S. 25 / Nr. 6 Obligationenrecht (d)

BGE 72 II 25

6. Urteil der I. Zivilabteilung vom 8. Februar 1946 i. S. E. Luchsinger & Co.
gegen Parsa, Produits Agglomérés de Romont S. A.

Regeste:
Verrechnungsverzicht Art. 126
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 126 - Auf die Verrechnung kann der Schuldner zum voraus Verzicht leisten.
OR.
Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichtes nach Art. 43 Abs. 4
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 126 - Auf die Verrechnung kann der Schuldner zum voraus Verzicht leisten.
OG (Erw. 1).
Voraussetzungen für die Annahme eines (nicht ausdrücklich erklärten)
Verrechnungsverzichtes (Erw. 2).
Eintritt der Verzichtsfolgen unabhängig vom Vorhandensein eines
Verzichtswillens (Erw. 3).
Renonciation à la compensation, art. 126 CO.
Pouvoir d'examen du Tribunal fédéral selon l'art. 43 al. 4 OJ (consid. 1).
Quand peut-on admettre que le débiteur a renoncé à la compensation (sans
l'avoir déclaré expressément)? (consid. 2).
Les effets de la renonciation peuvent se produire indépendamment de la volonté
de renoncer (consid. 3).
Rinuncia alla compensazione, art. 126 CO.
Sindacato del Tribunale federale giusta l'art. 43 cp. 4 OGF (consid. 1).
Quando si può ammettere che il debitore ha rinunciato alla compensazione,
senz'averne fatta espressa dichiarazione? (consid. 2).
Gli effetti della rinuncia possono prodursi indipendentemente dalla volontà di
rinunciare (consid. 3).

A. - Am 23. März 1944 kaufte die Klägerin von der Beklagten ein Brikettierwerk
in Romont zum Preise von Fr. 150,000.­. Mitübertragen wurden die
Exploitationsbewilligung und das Basiskontingent von 800 Tonnen pro Monat.
Unter den Inventargegenständen befanden sich ein Trocknungsofen und 22,000
Trocknungsbretter. Der Kaufpreis war durch Zahlung einer Quote von Fr. 10.­
per Tonne gelieferter Ware zu entrichten.
B. - Mit Schreiben vom 3. Oktober 1944 machte die Beklagte die Klägerin darauf
aufmerksam, dass verschiedene Vertragsbestimmungen nicht befolgt worden seien
und dass sie sich weitere Schritte vorbehalte, sofern

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sie bis zum 10. Oktober nicht eine befriedigende Antwort erhalte. In der Folge
traten die Parteien in Verhandlungen, die am 20. November 1944 zu einer neuen
Vereinbarung führten. Darin stellte die Beklagte zunächst fest, dass das
gesamte Inventar vollständig und in gutem Zustande vorhanden sei. Sie
verpflichtete sich, dieses «im Umfange lt. Schreiben der Parsa S. A. vom 10.
November 1944 an die Fa. Luchsinger & Co. innert drei Wochen zurückzunehmen».
Anderseits erklärte sich die Klägerin bereit, die von ihr für die
verbleibenden Inventargegenstände sowie für den «fonds de commerce» und die
Fabrikationsbewilligung zugestandene Summe von Fr. 30,000.­ mit je Fr.
10,000.­ bis 1. Mai 1945, 1. Mai 1946 und 1. Mai 1947 abzuzahlen.
C. - Gestützt auf diese Abmachungen betrieb die Beklagte die Klägerin mit
Zahlungsbefehl vom 5. Mai 1945 für den Betrag von Fr. 10,000.­ nebst Zins ab
1. Mai 1945. Die Klägerin erhob Rechtsvorschlag und stellte, nachdem die
Beklagte provisorische Rechtsöffnung erlangt hatte, beim Handelsgericht Zürich
das Begehren um Aberkennung der in Betreibung gesetzten Forderung. Dabei wurde
diese an sich nicht bestritten. Dagegen wollte die Klägerin eigene
Schadenersatzansprüche zur Verrechnung bringen. Sie machte geltend, die
Beklagte habe ihr beim Vertragsschluss arglistig verschwiegen, dass der
Trocknungsofen zufolge eines feuerpolizeilichen Verbotes nicht benützt werden
durfte und dass die Trocknungsbretter zum vorausgesetzten Gebrauch untauglich
gewesen seien. Durch diese Mängel sei ihr ein Schaden von wenigstens Fr.
69,282.90 entstanden. Die Beklagte hielt entgegen, mit der Vereinbarung vom
20. November 1944 sei eine endgültige Regelung der gegenseitigen Rechte
getroffen worden.
Das Handelsgericht des Kantons Zürich wies die Klage mit Urteil vom 2.
November 1945 ab.
D. - Die Klägerin erklärte die Berufung an das Bundesgericht. Sie beantragt
die Gutheissung ihres Rechtsbegehrens, eventuell die Rückweisung der Sache an
die

