S. 2 / Nr. 2 Familienrecht(d)

BGE 71 II 2

2. Urteil der II. Zivilabteilung vom 1. Februar 1945 i. S. W. gegen W.

Regeste:
Zerrüttung der Ehe wegen Trunksucht der Ehefrau (Art. 142 ZGB). Nachdem die
Frau aus eigener Kraft ihrem Laster entsagt und sich während mehrerer Jahre
gehalten hat, kann der Mann nicht hinterher doch noch Scheidung verlangen.
Atteinte profonde au lien conjugal par suite d'alcoolisme de la femme (art.
142 CC). Lorsque, par sa propre volonté, la femme a dominé son vice pendant
plusieurs années, le mari n'est plus fondé à demander le divorce de ce chef.
Turbazione delle relazioni coniugali a causa di alcoolismo della moglie (art.
142 CC). Il marito non può chiedere il divorzio motivando il turbamento delle
relazioni coniugali con l'abuso di bevande alcoliche da parte della moglie,
ove questa abbia saputo vincere il vizio e astenersene durante parecchi anni.

A. ­ Die Parteien schlossen im Jahre 1923 die Ehe, aus der 1927 eine Tochter
hervorging. Die Ehefrau unterstützte den Mann mit Tatkraft und Geschick in der
erfolgreichen Führung seines Hotels. Etwa vom Jahre 1927 an litt die bisher
harmonische Ehe in zunehmendem Masse darunter, dass die Frau einem starken
Hang zum Alkoholgenuss nachgab, der seit 1933 in übermässiges Trinken
ausartete. Nach vergeblichen Bemühungen, sie vom Alkohol fernzuhalten,
verbrachte der Mann sie 1937 gegen ihren Willen zu einer siebenmonatigen
Entziehungskur nach der Anstalt Hohenegg bei Meilen. Nach der Rückkehr
unterlag sie jedoch bald von neuem ihrer Neigung. Es kam so weit, dass der
Ehemann trotz aller bisher geübten Geduld im Jahre 1939 die Beziehungen zu ihr
abbrach und sie lediglich noch im Hotel, von ihm gänzlich getrennt, mit dem
Küchenpersonal leben und arbeiten liess. Im Februar

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1942 leitete er die Scheidungsklage ein. Von da an wohnte die Beklagte in
einem Heim und enthält sich nach dem Zeugnis der Oberin des Alkoholgenusses,
obwohl sie die Möglichkeit dazu hätte.
Das Bezirksgericht sprach die Scheidung in Anwendung von Art. 142 ZGB aus. Das
Obergericht hat mit Urteil vom 3. November 1944 diesen Entscheid mehrheitlich
bestätigt. Eine Minderheit desselben sprach sich für Abweisung der Klage aus.
B. ­ Mit der vorliegenden Berufung hält die Beklagte an ihrem Antrag auf
Abweisung der Scheidungsklage fest. Der Kläger trägt auf Bestätigung des
angefochtenen Urteils an.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Es steht ausser Zweifel, dass die Ehe der Parteien schwer gestört ist und dass
die Ursache dieses Zerfalls in der jahrelangen, schweren Trunksucht der
Beklagten und den damit verbundenen, ihre Würde als Persönlichkeit und Ehefrau
untergrabenden Folgen liegt. Ebenso klar ist, dass der Kläger unter dem
Benehmen der Frau sowohl in seinen ehelichen als in seinen Ehr- und
Standesgefühlen schwer litt. Dass die Beklagte zur Zeit ihres moralischen
Tiefstandes mit dem Manne, ungeachtet seiner anerkennenswerten Geduld, häufig
zankte, ihn grundlos beschimpfte und der ehelichen Untreue bezichtigte, darf
nach der Erfahrung und nach der sonstigen Einstellung der Beklagten zum Kläger
als Folge ihres Lasters betrachtet werden. Diese Streitigkeiten und
Beleidigungen waren daher zwar geeignet, die Zerrüttung der Ehe zu vertiefen;
aber für sich allein genommen kommt ihnen unter diesen Umständen doch nicht
die gleiche Bedeutung zu, wie wenn sie ohne solchen Zusammenhang vorgekommen
waren. Der Kläger kann in diesen Szenen nicht eine Folge von Hass und
Abneigung der Beklagten gegen ihn erblicken, sondern nur die bedauerlichen
Begleiterscheinungen ihres jeweiligen Zustandes nach übermässigem
Alkoholgenuss.

