlung.
4. ­ Unter diesen Umständen kann dahingestellt bleiben, ob das
Bundesstrafgericht, wie die Bundesanwaltschaft annimmt, befugt wäre, bei der
Behandlung des Bewilligungsgesuchs auch das voraussichtliche Ergebnis eines
neuen Verfahrens zu berücksichtigen und die Aufhebung des Urteils zu
verweigern, wenn keine Wahrscheinlichkeit für dessen Abänderung besteht.
Demnach erkennt das Bundesstrafgericht:
Auf das Gesuch wird nicht eingetreten.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 72 IV 42
Datum : 01. Januar 1946
Publiziert : 03. Januar 1946
Quelle : Bundesgericht
Status : 72 IV 42
Sachgebiet : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Gegenstand : Art. 148 Abs. 3 BStP. Voraussetzungen der Wiederaufnahme des Verfahrens gegen einen in Abwesenheit...


Gesetzesregister
BStP: 148  180
MStGO: 167
BGE Register
72-IV-42
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
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