S. 208 / Nr. 45 Familienrecht (d)

BGE 71 II 208

45. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 8. November 1945 i. S. G.
gegen G.

Regeste:
Art. 156 Abs. 3 ZGB. Das Recht auf angemessenen persönlichen Verkehr
(Besuchsrecht) folgt aus dem ehelichen Kindesverhältnis als solchem, auch wenn
dieses der natürlichen Abstammung nicht entspricht.
Art. 156 al. 3 CC. Le droit à des relations personnelles (droit de visite)
découle du rapport de filiation créé par le mariage, même si ce rapport ne
correspond pas à la filiation naturelle.
Art. 156 cp. 3 CC. Il diritto di conservare coi figli le relazioni personali
indicate dalle circostanze (diritto di visita) discende dal rapporto di
filiazione creato dal matrimonio, anche se questo rapporto non corrisponde
alla filiazione naturale.

Die 1934 geschlossene Ehe der Parteien war seit Jahren schwer getrübt, im
wesentlichen wegen zu grosser Verschiedenheit des beiderseitigen Bildungs- und
Kulturniveaus und daherigen Widerwillens der Frau gegenüber dem Manne. Im
Jahre 1944 trat die Ehefrau zu einem andern Manne, einem frühern Bekannten, in
Beziehungen, die zu ihrer Schwängerung führten. Nachdem sie Scheidungsklage
gemäss Art. 142 ZGB eingereicht hatte, gebar sie Ende 1944 ein Mädchen, dessen
aussereheliche Erzeugung nicht streitig ist. Der Scheidungsbeklagte
widersetzte sich der Scheidung. Die Vorinstanz hat diese ausgesprochen, das
Kind der Klägerin zugeteilt, von deren Verzicht auf

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Unterhaltsbeiträge für das Kind Vormerk genommen und das Begehren des
Beklagten um Einräumung eines Besuchsrechts gegenüber dem Kinde abgewiesen.
Aus den Erwägungen:
3. ­ Die Parteien sind einig, dass das in der Ehe geborene Kind nicht vom
Beklagten abstammt. Dieser hat jedoch die Ehelichkeit innert der gesetzlichen
Frist nicht angefochten. Das Kind ist daher rechtlich ein eheliches. Die Frage
der Einräumung eines Besuchsrechtes zugunsten des Beklagten haben die Parteien
in ihrer Vereinbarung über die Nebenfolgen der Entscheidung des Richters
anheimgestellt. Die Vorinstanz hat dem Beklagten ein Besuchsrecht verweigert
mit der Begründung, da er nicht der natürliche Vater sei, fehle es auf seiner
Seite an der natürlichen Bindung, die sonst zwischen dem Kind und seinen
Eltern bestehe und den Anspruch desjenigen Elternteils, dem es nicht
zugesprochen werde, auf angemessenen persönlichen Verkehr mit ihm zu begründen
vermöge. Auf diese Bindung, nicht auf die aus der formellen Ehelichkeit des
Kindes hervorgehenden rechtlichen Beziehungen gründe sich das Besuchsrecht. Im
vorliegenden Falle würde zudem ein solches Recht des Beklagten gegen die
Interessen des Kindes verstossen, indem dieses unnötigerweise nachträglich
noch die Folgen des Ehezerwürfnisses der Parteien zu spüren bekäme, was beim
Fehlen eines natürlichen Bandes zwischen dem Beklagten und dem Kinde nicht
verantwortet werden könne.
Mit dem Besuchsrecht nach Art. 166 Abs. 3
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 166 - 1 Jeder Ehegatte vertritt während des Zusammenlebens die eheliche Gemeinschaft für die laufenden Bedürfnisse der Familie.
1    Jeder Ehegatte vertritt während des Zusammenlebens die eheliche Gemeinschaft für die laufenden Bedürfnisse der Familie.
2    Für die übrigen Bedürfnisse der Familie kann ein Ehegatte die eheliche Gemeinschaft nur vertreten:
1  wenn er vom andern oder vom Gericht dazu ermächtigt worden ist;
2  wenn das Interesse der ehelichen Gemeinschaft keinen Aufschub des Geschäftes duldet und der andere Ehegatte wegen Krankheit, Abwesenheit oder ähnlichen Gründen nicht zustimmen kann.
3    Jeder Ehegatte verpflichtet sich durch seine Handlungen persönlich und, soweit diese nicht für Dritte erkennbar über die Vertretungsbefugnis hinausgehen, solidarisch auch den andern Ehegatten.
ZGB hatte der Gesetzgeber zweifellos
in erster Linie den Schutz der natürlichen, in den Banden des Blutes
begründeten Verbundenheit von Vater bezw. Mutter und Kind im Auge. Das Gesetz
knüpft das Recht indessen nicht an die Tatsache dieser natürlichen Beziehung
an sich, sondern an die rechtliche Beziehung des ehelichen
Kindesverhältnisses, das durch die Geburt des Kindes in der Ehe (bezw. durch
Ehelicherklärung oder Kindesannahme) begründet wird.