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Die Vorkommnisse sind daher, obzwar an sich peinlich und ehezerrüttend,
hinsichtlich der subjektiven Schuld der Beklagten wesentlich weniger
gravierend als das Laster selber. Die Streitfrage reduziert sich mithin
darauf, ob durch die Trunksucht der Frau und deren Folgen die Ehe so tief
zerrüttet ist, dass dem Manne deren Fortsetzung nicht mehr zugemutet werden
darf.
Bei Beantwortung dieser Frage ist davon auszugehen, dass der Kläger nach
seiner eigenen Darstellung die Beklagte im Jahre 1937 nach Hohenegg
verbrachte, um sie von ihrem Laster zu heilen, und sie nach ihrer Rückkehr,
wenn auch mit einer gewissen Selbstüberwindung, besonders zuvorkommend
behandelte, um ihr den Kampf gegen ihre verhängnisvolle Neigung zu
erleichtern. Aus diesem ihn ehrenden Verhalten des Klägers erhellt, dass er
damals die Ehe nicht als tief und endgültig zerstört und nicht die Scheidung
als die einzig mögliche Lösung betrachtete. Nun hat allerdings die Beklagte
die damals auf ihren guten Willen und ihre moralische Kraft gesetzte Hoffnung
enttäuscht und ist wieder rückfällig geworden mit den erwähnten schweren
Begleiterscheinungen und der Folge, dass sie im Hause nur noch wie eine Fremde
in unterster Stellung geduldet wurde. Aber auch jetzt zog der Ehemann die
Konsequenz aus dem Ehezerfall nicht, sondern wartete mit der Klage bis anfangs
des Jahres 1942. Inzwischen ­ und trotz diesen ihre moralische
Wiederaufrichtung nicht erleichternden Umständen ­ fand die Beklagte jedoch
schliesslich die Kraft, sich von ihrem Laster zu befreien. Wenn der Kläger
ihre Behauptung, sie habe seit Mai 1940 keinen Alkohol mehr zu sich genommen,
nicht gelten lassen wollte, oblag ihm als Scheidungskläger der Beweis für das
Gegenteil, der jedenfalls für die Zeit, da die Beklagte noch im Hause lebte,
d. h. von 1940-1942, ohne weiteres zu erbringen sein musste, wenn die
Behauptung der Beklagten nicht zutraf. Dass der Kläger trotz des Rückfalles
der Beklagten solange weder Scheidung noch Trennung verlangte, lässt darauf
schliessen, dass er in