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Vorinstanz «zu anderweitiger Entscheidung». Die Beklagte schliesst auf
Bestätigung des angefochtenen Erkenntnisses.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Die Vorinstanz stellt zunächst in tatbeständlicher Hinsicht fest, dass die
Klägerin von den arglistig verschwiegenen Mängeln schon vor der Vereinbarung
vom 20. November 1944 Kenntnis erhalten habe. Hieran ist das Bundesgericht
gebunden (Art. 63 Abs. 2
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 126 - Auf die Verrechnung kann der Schuldner zum voraus Verzicht leisten.
OG).
Sodann führt die Vorinstanz aus, in der Vereinbarung vom 20. November 1944 sei
weder eine Aufhebung noch eine blosse «Modifikation» des Kaufvertrages vom 23.
März 1944 zu erblicken. Vielmehr handle es sich um «eine gütliche
Teilwandelung, indem die Beklagte von der Klägerin den Grossteil der
Kaufgegenstände zurücknahm, ihr jedoch gegen Entrichtung einer Entschädigung
von Fr. 30,000.­ den Rest der Gegenstände, die Ausbeutungsrechte und den
'fonds de commerce beliess». Dem ist ohne weiteres beizupflichten.
Auf Grund dieses Sachverhaltes geht die Vorinstanz davon aus, das Abkommen
stelle einen alle Streitpunkte umfassenden Vergleich dar und die Klägerin habe
auf die Geltendmachung der Schadenersatzansprüche, bezw. der
Kompensationseinrede, endgültig verzichtet. Sie nimmt also eine Subsumtion
bestimmter Vorgänge unter die als Obersatz der Entscheidung aufgestellte
Verzichtsregel vor. Dem Bundesgericht steht es daher zu, zu prüfen, ob nicht
eine Rechtsverletzung insoweit vorliege, als die richtig verstandenen Merkmale
der Verzichtsregel etwa fälschlicherweise als im vorliegenden Tatbestand
enthalten angenommen worden seien (Art. 43 Abs. 4
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 126 - Auf die Verrechnung kann der Schuldner zum voraus Verzicht leisten.
OG; vgl. BGE 69 II 319 ff.,
ferner für das analoge deutsche Recht: STEIN, Komm. zur deutschen ZPO, 14.
Aufl., § 549 III /B /3; ROSENBERG, Lehrbuch des deutschen Zivilprozessrechtes,
3. Aufl., S. 497; BAUMBACH, Komm. zur deutschen ZPO, 10. Aufl., S. 725).

