S. 187 / Nr. 33 Verwaltungs- und Disziplinarrechtspflege (d)
BGE 71 I 187
33. Urteil der I. Zivilabteilung vom 27. März 1945 i.S. Kanton St. Gallen und
Bodensee-Toggenburgbahn gegen Eidgen. Amt für das Handelsregister.
Regeste:
Aktienrecht, Stimmrecht im Verwaltungsrat. Nach dem revOR verfügt jedes
Mitglied des Verwaltungsrats der A.-G. nur über eine Stimme. Die statutarische
Gewährung eines Pluralstimmenrechts an einzelne Mitglieder ist unzulässig.
Art. 711, 762 Abs. 3 revOR.
Société anonyme, droit de vote dans le conseil d'administration. Selon le Code
des obligations revisé, chacun des membres du conseil d'administration de la
S.A. ne dispose que d'une seule voix. Les statuts ne peuvent accorder un droit
de vote plural à tel membre déterminé du conseil. Art. 711 et 762 al. 3 CO
rev.
Società anonima. Diritto di voto dei memori del consiglio d'amministrazione.
In conformità del vigente diritto, a ciascun membro
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del consiglio d'amministrazione della società anonima compete un solo voto.
L'attribuzione statutaria di un voto plurimo a singoli membri è illegale. Art.
711, 762 cp. 3 CO.
5. ...Eine ausdrückliche Vorschrift über das Stimmrecht im Verwaltungsrat
der A.G. enthält das revOR nicht. Doch geht dieses ohne jeden Zweifel ganz
allgemein von der Voraussetzung aus, dass jedem Mitglied eine Stimme zukomme.
In einem demokratischen Rechtsstaat muss auch für das korporative Leben der
Grundsatz der Gleichberechtigung und des Mehrheitsentscheides gelten, sofern
nicht etwas anderes ausdrücklich bestimmt wird oder sich aus der besonderen
Art der Korporation oder des Verhandlungsgegenstandes ergibt. Bei der A.G.
ist, entsprechend ihrer Struktur als Kapitalgesellschaft, das Stimmrecht in
der Generalversammlung nicht an die Person, sondern an den Aktientitel
geknüpft, so dass grundsätzlich ein Aktionär soviele Stimmen hat, als er
Aktien besitzt. Diese Sonderregelung wird aber nicht auch auf die Verwaltung
übertragen, weil hier die persönliche Eignung für die Mitgliedschaft den
Ausschlag gibt. Der Aktionär wird nicht in erster Linie wegen der Zahl der
Aktien, die er besitzt, in den Verwaltungsrat gewählt, sondern wegen des
Vertrauens, das er sich dank seinem Charakter und seiner beruflichen
Tüchtigkeit erworben hat. Jedenfalls ist dies der Gesichtspunkt, der dem
Gesetz zu Grunde liegt, mag er auch praktisch oft nicht beachtet werden. Ein
Mehrstimmrecht wird nicht einmal in Art. 708 revOR in Betracht gezogen, wonach
den Gruppen von Aktionären mit verschiedener Rechtsstellung das
Vertretungsrecht im Verwaltungsrat gewährleistet wird. Der Grundsatz der
Gleichberechtigung der Mitglieder der Verwaltung ergibt sich sodann auch aus
Art. 711 revOR, laut welchem bei einer aus mehreren Mitgliedern bestehenden
Verwaltung die Mehrheit aus in der Schweiz wohnhaften Schweizer Bürgern
bestehen muss. Diese im nationalen Interesse aufgestellte Vorschrift kann
ihren Zweck nur erfüllen, wenn die Schweizer Bürger dank ihrer Mehrheit in der
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Lage sind, das nationale Interesse wahrzunehmen; sie bedingt daher
notwendigerweise, dass jedes Mitglied über eine Stimme verfügt.
Die Unzulässigkeit eines Pluralstimmrechts in der Verwaltung ergibt sich auch
aus Art. 762 Abs. 3 revOR, wonach die Vertreter einer an der A.G.
interessierten öffentlichrechtlichen Körperschaft im Verwaltungsrat die
gleichen Rechte und Pflichten haben wie die von der Generalversammlung
gewählten Mitglieder mit der einen Ausnahme, dass sie von der Hinterlegung von
Pflichtaktien befreit sind. Die Gleichberechtigung besteht aber nur, wenn
jedes Mitglied über die gleiche Stimmkraft verfügt.
Art. 762 revOR geht nun aber über sein Vorbild, Art. 6 des Bundesgesetzes vom
28. Juni 1895 betr. das Stimmrecht der Aktionäre von Eisenbahngesellschaften
und die Beteiligung des Staates an solchen, insofern hinaus, als er das
Vertretungsrecht des Gemeinwesens nicht beschränkt. Es muss also zulässig
sein, dass die Statuten der öffentlichrechtlichen Körperschaft das Recht
zuerkennen, die Mehrheit der Mitglieder der Verwaltung zu bezeichnen. Daraus
darf jedoch nicht ohne weiteres gefolgert werden, es komme auf dasselbe
heraus, wenn dem Gemeinwesen die Stimmenmehrheit unbekümmert um die Zahl der
Vertreter zugeteilt werde. Denn es bestehen wesentliche Unterschiede in der
Auswirkung. Da beim Pluralstimmrecht eine Aufteilung der Stimmkraft auf die
einzelnen Vertreter nicht stattfindet, tritt die Vertretung der
öffentlichrechtlichen Körperschaft notwendigerweise als Einheit auf. Der
einzelne Vertreter des Gemeinwesens kann wohl seiner persönlichen Meinung
Ausdruck verleihen, aber seine Stimme zählt nicht, wenn die andern Vertreter
des Gemeinwesens anderer Auffassung sind. Anders verhält es sich beim reinen
Kollegialsystem. Hier hat jedes Mitglied eine Stimme und gibt diese nach
eigenem Wissen und Gewissen ab, was im Interesse der Gesellschaft geboten ist.
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Das revOR gibt somit der Aktiengesellschaft die Möglichkeit nicht, einzelne
Mitglieder der Verwaltung mit einem Mehrstimmrecht auszurüsten. Dabei kann es
sich aus den aus Art. 711 und 762 Abs. 3 revOR hergeleiteten Gründen nicht um
dispositives Recht handeln (vgl. auch BGE 67 I 265 f. betr. die Auslegung von
Art. 926 revOR, der für die Genossenschaft dieselbe Norm aufstellt wie Art.
762 für die A.G.).