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dem Zeitpunkt, wo die Beklagte sich von ihrem Laster freimachen konnte, die
Ehe nicht als unheilbar zerrüttet empfand. Aber davon abgesehen hat das
Bundesgericht mit Bezug auf die Trunksucht als Scheidungsgrund wiederholt
entschieden, dass derartige persönliche Fehlentwicklungen den andern Eheteil
nur dann zur Scheidung berechtigen, wenn dieser sein Möglichstes getan hat,
den Partner wieder auf den rechten Weg zu bringen, und dass erst nach dem
Scheitern dieser Bemühungen aus der fortbestehenden Trunksucht ein
Scheidungsgrund abgeleitet werden kann (BGE 68 II 1 ff.). In einem seitherigen
Urteil wurde dieses Opfer an Nachsicht und Geduld von einem Scheidungskläger
seiner trunksüchtigen Frau gegenüber im Hinblick darauf verlangt, dass die
nach vielen Jahren der Rückfälligkeit durchgemachte Entziehungskur mit
anschliessendem Wirtshausverbot dauernden Erfolg verspreche und die schwache,
aber reuige Frau der moralischen Stütze ihres Mannes zur Wiederaufrichtung
bedürfe (Urteil vom 28. Mai 1942 i. S. Amacher, nicht publ.). Solche
Zurückhaltung mit dem Scheidungsrecht ist umso mehr am Platze, als im
vorliegenden Falle die fehlbare Frau den innern Aufschwung zur Umkehr vor
ihrem Eintritt in das Heim, also ohne äussern Zwang, gefunden und sich
seither, d. h. während mehrerer Jahre, gut gehalten hat. Ein Beweis, dass die
Beklagte auch in Zukunft und unter veränderten Verhältnissen nicht wieder zu
trinken anfangen werde, kann von ihr unmöglich verlangt werden; es würde
übrigens auch auf eine Umkehrung der Beweislast hinauslaufen. Hat mithin die
Beklagte die Probe für ihren Willen und ihre Energie zur Umkehr seit mehreren
Jahren bestanden, so erscheint die Hoffnung auf dauernden, definitiven
Charakter der Besserung derart begründet, dass die der Vergangenheit
angehörende Trunksucht an sich nicht mehr als Scheidungsgrund angesehen werden
kann. Das allfällig latent vorhandene Rückfallsrisiko wird umso geringer sein,
je ernster es der Kläger mit der im zitierten Entscheid angetönten Pflicht
nimmt, der Frau den

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moralischen Halt zu bieten, den einem schwachen Menschen nur die Verwurzelung
in der Familiengemeinschaft geben kann. Dass die früheren sonstigen
Verfehlungen der Beklagten gegen den Mann Folgeerscheinungen des Trinkens
bezw. der daherigen verminderten Zurechnungsfähigkeit und somit nicht als
selbständige schuldhafte Zerrüttungsfaktoren in Rechnung zu stellen sind,
wurde bereits festgestellt. Unter diesen Umständen darf dem Kläger die
Fortsetzung der Ehe zugemutet werden. Ihm zu gestatten, die Scheidung unter
Berufung auf die inzwischen überwundene Trunksucht der Frau zu verlangen,
erschiene insbesondere vom subjektiven Standpunkt der Beklagten aus stossend.
Als der Kläger die trunksüchtige Ehefrau zuerst in die Heilanstalt verbrachte,
dann als Rückfällige jahrelang im Hause behielt und schliesslich nach ihrer
Aufraffung zur Enthaltsamkeit weitere zwei Jahre keine rechtlichen
Konsequenzen zog, durfte die Beklagte annehmen, sie könne durch endgültige
Einkehr und Läuterung den Ehemann wiedergewinnen und sich die Fortsetzung der
Ehe verdienen. Nachdem sie nun ihrer Schwäche tatsächlich Herr geworden ist,
müsste sie sich jetzt bei endgültiger Verstossung mit einigem Recht als gegen
Treu und Glauben behandelt fühlen. Die Zumutbarkeit weiteren Zusammenlebens
kann immerhin nur unter der Voraussetzung bejaht werden, dass die moralische
Wiederaufrichtung der Beklagten von Dauer sei; sollte sie dem Kläger neue
Enttäuschungen und Demütigungen bereiten, liesse sich dann das Ansinnen
weiterer Nachsicht schwerlich mehr begründen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil aufgehoben und die
Klage abgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 71 II 2
Datum : 01. Januar 1945
Publiziert : 01. Februar 1945
Quelle : Bundesgericht
Status : 71 II 2
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : Zerrüttung der Ehe wegen Trunksucht der Ehefrau (Art. 142 ZGB). Nachdem die Frau aus eigener Kraft...


Gesetzesregister
ZGB: 142
BGE Register
68-II-1 • 71-II-2
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
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