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2.- Das Handelsgericht hat den Verzicht auf jede Schadenersatzforderung und
den Verzicht lediglich auf die Erhebung der Kompensationseinrede nicht streng
auseinandergehalten. Für die Abweisung der Aberkennungsklage genügt schon der
Verzicht auf die Geltendmachung der Verrechnung bezw. ein Verhalten, das
Verzichtsfolgen zeitigt.
Art. 139 a
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 126 - Auf die Verrechnung kann der Schuldner zum voraus Verzicht leisten.
. OR hatte ausdrücklich bestimmt, ein Verzicht auf die
Verrechnungseinrede könne angenommen werden, wenn der Schuldner, wissend, dass
er eine Gegenforderung habe, Barzahlung verspreche. Bei der Revision des OR
wurde diese Vermutung fallen gelassen (Art. 126) in der Meinung, dass
diesbezüglich die allgemeinen Auslegungsregeln gelten sollen (BECKER, 2.
Aufl., Art. 126
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 126 - Auf die Verrechnung kann der Schuldner zum voraus Verzicht leisten.
OR N. 1). Diese lassen den Schluss auf einen
Verrechnungsverzicht nur dort zu, wo besondere Verumständungen darauf
hinweisen, dass beidseitig effektive Zahlung vorgesehen wurde (Beispiele bei
BECKER, a.a.O. N. 2 und 3; OSER/SCHÖNENBERGER, Art. 126
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 126 - Auf die Verrechnung kann der Schuldner zum voraus Verzicht leisten.
OR N. 3). Dabei darf
nicht übersehen werden, dass der Verzicht auf Verrechnung, analog demjenigen
auf Forderung, sich als ein (abstrakter) Vertrag darstellt (über die
Verhältnisse beim Forderungsverzicht vgl. z. B. STAUDINGER, Komm. zum BGB, 9.
Aufl., II /1 S. 780, PLANCK, Komm. zum BGB, 4. Aufl., II /1 S. 544). Und wenn
aus einem Vergleich, also aus einem Neuerungsvertrag, ein Verzicht hergeleitet
werden soll, so setzt das voraus, «dass den Parteien die wesentlichen
Vertragsmerkmale zusinnbar seien, dass also wenigstens der potentielle Wille
diesbezüglich vorhanden sei» (KLANG, Komm. zum österr. BGB IV S. 271, 287 f.).
In diesem Sinne muss in jedem einzelnen Fall der Verzichtswille nachgewiesen
sein. Dazu genügt es im allgemeinen nicht, wenn jemand, dem eine
Gegenforderung zusteht, der andern Partei bestimmte Zahlungen zusichert; dies
selbst dann nicht, wenn Forderung und Gegenforderung dem gleichen
Grundgeschäft entspringen.
3.- Vorliegend sind in der Vereinbarung vom

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20. November 1944 verschiedene Zahlungstermine genau festgelegt worden. Ob
sich daraus allein ein von der Klägerin gewollter Verzicht auf Verrechnung
ableiten lässt, erscheint zweifelhaft. Die Frage kann indessen offen bleiben.
Denn einem Verzicht steht es in den praktischen Wirkungen gleich, wenn beim
Fehlen eines Verzichtswillens angesichts der konkreten Umstände des Falles die
Erhebung der Verrechnungseinrede durch Rücksichten auf Treu und Glauben
ausgeschlossen ist (STAUDINGER, a.a.O. S. 784, PLANCK, a.a.O. S. 544).
Mindestens auf Grund eines solchen gegensätzlichen Verhaltens muss hier ein
Verlust des Verrechnungsrechtes angenommen werden. Nachdem die Klägerin ohne
jeden Vorbehalt terminierte Abzahlungen versprochen hatte, durfte die Beklagte
erwarten, dass aus dem gleichen Grundgeschäft, aus dem die Teilzahlungen
geschuldet waren, nicht auch Schadenersatzansprüche erhoben und zur
Verrechnung gestellt würden. Ist das aber so, dann braucht das Vorhandensein
eines Verzichtswillens auf Seite der Klägerin nicht näher überprüft zu werden,
weil eben die Verzichtsfolge unabhängig davon eintritt.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Handelsgerichtes des Kantons
Zürich vom 2. November 1945 bestätigt.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 72 II 25
Datum : 01. Januar 1946
Publiziert : 08. Februar 1946
Quelle : Bundesgericht
Status : 72 II 25
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Verrechnungsverzicht Art. 126 OR.Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichtes nach Art. 43 Abs. 4 OG...


Gesetzesregister
OG: 43  63
OR: 126 
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 126 - Auf die Verrechnung kann der Schuldner zum voraus Verzicht leisten.
139a
BGE Register
69-II-319 • 72-II-25
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
beklagter • bundesgericht • handelsgericht • vorinstanz • sachverhalt • verhalten • entscheid • rechtsbegehren • bewilligung oder genehmigung • rechtsvorschlag • inventar • kaufpreis • schaden • stein • richtigkeit • stelle • monat • zahlungsbefehl • vermutung • frage
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