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Es macht also in dieser Hinsicht keinen Unterschied zwischen dem Besuchsrecht
und allen übrigen Folgen, die sich anerkanntermassen an das eheliche
Kindesverhältnis schlechthin anknüpfen ohne Rücksicht darauf, ob dieses der
natürlichen Kindschaft entspricht. Das Kind ist gegenüber dem Beklagten
erbberechtigt und geniesst Pflichtteilsschutz. Im Falle des Vorversterbens der
Klägerin ginge zwar die elterliche Gewalt als solche nicht automatisch auf den
Beklagten über; wohl aber fiele die Pflicht der Kostentragung für Unterhalt
und Erziehung von Gesetzeswegen gänzlich ihm zu (Art. 272 Abs. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 272 - Eltern und Kinder sind einander allen Beistand, alle Rücksicht und Achtung schuldig, die das Wohl der Gemeinschaft erfordert.
ZGB). Keine
dieser Rechtsfolgen des ehelichen Kindesverhältnisses könnte der Beklagte
gegebenenfalls mit dem Hinweis darauf abwenden, dass im Scheidungsprozess die
aussereheliche Zeugung des Kindes anerkannt gewesen sei. Erscheint es schon
unbillig, einem nur gesetzlichen Vater alle ihn belastenden Konsequenzen aus
seiner «Vaterschaft» zu überlassen, aber das Besuchsrecht vorzuenthalten, so
sprechen auch praktische Bedenken gegen diese Lösung: im Hinblick auf die
erwähnte Möglichkeit, dass einmal plötzlich die Unterhaltspflicht dem
Beklagten zufiele und ihm allenfalls auch die elterliche Gewalt übergeben
werden müsste, ist es wünschbar, dass er den persönlichen Kontakt mit der
Tochter, die rechtlich sein Kind ist, aufrechterhalten und pflegen könne. Im
weitern hat das Besuchsrecht die jederzeit praktische Bedeutung, dass der
Berechtigte eine allfällige Pflichtvernachlässigung seitens der Inhaberin der
elterlichen Gewalt bemerken und nötigenfalls bei der Vormundschaftsbehörde
intervenieren kann. Mit Rücksicht auf das Fehlen der Bande des Blutes kann das
Besuchsrecht des Beklagten jedoch etwas knapper bemessen werden als üblich.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Berufung wird teilweise gutgeheissen dahin, dass Ziff. 5 des
angefochtenen Urteils aufgehoben und durch folgende Bestimmung ersetzt wird:

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5. Der Beklagte ist berechtigt, das Kind bis zu dessen zurückgelegtem 4.
Altersjahre jeden Monat einmal bei der Klägerin zu besuchen und vom 5.
Altersjahre an jeden Monat einen halben Tag zu sich zu nehmen.
Im übrigen wird die Berufung abgewiesen und das angefochtene Urteil bestätigt.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 71 II 208
Datum : 01. Januar 1945
Publiziert : 07. November 1945
Quelle : Bundesgericht
Status : 71 II 208
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Art. 156 Abs. 3 ZGB. Das Recht auf angemessenen persönlichen Verkehr (Besuchsrecht) folgt aus dem...


Gesetzesregister
ZGB: 142  156  166 
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 166 - 1 Jeder Ehegatte vertritt während des Zusammenlebens die eheliche Gemeinschaft für die laufenden Bedürfnisse der Familie.
1    Jeder Ehegatte vertritt während des Zusammenlebens die eheliche Gemeinschaft für die laufenden Bedürfnisse der Familie.
2    Für die übrigen Bedürfnisse der Familie kann ein Ehegatte die eheliche Gemeinschaft nur vertreten:
1  wenn er vom andern oder vom Gericht dazu ermächtigt worden ist;
2  wenn das Interesse der ehelichen Gemeinschaft keinen Aufschub des Geschäftes duldet und der andere Ehegatte wegen Krankheit, Abwesenheit oder ähnlichen Gründen nicht zustimmen kann.
3    Jeder Ehegatte verpflichtet sich durch seine Handlungen persönlich und, soweit diese nicht für Dritte erkennbar über die Vertretungsbefugnis hinausgehen, solidarisch auch den andern Ehegatten.
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SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 272 - Eltern und Kinder sind einander allen Beistand, alle Rücksicht und Achtung schuldig, die das Wohl der Gemeinschaft erfordert.
BGE Register
71-II-208
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
beklagter • vater • elterliche gewalt • ehe • persönlicher verkehr • vorinstanz • mann • monat • besuch • entscheid • eltern • begründung des entscheids • unterhaltspflicht • bundesgericht • gesetzliche frist • zeugung • mutter • scheidungsklage • tag • vormerkung
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